Paradigmenwechsel in der Evolutionsbiologie

Kritik an der Kritik der Evolutionstheorie

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Darwins Evolutionstheorie gehört zu den Ruhmesblättern der modernen Wissenschaft. Die Evolutionstheorie symbolisiert geradezu wissenschaftlichen Fortschritt, die Überwindung einer archaischen, an Religion orientierten Weltauffassung hin zur derjenigen der "aufgeklärten" Moderne. Deshalb frappiert, dass diese Theorie in den letzten Jahren zunehmend ins Blickfeld wissenschaftlicher Kritik gerät; und von wissenschaftlicher Kritik soll im folgenden die Rede sein, nicht von den notorischen, vergleichsweise uninteressanten Anfeindungen des Kreationismus. Die Kritik bezieht sich auf die "Moderne Synthese", also diejenige maßgeblich durch die Evolutionsbiologen Dobzhansky, Mayr und Huxley vorangetriebene Fassung der Evolutionstheorie, die Darwin noch unbekannte Erkenntnisse, etwa aus Genetik, Zoologie, Paläontologie oder Botanik, berücksichtigt.1

Erstaunlich ist der zurückhaltende Gestus, mit dem die Kritik am vorherrschenden Paradigma vorgetragen wird. So ist vorsichtig davon die Rede, dass die konventionelle Auffassung der Evolutionstheorie erweitert werden müsse, etwa in Berücksichtigung von Erkenntnissen der evolutionären Entwicklungsbiologie, bzw. der Epigenetik. Eine direkte Kritik von konventionellen, orthodoxen Auffassungen wird tunlichst vermieden. In diesem Sinne soll etwa, neben Neodarwinismus und Kreationismus, ein "dritter Weg" beschritten werden. Wissenschaft wird auf diese Weise gleich zweimal ein Bärendienst erwiesen. Zum einen wird, zumindest rhetorisch, Kreationismus als gleichrangig mit wissenschaftlichen Theorien eingeschätzt; zum anderen profilieren sich wissenschaftliche Theorien gerade in kritischer Auseinandersetzung mit ihren Widersachern, nicht, indem Kritik im Beschreiten von "dritten Wegen" vermieden wird.

Wissenschaftspolitisch mag diese Form des Widerspruchs am vorherrschenden Paradigma verständlich sein. Sie ist Ausdruck einer bestehenden Dominanz der "Modernen Synthesis", einer vorherrschenden Orthodoxie, welche - mit stets misstrauischem Blick in Richtung Kreationismus - eine kritische Befragung eher unterdrückt, als erleichtert. Auch ist sie Ausdruck eines überzogenen Respekts vor einer Theorie, welche emblematisch für die moderne (Natur-)Wissenschaft steht.

Wir wollen nichtsdestotrotz davon ausgehen, dass es wissenschaftlich fruchtbarer ist, in Auseinandersetzungen mit Theorien Irrwege aufzuzeigen, statt defensiv "dritte Wege" zu beschreiten. Diskutiert werden soll die Notwendigkeit von grundlegenden, radikalen Modifikationen der "Modernen Synthese". Es soll die Notwendigkeit von paradigmatischen Änderungen der Evolutionstheorie, entsprechend des perspektivischen Wechsels zwischen den physikalischen Weltbildern von Newton und Einstein - ein Perspektivenwechsel, der selbst paradigmatisch für das Konzept des Paradigmenwechsels steht -, aufgezeigt werden. Es geht nicht lediglich um kosmetische Reparaturen der Theorie, welche die Rede von "Erweiterungen" rechtfertigen würde, sondern um eine durchaus konfrontative Auseinandersetzung mit vorherrschender evolutionsbiologischer Orthodoxie.

1. Die anthropozentrischen Prämissen von Darwins Evolutionstheorie

Bekanntermaßen ist eine der zentralen Ideen Darwins, die der natürlichen Selektion, bzw. der natürlichen Zuchtwahl. Evolution, die Auffassung einer grundsätzlich gegebenen Kontingenz von Lebewesen, wird angelehnt an künstliche Zuchtwahl erklärt, also mit Blick auf ein Geschehen, das Darwin aus sozialen, anthropogenen Verhältnissen, etwa der Landwirtschaft, bestens bekannt war. Die Tatsache, dass Lebewesen (Pflanzen und Tiere) durch "künstliche" Zucht in gerichteter, also vererbbarer Weise verändert werden können, nämlich durch gezielte Beeinflussung von Reproduktionsraten, zeigte Darwin, dass dies auch bezogen auf natürliche (nicht-anthropogene) Verhältnisse der Fall sein könnte2:

Kann das Princip der Auswahl für die Nachzucht, die Zuchtwahl, welche in der Hand des Menschen so viel leistet, in der Natur zur Anwendung kommen? Ich glaube, wir werden sehen, dass ihre Thätigkeit eine äusserst wirksame ist.

Darwin hatte in dieser Sichtweise die Reproduktion restringierende Rolle des Züchters in Bezug auf künstliche Selektionen auf natürliche Verhältnisse übertragen. In Hinsicht auf "natürliche" Zuchtwahl wird diese Funktion vom abstrakten Konzept der "Anpassung" übernommen. Es ist stets das Kriterium der Adaption an Umwelt, das letztlich unter wechselnden, bzw. verschärften Umweltbedingungen entscheidet, ob Lebewesen überleben, sich reproduzieren können. Umweltbedingungen in ihrer Dynamik - "struggle for life": Kampf bzw. Konkurrenz um begrenzte Ressourcen, zumal bei einer überschießenden Anzahl von Nachkommen, Veränderungen in den Umweltverhältnissen, etwa des Klimas - führen, nach Maßgabe von sich dadurch verändernden Reproduktionsraten, zur Anpassung von Organismen an diese Bedingungen. Also zur Abwandlung von Arten, bzw. zur Entstehung von neuen Arten im Sinne eines "survival of the fittest".

Eine weitere, weniger offenkundige anthropozentrische Prämisse von Darwins Entwurf ist, spezifisch mit Blick auf das Konzept der "Zuchtwahl", der Rekurs auf Individuen. Es muss davon ausgegangen werden, dass das Konzept der Individualität ein Artefakt, bzw. eine Konstruktion sozialer Evolution ist. Evolution also, die auf Sprache und Kommunikation basiert und für deren Funktionalität individuelle soziale Adressen (Personen, unterscheidbare Kommunizierende) und etikettierte Objekte benötigt werden. Es ist denn auch soziale Evolution, die ermöglicht, bei "künstlicher" Zuchtwahl Lebewesen abseits von Menschen problemlos Individualität zuzurechnen und folglich auch von individuell zuzurechnender Selektion zu sprechen (etwa im Sinne einer Prämierung von Zuchtbullen).

Allerdings ist äußerst problematisch, davon auszugehen, und zudem als Prämisse für die Konstruktion einer Theorie zu verwenden, dass Individualität von Lebewesen etwas ist, das Evolution fraglos vorausgesetzt werden kann. Dies zeigt ein Blick auf das evolutionäre Geschehen in der Welt der Bakterien (Prokaryoten). Reproduktion erfolgt hier durch Klonung; auch besteht unter Bakterien die Möglichkeit, Gene gewissermaßen direkt ("horizontal"), unabhängig von Reproduktion, auszutauschen.3 Wobei zudem hervorzuheben ist, dass Evolution ausschließlich auf Basis prokaryotischen Lebens den längsten Zeitraum in der Evolutionsgeschichte ausmacht. Lebewesen auf der Basis von Eukaryoten (Zellen mit Zellkern), Multizellularität und sexueller Reproduktion, die für Darwins Evolutionstheorie Referenz sind und Anschauungsmaterial liefern, hatten sich selbst erst evolutionär auszudifferenzieren. Auch unter diesem Blickwinkel ist unplausibel, ein sehr spezifisches Geschehen in später Evolution zum Ausgangspunkt einer Theorie zu machen, die Evolution grundsätzlich und allgemein erklären soll.

Die anthropozentrischen Prämissen von Darwins Entwurf mögen diesen vielleicht nicht vorweg disqualifizieren. Die induktive Vorgehensweise Darwins machen seinen Entwurf jedoch äußerst fragwürdig. Es ist als Prämisse einer Theorie nicht überzeugend, von einem sehr spezifischen Sachverhalt sozialer Art - künstliche Zuchtwahl - auszugehen und diesen als Paradigma für ein Geschehen vorauszusetzen, dessen Zeitdauer mittlerweile auf 3.5 Milliarden Jahre taxiert wird. Das evolutionäre Aufkommen von Sprache und Kommunikation fand mutmaßlich erst in der in den letzten 5 Sekunden statt, wird die Zeitdauer der Evolution auf einen Tag projiziert. Erst die evolutionäre Entwicklung von Sprache ermöglicht soziale Evolution und damit die kommunikative Konstruktion von Individualität, die dem Konzept der "künstlichen" Zuchtwahl vorausgesetzt ist. Allerdings muss in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass Darwin weder die zeitlichen Dimensionen klar sein konnten, noch verfügte er über die theoretischen Mittel, um soziale, auf Kommunikation basierende Evolution, von derjenigen im biologischen Sinne zu unterscheiden.4

Ein weiteres Problem des Entwurfs Darwins ist die theoretische Überfrachtung des Konzepts der Anpassung. Von Evolution kann nur die Rede sein, wenn sich Lebewesen - bei aller Unterschiedlichkeit - in einem Kriterium nicht unterscheiden. Sie müssen unterschiedslos lebendig sein. Die evolutionäre Unterschiedlichkeit von Lebewesen kann so gesehen überhaupt erst auf der Basis von Gleichheit, der Lebendigkeit aller Lebewesen, unterschieden werden.

Da Darwin nicht über eine Theorie, oder zumindest Hypothese des Lebendigen verfügte, nimmt das Kriterium der Anpassung in seinem Entwurf eine Doppelrolle ein. Einerseits wird Anpassung als Indikator für Lebendigkeit verstanden und wird insofern als Konstante aufgefasst. Nicht angepasste Lebewesen, bzw. Populationen können nicht, oder zumindest nicht auf Dauer überleben, bzw. sich reproduzieren. Andererseits nimmt das Konzept der Anpassung bei Darwin das einer Variablen ein. Es ist schließlich das Kriterium der Anpassung von Lebewesen, bzw. Populationen an variierende Umwelten, welches den Erhalt, bzw. die Entstehung von neuen Arten erklären soll. Die Paradoxie, dass Anpassung in Darwins Entwurf sowohl als Variable, wie auch als Konstante zu verstehen ist, wird lediglich im Rekurs auf die Dimension der Zeit aufgelöst. Die theoretische Unentschiedenheit betreffend dieses Konzepts kann jedoch zur Willkürlichkeit bei der Konstruktion von evolutionären Erklärungen führen.5

Eine Alternative bei der Konstruktion einer Evolutionstheorie ist, um nicht zuletzt diese theoretische Schwachstelle zu vermeiden, einen Begriff - zumindest im Sinne einer Arbeitshypothese - über die Natur des Lebendigen zu entwickeln. Wird unterschieden, was unterschiedslos für alle Lebewesen Gültigkeit haben muss, können im Rahmen dieses Konzepts Möglichkeiten und Limitationen evolutionärer Unterscheidungen von Lebewesen ausgearbeitet werden. Im Gegensatz zu Darwins methodisch induktiver Vorgehensweise wird derart Erkenntnis deduktiv ermöglicht. So wird die zweifelhafte theoretische Konstruktion vermieden, ein sehr spezifisches Geschehen sozialer Evolution, "künstliche Zuchtwahl", zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Theorie der Evolution zu machen. Der Ausgangspunkt vorgeschlagener Deduktion ist hingegen fundamental und kaum anzuzweifeln. Behauptet wird lediglich, dass allen Lebewesen, so unterschiedlich sie evolutionär bedingt auch sein mögen, eines gemein ist: sie sind unterschiedslos lebendig.

2. Autopoiesis als Definition von Lebendigkeit

Der Begriff der Autopoiesis ("Selbsterschaffung") geht auf die Biologen Maturana, Varela und Uribe zurück und stellt einen Versuch dar, zu definieren, was Lebendigkeit ausmacht. Lebende (autopoietische) Systeme sind demnach wie folgt organisiert6:

Die autopoietische Organisation wird als eine Einheit definiert durch ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen, die 1. rekursiv an demselben Netzwerk der Produktion von Bestandteilen mitwirken, das auch diese Bestandteile produziert, und die 2. das Netzwerk der Produktion als eine Einheit in dem Raum verwirklichen, in dem die Bestandteile sich befinden.

Eine Zelle, als Beispiel für ein autopoietisches System, strukturiert demnach mit Hilfe ihrer molekularen Operationen ihre Bestandteile oder Elemente derart (im Sinne ihrer Produktion bzw. Elimination), dass sie der Aufrechterhaltung eben jener molekularen Operationen selbst dienlich sind. Autopoietische Systeme sind also zugleich Produkte und Produzenten ihrer selbst. Sie sind durch ihre eigenen Strukturen determiniert - genetische Strukturen im Falle von Zellen - und bestimmen ihre Grenzen in rekursiver Aufrechterhaltung ihrer eigenen Operationen. Lebende Systeme sind demnach in ihren Operationen geschlossen. Das heißt, Einflüsse aus der Umwelt von autopoietischen Systeme haben keine informative Wirkung, sondern können nur als Irritationen verarbeitet werden. Der Wert dieser Irritationen als Informationen (etwa als "Nährstoff" im Falle von Zellen) wird ausschließlich durch die Strukturen des autopoietischen Systems selbst bestimmt, nicht durch dessen stets unkontrollierte Umwelt.

Es ist unmittelbar einsichtig, dass diese Sichtweise auf das Lebendige mit radikalen Konsequenzen für die Auffassung der Evolution lebender Systeme verbunden ist. Zunächst ist festzuhalten, dass Anpassung nicht als Bedingung von Evolution verstanden werden kann (Darwins Sichtweise), sondern eine ihrer Voraussetzungen ist. Es besteht keine informative, Anpassung leistende Beziehung zwischen lebenden Systemen und ihren Umwelten, sondern lediglich eine irritative. Nur solange autopoietische Systeme angepasst sind - also ihre Operativität rekursiv mittels ihrer eigenen Operationen aufrecht erhalten können - besteht überhaupt nur die Möglichkeit, dass sie sich verändern, dass sie evolvieren können. Anpassung ist demnach als eines der Kriterien für Lebendigkeit zu verstehen, nicht als eine Variable, welche Abstufungen zulassen würde. Lebendigkeit ist in ihrer Organisation gegeben, oder nicht. Unangepasste Systeme können schlicht deshalb nicht evolvieren, weil sie nicht lebendig, nicht existent sind.

Die Definition von autopoietischen Systemen lässt grundsätzlich und abstrakt folgende Möglichkeiten evolutionärer Veränderung zu. Lebende Systeme können sich - dabei fortwährend konstant angepasst - in der Form ihrer Operationen, der Form ihrer Strukturen, bzw. in der Form ihrer Elemente verändern. Basierend auf diesen Rahmenbedingungen lassen sich - ausgehend von der spekulativen Entstehung der ersten zellulären autopoietischen Systeme - die nachfolgend beschriebenen Meilensteine der Evolution unterscheiden. Vorausgesetzt sind also zelluläre, auf der Basis von Molekülen operierende autopoietische Systeme, Bakterien, welche wohl unter spezifischen materiellen Bedingungen ("Ursuppe") entstanden sind.

3. Meilensteine der Evolutionsgeschichte

Entstehung des Ökosystems

Von einem Ökosystem lässt sich mit dem Aufkommen der Reproduktion der ersten autopoietischen Systeme (Bakterien) sprechen. Dabei ist entscheidend, dass sich durch Reproduktion - bei Bakterien zunächst asexuell durch Zellteilung - nicht lediglich weitere Zellen reproduzierten, sondern auch die Reproduktionsfähigkeit selbst. Schließlich kommt den durch Zellteilung entstandenen Zellen selbst die Fähigkeit zu, sich zu reproduzieren. Als Ökosystem lässt sich also das autopoietische System begreifen, das seine Grenzen durch die Reproduktion seiner eigenen Reproduktivität aufrecht erhält. Von operativer Geschlossenheit ist insofern auszugehen, als die Reproduktion (eigener Reproduktivität) nur innerhalb der Grenzen dieses Systems möglich ist, nicht außerhalb. Als autopoietisches System ist es determiniert durch seine eigenen Strukturen, also Bakterien. Zellteilung führt bei Bakterien gemeinhin zu einer exakten Kopie der Zelle.

Es war eine Änderung in der Form der Operation und der Form der Struktur von lebenden Systemen, die den ersten qualitativ wichtigen Umbruch in der Evolutionsgeschichte ermöglichten. Während Zellen auf der Basis molekularer Operationen in ihren Grenzen fortdauern, wird das Ökosystem auf Basis der Operation der Reproduktion dieser Zellen (Bakterien) in seinen Grenzen aufrecht erhalten. Ohne diesen Schritt wäre es, um Leben zu bewahren, notwendig gewesen, dass sich Bakterien ständig neu aus der "Ursuppe" konstituieren, was Evolution in ihrer Systematik unmöglich gemacht hätte. Bakterien - selbst autopoietische Systeme - sind in Bezug auf das Ökosystem als Strukturen zu verstehen. Also nicht als "individuelle" Organismen, sondern jene Strukturen, welche die Form des (frühen) Ökosystems determinieren und dominieren.

Das Ökosystem muss in Einzahl verstanden werden. Es erhält in seinen Operationen fortlaufend die Unterscheidung zwischen Lebendigkeit - innerhalb seiner Systemgrenzen - und Leblosigkeit in seiner Umwelt aufrecht. Da wir nicht unterschiedliche Formen von Lebendigkeit unterscheiden, ist die Singularität des Ökosystems schlicht ein Korrelat der Definition von Lebendigkeit durch die Form der Organisation autopoietischer Systeme. Leben existiert in autopoietischer Organisation - oder eben nicht.

Welche Möglichkeiten evolutionärer Veränderung gab es im frühen Ökosystem? - Zufällige Mutationen bei der Reproduktion von Zellen oder durch externe Faktoren, wie hochenergetische Strahlung, und die ebenso zufallsbedingte Möglichkeit eines horizontalen Transfers von Genen zwischen den Strukturen (Bakterien), führten und führen zur strukturellen Vielfalt des Ökosystems.7 Diese strukturelle Vielfalt machte und macht das Ökosystem offenkundig in seiner Fortdauer äusserst robust und widerstandsfähig. Es hat seine Lebensfähigkeit und Anpassung - also die Fähigkeit seine Reproduktivität rekursiv zu reproduzieren - seit mittlerweile etwa 3.5 Milliarden Jahren unter Beweis gestellt8:

They [Bakterien, J.R.] reproduce asexually, they have very large populations, and they are able to live under highly variable and often extreme environmental conditions.

Ausdifferenzierung des Ökosystems: Entstehung von Arten und Populationen

Es war wiederum eine Änderung in den reproduktiven Bedingungen des Ökosystems, welche die nächste qualitative Veränderung in der Evolutionsgeschichte ermöglichte. Erst die aus bakteriellem Leben erfolgte mutmaßlich symbiotische Entstehung von Zellen mit Zellkern (Eukaryoten) und Mehrzelligkeit ermöglichte die Form der sexuellen Reproduktion.9 Während die bis dahin übliche Form der Reproduktion durch Zellteilung vorhandene Strukturen lediglich unsystematisch variieren konnte - zufällig und spontan durch Mutation und horizontalen Gentransfer -, konnten Strukturen nunmehr auch auf systematische Weise variiert werden.

Die Möglichkeit der systematischen Variation von Strukturen durch sexuelle Reproduktion hatte vermutlich eine explosionsartige Vielfalt von Strukturen zur Folge10:

The enormous power of the process of genetic recombination by sexual reproduction becomes evident if we remember that in sexually reproducing species no two individuals are genetically identical.

Die Vielfalt der entstandenen Strukturen hatte wohl zur Folge, dass möglich wurde, nicht nur Reproduktionsfähigkeit, sondern auch Reproduktionsunfähigkeit systematisch zu reproduzieren. Gerade dieser Unterschied - der zwischen Reproduktionsfähigkeit und -unfähigkeit - ist es, der zur Entstehung von Arten und Populationen führte. Unterschiedliche Arten und Populationen zeichnen sich durch ihre reproduktive Isolation aus. Indem Arten und Populationen ihre Reproduktivität sexuell reproduzieren, schließen sie sich als Systeme operativ von ihrer Umwelt ab, also mithin auch von anderen, sich ebenso sexuell reproduzierenden Arten und Population.

Das evolutionäre Aufkommen sexueller Reproduktion lässt sich als struktureller Widerspruch verstehen, der eine Systemdifferenzierung des bis anhin bestehenden Ökosystems zur Folge hatte. Zwar wurde Reproduktionsunfähigkeit auch in der damaligen Form des Ökosystems produziert. Dies jedoch nur sporadisch und zufällig, nämlich durch die Möglichkeit der unsystematischen Variierung von Strukturen durch Mutationen und horizontalen Gentransfer. Sie stellte deshalb keine existentielle Bedrohung für das Ökosystem dar, da Reproduktionsunfähigkeit - gewissermaßen verunglückte Mutationen - zwar wohl ausnahmsweise produziert, aber nicht reproduziert werden konnte. Erst die Möglichkeit der systematischen Variation von Strukturen durch die Form der sexuellen Reproduktion führte zur systematischen, sich auch reproduzierenden Reproduktionsunfähigkeit, führt zu reproduktiven Isolationen, also gerade zu jenem Charakteristikum, das Arten und Populationen voneinander unterscheidet. Sexuelle Reproduktion stellte so gesehen ein Problem für das damalige Ökosystem dar, für das Systemdifferenzierung die Lösung ist.

Die Ausdifferenzierung des Ökosystems hatte die Entstehung einer lebhaften "inneren Umwelt" des Ökosystems zur Folge. Das Ökosystem reproduziert die Grenze zur leblosen Umwelt. Hingegen reproduzieren Arten und Populationen zudem systematisch die Grenzen zu anderen Arten und Populationen und damit zu einer Umwelt, die vergleichsweise instabil, wechselhaft, wandlungsfähig - eben lebhaft ist. Damit aber wird Anpassung, also die reproduktive Aufrechterhaltung der Reproduktionsfähigkeit, komplexer und anspruchsvoller.

Unter volatilen, lebhaften, anspruchsvollen Umweltbedingungen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich systematisch lediglich Extremformen von Strukturen trotzdem reproduzieren können. Dies führt zu einem schnellen Wandel von Arten und Population oder gar, indem im Laufe der Zeit die nichtsdestotrotz reproduzierbaren Strukturen reproduktiv inkompatibel mit der Ausgangsart werden, zur Entstehung von neuen Arten. Dies wiederum verstärkt einmal mehr die Komplexität und Unbeständigkeit der Umwelt von Arten und Population (durch andere Arten und Populationen), was wiederum die Wahrscheinlichkeit der Veränderung und Entstehung von neuen Arten und Populationen erhöht. Die Ausdifferenzierung des Ökosystems zieht also dynamische, sich durch Rückkopplung verstärkende Effekte nach sich. Es ist gerade dieser Effekt, der Phasen beschleunigten Artenwandels ermöglicht, wie etwa die "kambrische Explosion", oder zu "hot spots" erhöhter Biodiversität führt, etwa in Regenwäldern.

Festzuhalten ist, dass es nicht eine (Neu-)Anpassung von individuellen Lebewesen ist, die die Entstehung neuer Arten ermöglicht. Es vielmehr die relative "Unangepasstheit" von Lebewesen - zu verstehen als strukturelle Elemente von Arten und Populationen als autopoietischen Systemen -, also ihre gerade aufgrund von sexueller Reproduktion ermöglichte strukturelle Vielfalt, die eine fortwährende, konstante Anpassung oder Reproduktionsfähigkeit auch unter wechselnden, volatilen, "lebhaften" Umweltbedingungen ermöglicht. Eine Art überlebt nicht deshalb extreme Umweltveränderungen, etwa eine schnelle Änderung von klimatischen Bedingungen, weil sich Lebewesen an diese Bedingungen anpassen, sondern weil es zumindest einigen wenigen Lebewesen dieser Art aufgrund ihre strukturellen Vielfalt möglich ist, sich nichtsdestotrotz zu reproduzieren. Arten sterben dann aus, wenn Umweltveränderungen derart extrem sind, dass diese das Potential der Reproduktionsfähigkeit überschreiten, das Arten schon vor diesen Veränderungen, nämlich durch ihre strukturelle Vielfalt, zukommt.11

Entstehung sozialer Systeme

Mit dem Aufkommen von lautsprachlichen Äußerungen, von Sprache, konnten sich (vor etwa 200.000 Jahren?) autopoietische Systeme basierend auf einer gänzlich neuen Form von Operation entwickeln: Kommunikation. Kommunikation ist als diejenige Operation zu verstehen, welche die Aufrechterhaltung und Reproduktion von sozialen Systemen ermöglicht. Es ist Kommunikation selbst die kommuniziert: Kommunikation setzt Kommunikation voraus, und an Kommunikation kann Kommunikation anschließen. Ebenso wie das Ökosystem und wie Arten und Populationen sind soziale Systeme operativ geschlossen. Sie reproduzieren den Unterschied zwischen sich selbst und ihrer nicht-kommunikativen Umwelt. Wesentliche, soziale Systeme ermöglichende Umwelt stellt eine spezifische biologische Art dar - homo sapiens. Gewissermaßen parasitär in Bezug auf dieser Art - dabei insbesondere deren komplexes Nervensystem in Anspruch nehmend - reproduzieren sich, in kommunikativer Aufrechterhaltung ihrer Kommunikationen, autopoietische Systeme sozialer Art.12

Erst Kommunikation, die Entwicklung von sozialen Systemen machte es möglich und notwendig, Individualität zu konstruieren. Kommunikation funktioniert nur in Referenz auf individuelle (soziale) Adressen, sie nötigt gewissermaßen die Etikettierung von individueller Gegenständlichkeit auf: Gegenstände subjektiven ("Personen"), wie objektiven Typs. Den Erfordernissen der Kommunikation ist zu verdanken, dass uns die Welt - jedenfalls auf den ersten unreflektierten Blick - als ein Sammelsurium von Dingen und Personen erscheint. Ja, sogar die Welt selbst kann sich uns als die Summe ihre Atome darbieten. Auch kommunikative Konstrukte, wie Gesellschaft, Organisationen, Nationen, erscheinen uns durch die Summe ihrer je spezifischen Menschen und Relationen charakterisiert. Arten und Populationen stellen sich als die Summe ihrer individuellen, eigenartigen (allenfalls konkurrierenden) Organismen dar.

Ein genauerer Blick auf die Art und Weise, wie gesellschaftliche Evolution funktioniert, macht allerdings deutlich, dass soziale Systeme nicht durch (die Summe) ihre Menschen strukturiert sein können, sondern durch ihre je spezifischen Handlungserwartungen (etwa Werte, Traditionen, Regeln, Normen, Gesetze).13 Erst so wird verständlich, wie in sozialen Systemen ein offenkundig beobachtbarer extrem schneller gesellschaftlicher Wandel möglich ist. In Deutschland waren es nach dem 2. Weltkrieg nicht Menschen in ihrer physisch-psychischen Disposition welche sich gewissermaßen von heute auf morgen änderten, sondern es waren die sozialen Verhältnisse kennzeichnenden Handlungserwartungen, die einem radikalen Wandel unterzogen wurden. Das gleiche gilt auch etwa für die radikalen Veränderungen der gesellschaftlichen Werte und Normen der DDR, die binnen kürzester Zeit möglich wurden. Grenzwächter etwa, von denen bis anhin erwartet wurde, dass sie Grenzübertritte unter allen Umständen und mit aller Härte verhinderten, wurden nun, gewissermaßen von einem Augenblick auf den anderen, für gerade diese Handlungen bestraft. Soziale Systeme sind also offenkundig nicht durch die Form von "Menschen" strukturiert, sondern durch die Form ihrer Handlungserwartungen.

Gerade deshalb bedarf es bei der Evolution von sozialen Systemen nicht zeitaufwendigen reproduktiven Zyklen, um Strukturen zu verändern - wie dies bei der Evolution des Ökosystems und bei der Evolution von Arten und Populationen der Fall ist -, sondern lediglich der kommunikativen Operation der Negation, um gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.14 Also schlicht Widerspruch, etwa in der Form von Kritik an "überkommenen" gesellschaftlichen Strukturen. So können z.B. Handlungserwartungen betreffend der gesellschaftlichen Stellung von Frauen infrage gestellt, und innert kürzester Zeit verändert werden. So etwa betreffend ihres demokratischen Wahlrechts oder schlicht betreffend ihres Rechts, alleine, unabhängig von Männern Auto fahren zu dürfen (Saudi-Arabien).

Die spezifische Form der Operation sozialer Systeme - Kommunikation - macht die, im Vergleich zu biotischen Systemen rasante gesellschaftliche Evolution verständlich. Diese ist nämlich im Grundsatz in relativer Unabhängigkeit von der physisch-neuronalen Disponiertheit von Menschen - in der Umwelt sozialer Systeme - möglich. Ein Säugling der Steinzeit, gedankenexperimentell sozialisiert in der Moderne, könnte als Person auch heute prinzipiell problemlos funktionieren. Wobei entscheidend ist, dass dieses Funktionieren als Person determiniert wäre durch soziale Strukturen - nämlich die Sozialisation des Säuglings -, nicht durch seine spezifische, physisch-neuronale Disponiertheit als individueller Mensch. In ihrer physischen Disposition als strukturelle Elemente einer spezifischen Art, homo sapiens, sind "Menschen" offenkundig immens langsamer zu modifizieren, als die kommunikativ variierbaren Strukturen von sozialen Systemen. Konstatiert werden muss in diesem Zusammenhang lediglich, dass der neuronalen Ausstattung von Menschen ausreichend "Plastizität" zukommt, um etwa sowohl soziale Strukturen der Steinzeit oder die der Neuzeit zu begünstigen.

Es ist die kommunikative Strukturiertheit sozialer Systeme, die den beobachtbaren fulminanten sozialen Wandel verständlich macht. Dieser lässt sich etwa am rapiden Zuwachs von Fortbewegungsmöglichkeiten von Personen verdeutlichen. Innert wenigen 10 Tausenden von Jahren, einem Wimpernschlag in den zeitlichen Dimensionen biotischer Evolution, war es möglich, den Spielraum der Fortbewegung von Personen um den Faktor 3000 zu vergrößern. Dies entsprechend der Tagesdistanz eines Raketenflugs zum Mond, im Vergleich zu derjenigen, die zu Fuß möglich ist.

Mit dem Aufkommen von sozialen Systemen erlangte Evolution das Potential für (Selbst-)Reflexivität. Durch soziale Systeme wurde evolutionär möglich, dass Evolution ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen erkennt. Die Konstruktion von Theorien über Evolution ist eine Errungenschaft, die in sozialer, nicht in biotischer Evolution vorkommt. Erst diese Selbstorientierung oder Selbstreferenzierung der Theoriekonstruktion (innerhalb der Theoriekonstruktion) macht möglich - nämlich, indem zwischen sozialer und biotischer Evolution unterschieden wird15 -, anthropozentrische Fehlschlüsse bei der Konstruktion von Evolutionstheorien zu vermeiden. Es kann verhindert werden, dass spezifischen Geschehnissen sozialer Evolution, etwa Darwins "künstliche Zuchtwahl", irriger Weise die Eigenheit zugesprochen wird, Evolution gemeinhin zu charakterisieren.

4. Die Radikalität des Perspektivenwechsels

Es ist offensichtlich, dass die entwickelte Perspektive nicht als Erweiterung oder Ergänzung der Theorie Darwins verstanden werden kann. Sie ist eine radikale Abkehr von Darwins Sicht. Dies zeigt schon die fundamental unterschiedliche theoretische Stellung des Konzepts der Anpassung - bei Darwin Bedingung, hier Voraussetzung von Evolution. Entscheidend für die Entstehung von Arten und Populationen sind deshalb vorliegend systeminterne Modifikationen, das Aufkommen von sexueller Reproduktion im Ökosystem. Bei Darwin sind es systemexterne Bedingungen, Veränderungen der Umwelt von Lebewesen, die die Entstehung von Arten ermöglichen.

Darwins Irrweg ist durchaus nachzuvollziehen. Kommunikation selbst plausibilisiert auf den ersten Blick den Bezug auf individuelle Gegenständlichkeit, bei Darwin also die Bezugnahme auf die Individualität von Organismen. Die Evidenz von Beobachtungen - etwa, dass individuelle Vögel einer spezifischen Art in ihrer Schnabelform perfekt an ihre Nahrungsquelle angepasst sind - garantiert allerdings noch nicht den Wahrheitsgehalt von Theorien, die darauf aufbauen.

Auch die Perspektive Newtons in der Physik genießt mehr unmittelbare Plausibilität, als diejenige Einsteins. Konzepte, wie "Raumkrümmung" oder "Zeitdilatation", sind zunächst theoretische Abstraktionen, die sich nicht unmittelbar beobachten lassen. Gleiches gilt in vorliegender Perspektive für die Abstraktion, Organismen als "strukturelle Elemente" von autopoietischen Systemen (Ökosystem, Arten und Populationen) aufzufassen. Diese Abstraktion ermöglicht, zu sehen, dass Darwin bei seinen Beobachtungen einen Kategorienfehler begangen hat. Zwar ist Anpassung als entscheidende Voraussetzung von Evolution zu verstehen - dies aber nicht in Bezug auf individuelle Organismen, sondern in Referenz auf Arten, Populationen und das Ökosystem.

Die Anpassung von individuellen Organismen ist eine relative. Es ist die Strukturvielfalt von autopoietischen Systemen - also die relative "Unangepasstheit" von individuellen Organismen - welche die Anpassung von Arten und Populationen auch unter wechselnden, unvorhersehbaren Umweltbedingungen ermöglicht. Erst wenn das Potential, Angepasstheit zu gewährleisten - also Reproduktivität zu reproduzieren -, welches sich aus der strukturellen Vielfalt von autopoietischen Systemen ergibt, durch extreme Umweltveränderungen überschritten wird, kommt es zum Aussterben, etwa von Arten. Genau dies ist im derzeitig zu beobachtenden Massenaussterben von Populationen und Arten der Fall. Umweltbedingungen haben sich - in der Form von sozialen Systemen - derart radikal geändert, dass es vielen Arten und Populationen nicht mehr möglich ist, ihre Reproduktivität zu reproduzieren.

Aktuell ist es vor allem die Forschungsrichtung der Epigenetik, bzw. die evolutionäre Entwicklungsbiologie, die die "Moderne Synthese" in Frage stellt. Diese würde die "epigenetisch" zu beobachtende strukturelle Vielfalt und Plastizität von Lebewesen unberücksichtigt lassen.16 Allerdings bleibt auch bei dieser Kritik der Fokus auf der Individualität von Organismen, der letztlich Darwins Konzept einer "natürlichen Selektion" fundiert, unangetastet. Deshalb stellt diese Kritik die "Moderne Synthesis" nicht grundsätzlich in Frage. Ihr geht es lediglich um eine "Erweiterung" konventioneller Evolutionstheorie.

In vorliegender Perspektive lässt sich sehr genau bestimmen, wie sich das Forschungsfeld der Genetik von demjenigen der Epigenetik abgrenzen lässt. Der Unterschied liegt in der Referenz auf unterschiedliche autopoietische Systeme. Während sich die Genetik mit den strukturellen Elementen (dem Genom) von individuellen Zellen befasst, befasst sich die Epigenetik mit individuellen Organismen (multizellularen Systemen) als strukturellen Elementen von Arten und Populationen. Auch die Möglichkeit des horizontalen Gentransfers, die im Ökosystem unter Prokaryoten zu beobachten ist, fällt in das Forschungsfeld der Epigenetik.

In hier entwickelter Sicht ist das Konzept der "künstlichen" (bzw. "natürlichen") Selektion oder Zuchtwahl, welches aus den Verhältnissen sozialer Evolution abgeleitet ist, unsinnig. Anpassung wird in Referenz auf Arten und Populationen geleistet, deren Reproduktivität ist es, welche mittels deren Strukturen (Organismen) reproduziert wird. Ein relativer Vorteil auf der Ebene der Strukturen (Reproduktionsraten betreffend) muss nicht unbedingt einen ("selektiven") Vorteil auf der Ebene dieser Systeme bedeuten. Aktuell niedrige Reproduktionsraten könnten in der Zukunft, unter anderen Umweltbedingungen, vorteilhaft sein, zu höheren Reproduktionsraten führen. Selbst Reproduktionsraten von Strukturen, die nahe Null liegen - gewissermaßen das Todesurteil, eine Art "Anti-Selektion" aus der Sicht Darwins - können auf der Ebene der Anpassung einer Art vorteilhaft sein, etwa angesichts des zeitweisen Mangels an Umweltressourcen.

Die in konventioneller Evolutionstheorie oft gestellte Frage, welche Einheiten in der Evolution selektiert werden (etwa: Gene? individuelle Organismen? Gruppen von Organismen?), stellt sich demnach als Scheinproblem dar. Dies schlicht deshalb, weil Evolution abseits sozialer Evolution nichts "auswählt". Die reproduktive Aufrechterhaltung von autopoietischen Systemen wird durch deren strukturelle Vielfalt geleistet und nicht verzerrt durch ein "vorteilhaftes", Reproduktionsraten erhöhendes Kriterium, welches lediglich spezifische, "ausgewählte" Strukturen begünstigen und aufrechterhalten würde, wie dies in sozialer Evolution, etwa bei der Züchtung von Hunderassen der Fall sein kann. Die Frage nach den Einheiten, welche selektiert werden, stellt sich als "Rätsel" im Sinne Kuhns dar, als Problem, welches nicht gelöst werden kann, sondern die Notwendigkeit eines paradigmatischen Perspektivenwechsels anzeigt.17

Ein "Rätsel" in diesem Sinne stellt auch das Aufkommen von sexueller Reproduktion dar. In konventioneller Evolutionstheorie scheint diese Neuerung ein Problem zu sein, weil diese - dann als Eigenschaft gesehen, die individuellen Organismen zukommt - offenkundig keinen Vorteil für das individuelle "egoistische Gen" bietet, sich also eigentlich gar nicht hätte evolutionär stabilisieren können ("paradox of sex", "two-fold cost of sex"). Es bedarf deshalb einiger theoretischer Klimmzüge, um das Auftreten dieser Form der Reproduktion - offenkundig nichtsdestotrotz - erklären zu können.

Falsch ist aus vorliegender Perspektive schon, von der Prämisse einer "Individualität" auszugehen, welche sich dann, gemessen am Maßstab ihrer Aufrechterhaltung, im Zuge evolutionären Geschehens "vorteilhafte" Eigenschaften (wie Sexualität) aneignen könnte. Das Konzept der "Individualität" ist eines, welches sich in sozialer Evolution entwickeln konnte, also der Entwicklung sexueller Reproduktion zeitlich nachgeordnet ist. Insofern stellt sich schon die Frage als unsinnig dar. Unsinnig ist in diesem Zusammenhang auch das Konzept des Wettbewerbs, welches in konventioneller Sicht die Beziehung zwischen "Individuen" dominieren soll. Dies deshalb, weil es in der Evolution nicht um die Aufrechterhaltung spezifischer, im Konkurrenzkampf bewährter Strukturen geht, sondern es, wie erwähnt, strukturelle Vielfalt ist, gewissermaßen epigenetische Plastizität, die es aufrecht zu erhalten gilt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die Reproduktion der Reproduktivität autopoietischer Systeme auch unter sich ändernden Umweltbedingungen zu leisten.

Genauso wenig, wie plausibel ist, dass genetische Strukturen in Bezug auf Zellen als autopoietische Systeme konkurrieren, ist dies in Bezug auf individuelle Organismen als strukturierende Elemente von Arten und Populationen der Fall. Konzepte, wie etwa "Wettbewerb", "Individualität", "Zuchtwahl", "Selektion" sind als Artefakte oder Konstruktionen sozialer Evolution zu verstehen, nicht als Mechanismen, die für Evolution gemeinhin von Relevanz sind.