zurück zum Artikel

Parlamentarier sind Vertreter der Parteifunktionäre

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 4

In dieser Folge seiner demokratiekritischen Artikelreihe analysiert der Allensbacher Politologe und Wissenschaftsjournalist Wolfgang J. Koschnick die unselige Rolle der politischen Parteien beim Abwürgen demokratischer Entscheidungsprozesse. Er weist nach, dass die politischen Rekrutierungsmechanismen der repräsentativen Parteiendemokratien nicht geeignet sind, ein besonders qualifiziertes Politikerpersonal zu gewinnen. Im Gegenteil: Während in Wirtschaft, Justiz und Verwaltung Führungspositionen traditionell nach Qualifikation und Leistungsfähigkeit besetzt werden, verlaufen Karrieren in der Politik schleppend. Sitzfleisch garantiert eine Parteikarriere eher als Qualifikation. Der Grundstein für eine Parteikarriere wird mit dem Arsch gelegt, nicht mit dem Kopf.

Teil 3: Leben wie die Maden im Speck [1]

So gut wie kein Politiker kommt daran vorbei, sich zunächst einmal einige Jahre in einer Parteiorganisation zu "bewähren", indem er Flugblätter verteilt, Plakate klebt, Informationsstände betreut, Fähnchen schwenkt, Ortsvereine leitet, Sitzungsprotokolle verfasst, Versammlungen besucht, auf Wahlkampfveranstaltungen applaudiert, Kugelschreiber verteilt oder ähnlich albernen Tätigkeiten nachgeht.

Wenn er oder sie das eine Weile gemacht hat, wird er oder sie möglicherweise als Landtags-, Bundestags- oder sonst ein -kandidat aufgestellt. Wenn er das nicht machen möchte, hat er so gut wie keine Chance, jemals in Amt und Würden zu gelangen. Die Parteien sind da ziemlich pingelig. Wer sich nicht mit der gebührenden Gründlichkeit mit dem Stallmief eines Ortsvereins parfümiert hat, wird so gut wie nie als Kandidat für ein Amt nominiert.

Wenn er aufgestellt wird, muss er einen Wahlkampf führen - in der Regel eine ziemlich aufreibende, anstrengende Tätigkeit: Reden halten in oft schlecht besuchten Kneipen, bei denen es meist darum geht nachzuweisen, dass die eigene Partei der Glücksbringer schlechthin ist, während die Gegner allesamt nicht viel taugen.

Die Besucher von Parteiveranstaltungen gehören nicht unbedingt zu den hellsten Köpfen der Nation. Wahlkämpfe richten sich ganz allgemein eher an die schlichteren Gemüter. Wer sich wirklich politisch informieren möchte, kennt geistvollere Informationsquellen als ausgerechnet Wahlkämpfe, bei denen die öffentlichen Reden ja eher den Charakter des Ugaah-Uuggaah-Gebrülls der Neandertaler haben.

Die meisten Leute haben längst erkannt, dass es trotz der vielfach vorgetragenen Heilsversprechen der Redner bei den Versammlungen nicht um das Heil der Welt geht, sondern doch nur darum, dass sich ein politisches Würstchen um ein Amt müht. Was soll man dem bei seinen rhetorischen Verrenkungen zuhören?

Die Ochsentour durch die Parteigremien tötet jede Kreativität

Und eine wachsende Zahl von Leuten im Wahlvolk hat längst begriffen, dass Wahlkämpfe ein von PR-Experten inszeniertes Theater sind, bei dem das Volk nichts zu entscheiden hat. Es darf nur schlucken, was die Parteizentralen ihnen im Verein mit ihren PR-Managern vorgekaut haben.

Der Weg, den künftige Politiker vom Eintritt in eine Partei bis zu einem ersten Parteiamt oder gar bis zum ersten öffentlichen Wahlamt beschreiten, ist lang und steinig. Man spricht zu Recht von einer "Ochsentour" durch alle Stufen der Parteihierarchie.

Bis einer das erste Parteiamt erhält, vergehen im Durchschnitt sieben Jahre, bis zum ersten öffentlichen Wahlamt sind es sogar neun Jahre. Zwischen dem ersten politischen Amt auf kommunaler Ebene und dem Abgeordnetenmandat liegen im Schnitt neuneinhalb Jahre.1 [2]

Doch wer tut sich das an und hockt jahrelang in sterbenslangweiligen Parteiversammlungen, streitet sich über irgendwelche blödsinnigen Personalien, hört sich belanglose Rechenschaftsberichte, Sitzungsprotokolle oder Nachrichten über die mickrige Kassenlage an und nimmt an einfältigen Diskussionen über die Vorbereitung des nächsten Wahlkampfs teil oder beteiligt sich an erbärmlichen Erörterungen darüber, welches arme Schwein der nächste Kassenwart werden soll?

Wer ein Amt anstrebt, braucht einen sehr langen Atem und möglichst auch ein gerüttelt Maß an Immobilität; denn wenn er in eine andere Stadt zieht und in einen neuen Ortsverein kommt, geht die Ochsentour wieder ganz von vorne los. Allein das ist eine unzumutbare Idiotie. Junge Leute, die am Anfang ihres Berufswegs stehen, wechseln nun einmal öfter den Wohnort. Sie sollten das auch tun.

Hohe Mobilität gilt im Berufsleben als Qualifikationsindiz. Das bedeutet auch umgekehrt: Wer schon in jungen Jahren sesshaft an einem Ort festhängt, ist auch sonst wohl ziemlich träge. Und wer von einem Ort zum nächsten zieht, müsste in seinem neuen Ortsverein wieder ganz von vorne anfangen und dort wieder jahrelang in den Sitzungen herumhängen.

Die politischen Parteien sind an der Basis regional organisiert. Die Meinungsbildung vollzieht sich in Ortsvereinen und über Ortsvereine zu Unterbezirken, Bezirken, Landesverbänden und dem Bundesparteitag. Wer sich in einer Partei durchsetzen will, muss zunächst in den unteren Organisationen aktiv sein, eine Anhängerschaft um sich scharen, und dafür braucht er in der Regel viele Jahre. Das hat ganz und gar ungewollte, dem Geist einer lebendigen Demokratie abträgliche Konsequenzen:

  1. Politische Parteien ziehen nur Leute an, die viel Zeit haben und viel Lebensenergie in politische Aktivitäten investieren wollen und können. Doch das wollen immer weniger junge Leute.
  2. Eine solche Organisationsform fördert eine einseitige Auswahl aus der Bevölkerung. Die Rituale und Prozeduren der Parteipolitik begünstigen bestimmte Berufe und soziale Schichten und benachteiligen andere.

Während in Wirtschaft, Justiz und Verwaltung die Führungspositionen traditionell überwiegend nach Qualifikation und Leistungsfähigkeit besetzt werden, verlaufen Karrieren in der Politik schleppend. Sitzfleisch garantiert eine Parteikarriere eher als Qualifikation. Der Grundstein für eine Parteikarriere wird mit dem Arsch gelegt. Wie viel besser wäre es doch um das Ansehen der Politiker bestellt, wenn man sagen könnte, der Kopf spiele dabei die entscheidende Rolle…

Politikerausbildung: Zettelchen kleben und Fähnchen schwenken

Bevor Politiker in kommunal-, landes- oder gar bundespolitische Verantwortung aufsteigen können, müssen sie sich bei den örtlichen Parteimitgliedern durchsetzen und auch deren Sprache sprechen.

Viele Jahre Zettelchen verteilen, Plakate kleben, den Schriftführer oder Kassenwart geben, Sitzungsprotokolle schreiben, Informationsstände aufbauen und betreuen, Fähnchen schwenken, Luftballons aufblasen und Kugelschreiber verteilen, Schirme am Informationsstand aufspannen oder Mitgliedsbeiträge kassieren sind eine geistlose, gleichwohl aber prägende und vor allem so gut wie unvermeidliche Vorbereitung für die politische Arbeit.

Man könnte sich ja mit der Redensart trösten, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind oder - etwas sublimer -, dass die Götter vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben. Mag sein.

Aber die Jahre des Herumsitzens im Ortsverein sind vergeudete Lebensjahre. Ein künftiger Politiker lernt dabei auch nichts, was ihm später nützlich sein könnte - außer vielleicht, wie man einen politischen Gegner im Ortsverein abschießt. Jeder Lehrling in einem Handwerksbetrieb, den der Meister während der Lehrjahre losschickt, um Bier zu holen, den Hof zu fegen oder sein Auto zu waschen, wird am Ende auf seinen künftigen Beruf besser vorbereitet als ein Politiker, der nur ein wenig seine rhetorischen Talente und das Herumtaktieren und Finassieren in niederen Parteigremien einübt.

Derart festgeschriebene Karrieren schrecken Leute ab, die sich für politische Zusammenhänge interessieren und sich auch gern politisch engagieren, aber beispielsweise nicht in der Kommunalpolitik. Und wer sich ernsthaft für politische Themen interessiert, möchte dennoch nicht gleich in die Hahnenkämpfe örtlicher Parteigremien hineingezogen werden und sich auch nicht unbedingt durch die in allen Parteien vorherrschende Kameraderie und die parteipolitischen Machtkalküle vereinnahmen lassen.

Der Zeitadel regiert: Leute mit Zeit für Unfug

Diese Art der Parteiarbeit begünstigt jene, die für so etwas viel Zeit opfern können und auch wollen. Der Politikwissenschaftler Warnfried Dettling spricht vom "Zeitadel" und meint damit Lehrer, Beamte, öffentliche Angestellte und Rentner - also Leute mit mehr Zeit für Unfug als andere.

Das ist eine weitere Erklärung dafür, warum so viele Beamte und öffentliche Bedienstete in den Parlamenten sitzen: Sie haben mehr Zeit als andere, in örtlichen Parteisitzungen zu verbringen. Ein öffentliches Mandat führt bei ihnen auch nicht zu einem Bruch in ihrer Karriere wie beispielsweise bei Selbstständigen, die sich den Luxus einer Tätigkeit im Ortsverein oder gar eines Mandats kaum leisten können, weil sie dann ihren Beruf sträflich vernachlässigen müssten.

Eine Folge ist der Triumph des Mittelmaßes bei Personalentscheidungen. Hochqualifizierte, die am Anfang oder auf dem Höhepunkt ihrer Karriere stehen, Leute, die beruflich viel reisen oder anderweitig stark eingespannt sind, gehören zu den "Zeitarmen". Sie können oder wollen keine Zeit für stundenlange und meist auch belanglose Parteisitzungen erübrigen. Ihr Interesse gilt inhaltlichen, konzeptionellen Fragen statt endlosen personellen oder funktionellen Diskussionen.

36 Prozent der Bürger gehören zu den "Zeitarmen", ergab 2004 eine Studie der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Nur 27 Prozent zählen zu den "Zeitreichen" - die 37 Prozent der "Zeitbefriedigten" bewegen sich in der Mitte.2 [3]

Die Unterscheidung zwischen Zeitreichen und Zeitarmen geht auf den SPD-Wirtschaftspolitiker Ulrich Pfeiffer zurück:

Man kann kaum etwas gegen (das) System (der politischen Parteien) einwenden. Die Mitgliedschaft ist offen. Man beteiligt sich an einem überschaubaren Ortsverein. Das System geht allerdings stillschweigend von der Annahme aus, dass die Einzelnen über ähnliche Zeitbudgets verfügen, um für die Parteiarbeit präsent zu sein. Genau diese Voraussetzung ist heute immer weniger erfüllt. Die Arbeitszeiten oder die zeitlichen Beanspruchungen durch Beruf und Familie haben sich extrem aufgefächert. Immer mehr erwerbstätige Mütter verfügen kaum noch über Freizeit. Immer mehr Freiberufliche, Manager, Spitzenbeamte oder Erwerbstätige in technisch anspruchsvollen Berufen, in denen ein ständiges Lernen Voraussetzung des beruflichen Erfolgs wird, können kaum Zeit und Energie aufbringen, um sich ständig am Binnenleben einer Partei zu beteiligen.

Die Gesellschaft lässt sich immer ausgeprägter in zeitreiche und zeitarme Menschen aufteilen. Zwar hat der Tag für jeden 24 Stunden, doch immer mehr können von einer 40-Stunden-Woche nur träumen und sind ständig bis an ihre Kapazitätsgrenze durch berufliche und familiäre Pflichten ausgelastet. Der Zeitfraß der Parteiarbeit kann nur von denen verkraftet werden, die über viel Zeit verfügen.

Ulrich Pfeiffer.

Folglich bleiben die Zeitreichen - Lehrer, Angestellte der Kommunen, Beamte oder Rentner - in den Ortsvereinen der politischen Parteien unter sich. Selbstständige, Angehörige der technischen Intelligenz, Unternehmer, Freiberufler oder erwerbstätige Mütter trifft man dort selten an.

Der Kommunikationswissenschaftler und einstige SPD-Geschäftsführer Peter Glotz zog daraus die Konsequenz:

Die Bedürfnisse dieser Ausgesperrten (denen man immer entgegenhalten kann, sie könnten sich in den Parteigremien ja engagieren, wenn sie nur wollten) werden in die Kommunikationsprozesse nicht eingespeist. Die Konsequenz ist eben Erfahrungsverdünnung. Das Tempo der Bewältigung neuer Themen wird langsam. Sprache und Themenwahl, Kommunikationsformen und Personalauswahl der Volksparteien genügen der Realität unserer Gesellschaft nicht mehr, weil wichtige Eliten ausgesperrt bleiben. Das, was in der Gesellschaft diskutiert wird, dringt viel zu langsam in die Gremien der Parteien vor.

Die Unfähigkeit der "real existierenden" politischen Parteien, rasch auf neue Entwicklungen zu reagieren, liegt also in einer Verkapselung in ihrer Binnenkommunikation, die wiederum auf einer allzu engen Selektion ihrer Mitgliedschaft bzw. Aktivbürgerschaft beruht. Die Umdenkleistung moderner politischer Parteien ist zu gering. Zwar verfügen die meisten Parteizentralen über Grundlagenforschung, Zeitgeistforschung und Fremdbeobachtung. Sie können es aber nicht wagen, radikale Konsequenzen zur Debatte zu stellen, weil sie damit in ihrer Binnenkommunikation keinen Erfolg haben.

Diese Versäulung wird durch das Wahlsystem verstärkt. Da 50 Prozent der Abgeordneten über feste Listen bestimmt werden, über die nur Parteigremien entscheiden, ist es für viele Kandidaten in der Regel wichtiger, innerparteilichen Pressure Groups zu gefallen als der Mehrheit der Bevölkerung. Das Ergebnis ist eine immer größer werdende Kluft zwischen dem Zeitgespräch in den Parteien und dem Zeitgespräch in der Gesellschaft.

Peter Glotz

Aufgeblasene Rhetorik als Ersatz für inhaltliche Konzepte

Je ähnlicher die Volksparteien einander im Laufe der Jahre wurden, desto stärker wurde der Zwang, die Unterschiede zum jeweiligen Gegner wenigstens rhetorisch zu betonen. Und so kommt es im politischen Basisalltag zu einer fast absurden Verzerrung der Realität: Je mitreißender ein Wahlkämpfer zu reden und die Zuhörer davon zu überzeugen versteht, dass er und seine Partei die besseren Konzepte haben, desto besser sind seine Chancen, als Kandidat aufgestellt zu werden.

Dabei plädiert er doch nur für eine von mehreren politischen Parteien, die allesamt einigermaßen vergleichbare Konzepte vertreten - auf jeden Fall aber Konzepte, die sich häufig gar nicht, nur marginal oder nicht unbedingt wesentlich voneinander unterscheiden.

Im günstigsten Fall überzeugt er seine Zuhörer von der Überlegenheit von Konzepten, die in Wahrheit gar nicht überlegen sind. Das aber qualifiziert ihn für spätere Ämter. Und er lernt, sich selbst und anderen nach Herzenslust in die Tasche zu lügen. Nicht zwangsläufig durch bewusstes Lügen, sondern oft auch nur in Form des Selbstbetrugs.

In der Demokratie wird Politik zur Kunst der Lüge

Man sollte diese alltägliche praktische Erfahrung von Aktivisten und Parteifunktionären nicht unterschätzen. Mag sein, dass die politische Wichtigtuerei und das gockelhafte Gehabe von Funktionären Außenstehenden albern erscheint. Doch es charakterisiert das Verhalten und das Denken der Aktivisten. Ihre Mentalität ist dadurch geprägt, dass sie mit wichtigtuerischem Auftreten, leichtfertigem Selbstbetrug, verbalem Getöse und pompöser Rhetorik erfolgreich sein können.

In der Demokratie, schreibt der österreichische Journalist Ernst Sittinger3 [4], wird "die Kunst der Politik zur Kunst der Lüge. Der Politiker hat sein ganzes Leben mit der Lüge zu tun. Er ist professionell auf Tarnen und Täuschen konditioniert. Die politische Karriere beginnt mit Lügen, sie setzt sich mit Lügen fort und sie endet mit Lügen. Wer die Wahrheit spricht, stört das Ritual, man könnte fast sagen: Er stört die öffentliche Ordnung. Die Wahrheit ist der Mehrheit nicht förderlich. Sie kommt vor dem Fall."

Wer sechs, sieben oder noch mehr Jahre in der parteipolitischen Ochsentour unterwegs war, der hält am Ende die milden Formen des Selbstbetrugs und die nicht ganz so milden Formen des Wählerbetrugs für seriöse Politik. Der glaubt vielleicht am Ende selbst, dass die Zukunft des Heimatlandes bei der nächsten Wahl auf dem Spiel steht, wenn nicht die eigene politische Partei obsiegt.

Das perfekte Beispiel für diese Art von Selbst- und Fremdbetrug lieferte Hillary Clinton im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2008, als man sie fragte, warum sie sich das antue, weiter für das Präsidentenamt zu kandidieren, als doch längst klar war, dass sie überhaupt keine Aussicht hatte. Da antwortete sie mit erst tränenerstickter Stimme und dann sogar in echte Tränen aufgelöst, sie liebe ihr Land so sehr und wisse, die Zukunft Amerikas hänge davon ab, wie die Wahl ausgeht.

Dies sei die wichtigste Wahl in der Geschichte Amerikas. Das habe überhaupt nichts mehr mit Politik und öffentlichem Ehrgeiz zu tun, sondern nur mit der grenzenlosen Liebe zu ihrem Land. Das sei etwas sehr Persönliches: "This is very personal."

Spätestens an dem Punkt lag ihr die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung und wahrscheinlich zur Hälfte ebenfalls in Tränen aufgelöst zu Füßen. Ihre Beliebtheit schoss in die Höhe. Die Schmierenkomödie kann gar nicht geschmacklos genug sein. Sie funktioniert.4 [5] Dabei ging’s doch bloß um eine von 56 Präsidentschaftswahlen der amerikanischen Geschichte.

Keiner kam auf die Idee, einen Moment innezuhalten und zu fragen: Worum geht’s hier eigentlich? Da will doch nur eine auf Biegen und Brechen in ein politisches Amt gewählt werden. Dazu drückt sie larmoyant auf die Tränendrüse und deutet ganz unverhohlen an, die Zukunft des Landes hänge davon ab, ob sie nun gewählt wird. Doch von dieser Wahl hing ja nun wahrhaftig nicht die Glückseligkeit einer ganzen Nation ab.

Das Dilemma liegt auf der Hand: In vielen Programmpunkten vertreten die heutigen Volksparteien vergleichbare Positionen - auf jeden Fall aber Positionen, die sich nicht radikal voneinander unterscheiden. Das ist in einer entwickelten Demokratie eine völlig andere Situation als in den Anfangsjahren der demokratischen Pionierzeit, als es noch um grundlegende Weichenstellungen und fundamentale Orientierungen ging.

Damals ging es um Sozialismus oder Kapitalismus, soziale Marktwirtschaft oder Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Westorientierung in der Außenpolitik oder Neutralität, Kalter Krieg oder Ostpolitik. Heute geht es um leichtere Themen: Betreuungsgeld, Umwelt, Erbrecht, Gesundheitssystem, Tierschutz, Schulgesetze, Autobahnmaut.

"Im Grunde wollen wir alle das Gleiche"

Die Wahlkämpfer befinden sich da in einer Klemme; denn sie können ihren potenziellen Wählern ja unmöglich sagen: "Im Grunde genommen wollen wir alle so ziemlich das Gleiche und vor allem wollen wir in schöne Positionen gewählt werden."

Also müssen sie mit aufgeblasener Rhetorik das Trennende betonen. Und wo selbst das nicht geht, müssen sie bis zum Überdruss behaupten, dass ihre eigene Partei alles stets viel besser kann als alle anderen: "Wir haben die besseren Konzepte."

Sie haben es allerdings noch nicht kapiert, dass die Wählerinnen und Wähler ihnen schon längst kein Wort mehr glauben und sich diesen Humbug auch nicht länger anhören möchten.

So herrscht eine parteipolitische Rhetorik, die jede ernsthafte Diskussion im Keim erstickt, weil die eine Seite stets ablehnen muss, was die andere fordert. Und so kommt es auch immer wieder dazu, dass Oppositionspolitiker mit größter Leidenschaft Forderungen formulieren, die sie noch kurze Zeit zuvor als Regierungspolitiker energisch abgelehnt haben - oder auch umgekehrt.5 [6]

Es ist eine Situation wie beim Marketing für Produkte. Die sind in ihrer stofflich-technischen Qualität einander auch meist ziemlich ähnlich. Um die Einzigartigkeit des eigenen Marketingartikels hervorzuheben, kitzeln Marketingleute die "unique selling proposition (U.S.P.)" hervor, das einzigartige Verkaufsargument, das der Marke dann ihre Alleinstellung im Markt gewährleistet und sie für potenzielle Käufer attraktiv macht. Denn nur durch Mordsgetöse lassen sich Marken voneinander unterscheiden, die sich in der Produktqualität eben nicht mehr voneinander unterscheiden.

Dasselbe Ziel verfolgen die Politiker in ihren Wahlkämpfen, den großen Marketingkampagnen der politischen Parteien. Das führt dazu, dass Anhänger einer politischen Partei rhetorisch zu einer großen Gesinnungsgemeinschaft zusammengeschweißt werden und sich auch als solche verstehen, obwohl sie das schon längst nicht mehr sind. Anhänger der SPD halten sich noch immer für ziemlich links, Anhänger der CDU noch immer für christlich-konservativ und Anhänger der FDP noch immer für liberale Vorkämpfer der Bürgerfreiheit.

Doch in der Realität sind die politischen Parteien schon längst keine Gesinnungsgemeinschaften mehr, sondern Allerweltsparteien ("catchall parties"), die versuchen, es jedermann recht zu machen und niemandem wehe zu tun. Sie streben danach, durch ein diffuses Erscheinungsbild und ein breit gefächertes Programmangebot die größtmögliche Zahl von Wählern anzusprechen - und das bis weit über die Grenze der totalen Profillosigkeit hinaus.

Die politischen Parteien habe keine Bindekraft mehr

Alle Parteien umwerben die politische Mitte und verzichten auf klare Programmatik. Die Beliebigkeit löst Loyalitäten und Machtgefüge auf. Die tragenden Klassen der Vergangenheit - Arbeiter, Bauern, Bürger - sind dahingeschmolzen und haben an ökonomischer oder kultureller Bedeutung verloren. Sie haben sich gewissermaßen in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft aufgelöst.

Als soziokulturelle Einheiten fungieren Parteien schon längst nicht mehr, und selbst ihre politische Bindekraft hat nachgelassen. In den großen Parteien hat jeweils mehr als ein Drittel der Mitglieder schon mal eine andere Partei gewählt. Der Parteienwettbewerb hat sich substanziell entpolitisiert. In ihnen ringen nicht mehr soziale Lebenswelten mit unterschiedlichen Entwürfen für eine gute Politik und Gesellschaft.

Parteien dieses Typs bezeichnete der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer schon 1965 als "catchall parties"6 [7]. "Die Umwandlung zu Allerweltsparteien ist ein Phänomen des Wettbewerbs. Eine Partei neigt dazu, sich dem erfolgreichen Stil ihres Kontrahenten anzupassen, weil sie hofft, am Tag der Wahl gut abzuschneiden, oder weil sie befürchtet, Wähler zu verlieren."7 [8]

Um die Mehrheit der Wähler zu erreichen, unterhalten die Allerweltsparteien Verbindungen zu verschiedenen Interessenverbänden, die ihnen ein ,,Massenreservoir leicht zugänglicher Wähler bieten"8 [9]. Diese Verbindung ist deshalb notwendig, weil die Wählerschaft in einem Allerweltsparteiensystem keine langfristigen Parteibindungen hat und angesichts der bis auf Details und Äußerlichkeiten gleichen Parteiprogramme politisch desillusioniert ist. Die Wähler und Wählerinnen haben "bei der Wahl keine Wahl" und verhalten sich apathisch. Somit wird auch das Wahlergebnis beliebig, die entscheidenden Faktoren "stehen oft in keiner Beziehung zur Leistung der Partei"9 [10].

Allerweltsparteien bluten nach und nach aus

Der Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt beschreibt die Allerweltsparteien so: Sie bieten keinen Schutz für gesellschaftliche Positionen, sie fungieren nicht mehr als Anlegeplatz für eine intellektuelle Ambition; ihnen fehlt ein Bild von der Zukunft. Sie bluten normativ allmählich aus - und gefährden dadurch ihren eigenen Bestand. Den Parteimitgliedern mangelt es an ideellen Motivationen für ehrenamtliche Aktivitäten; den Parteianführern fehlen die Maßstäbe und Leitsterne für ihr politisches Handeln.

Noch bis in die 1960er Jahre hinein gingen begabte junge Leute in die politischen Parteien, später in die sozialen Bewegungen. Seit den 1980er Jahren ist Parteipolitik immer uninteressanter geworden. Viele junge Menschen interessieren sich noch für Politik, schrecken aber vor dem Gekungel in den Hinterzimmern der Politik zurück. Doch den politischen Parteien scheint das egal zu sein. Sie füllen auch dann noch die Parlamente, wenn nur wenige Bürger überhaupt noch zur Wahl gehen.

Übrigens auch dies ein Zeichen für die selbstzerstörerische Eigendynamik in entwickelten Demokratien. Im Streben, für möglichst viele Wähler attraktiv zu sein, mutieren die alten Weltanschauungsparteien von einst zu Allerweltsparteien und verlieren dadurch ihr klares Profil und mit ihm nach und nach auch ihre Wähler.

Man könnte von politischer Selbstauszehrung sprechen. Während die CDU/CSU in den 1950er Jahren meist rund um 50 Prozent der Stimmen bekam und die SPD meist rund um 40 Prozent, sind beide "großen" Parteien in diesem Jahrhundert zu Miniaturen ihrer selbst geschrumpft: Die CDU/CSU liegt meist bei etwas über 30 und die SPD meist bei etwas über 20 Prozent. Die entwickelte Demokratie frisst auch ihre eigenen Parteien.

Der Abschied von Kernüberzeugungen hat die Parteien keineswegs freier gemacht. Er hat ihnen eher die Orientierungssicherheit genommen, hat Loyalitäten reduziert, ihre Stabilität beeinträchtigt. Die überzeugungs- und lagerlosen Parteien sind abhängiger nach außen geworden: von den Einflüsterungen und Kurzatmigkeiten der Demoskopen, von den Konjunkturen der politischen Leitartikel, von den Launen einer hybriden Kundenmentalität. … Denn Allerweltspolitik schleift die autonomen Maßstäbe und unzweideutigen Wertvorstellungen, die dafür nötig sind.

So sind Allerweltsparteien stets Agenten der obwaltenden Entwicklungsprozesse beziehungsweise der herrschenden Deutungen davon. Und so erscheinen ihnen gegenüber stets solche Parteien ungleich dynamischer und forscher, die ihre Anhänger mit scharfen und eindeutigen Parolen in Stimmung bringen, die den eigensinnigen Zerschnitt des gordischen Knotens zum Programm machen. Die Allerweltspartei und der neue Populismus bedingen einander.

Im Zuge dieser Dialektik verlieren oft gerade Allerweltsparteien ihren Charakter als Groß- und Volkspartei. Denn sie verlieren an innerer Kraft, die aber unverzichtbar ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Mitglieder zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren.

Franz Walter

Die meisten Mitglieder suchen in und durch Parteien berufliches Fortkommen. Die Parteien bestimmen über die Besetzung zahlreicher, auch außerstaatlicher Führungspositionen. Radio- und Fernsehanstalten, Energieunternehmen, der öffentliche Geld- und Kreditsektor, ein Großteil der Verkehrsbetriebe, Behörden, Ämter und Ministerien sind auch "Versorgungsunternehmen für Parteigänger und -mitglieder"10 [11]. Das trägt zusätzlich zur ideologischen Indifferenz bei. Versorgungsdenken und der daraus folgende politische Opportunismus relativieren politische Bekenntnisse und die Verantwortung für das Ganze.

Für die Ochsentour ist Qualifikation nicht gefragt

Entkräftete und ermattete Allerweltsparteien sind am Ende dieses ganzen Auszehrungsprozesses Mitte eigentlich nur durch ihre semantischen Ansprüche, nicht durch ihre wirkliche Erdung und Repräsentanz in den elementaren Lebensbereichen der Gesellschaft. Infolgedessen reagiert die Gesellschaft auch zunehmend gleichgültig auf die übervorsichtigen, politisch entleerten Allerweltsparteien, ärgert sich einzig über die immensen Kosten, die dafür gleichwohl aufzuwenden sind, empört sich zuweilen über Verfilzung, Kartellisierung, gar Korruption.

Franz Walter

Alles in allem: Die Ochsentour durch die Partei und den Wahlkampf verlangt von einem Kandidaten keinerlei Fertigkeiten, die ihn für ein politisches Amt und das Tragen von Verantwortung sehr qualifizieren - außer vielleicht einer gewissen Beredsamkeit und der Fähigkeit, in politischen Auseinandersetzungen zu finassieren und zu intrigieren.

Ein fast schon tragikomisches Beispiel dafür, dass die Fertigkeiten, die einen überragenden Wahlsieg überhaupt erst möglich machen, aber nicht für das anschließende Tragen von Verantwortung qualifizieren, ist die Rolle des FDP-Politikers Guido Westerwelle vor und nach der Bundestagswahl 2009. Mit brillanter, wenn auch knüppeldick aufgetragener Rhetorik gelang es ihm, für die FDP einen der größten Wahlsiege in ihrer Geschichte zu erringen. Und mit derselben bombastischen Rhetorik, hat er ihn nach der Wahl binnen kürzester Zeit wieder verspielt.

Am Ende wurde ihm und der FDP genau jene Fertigkeit zum Verhängnis, die ihn zum höchsten Erfolg geführt hatte. Und das ist das Charakteristikum der allgemeinen politischen Konstellation. Um in politische Ämter zu gelangen, braucht man Fertigkeiten, die einen Kandidaten für eine Reihe von Dingen qualifizieren mögen: auf jeden Fall nicht zum Führen eines politischen Amts und schon gar nicht für das Tragen ernsthafter Verantwortung.

Das erklärt, warum so viele Politiker in ihren neuen Ämtern so lange und so hilflos herumhampeln. Sie müssen erst lernen, was sie angeblich schon längst so gut beherrschen.

Damit da kein Missverständnis entsteht: Ich behaupte nicht, dass alle Abgeordneten geschwätzige Luschen sind - obwohl es viele gibt, auf die auch das zutrifft. Es geht darum, dass die in der repräsentativen Demokratie geltenden Rekrutierungsmethoden so gut wie keine Qualifikation erfordern außer Zettelchen verteilen, Versammlungen leiten, Plakate kleben, Reden halten und ein bisschen herumzuintrigieren.

Natürlich können dennoch häufig Hochqualifizierte durch die Ochsentour rekrutiert werden. Aber nicht wegen der Rekrutierungsanforderungen, sondern trotzdem.

Selbst in absoluten Monarchien war das anders. Der Adel wurde ein Leben lang dafür ausgebildet, Führungsaufgaben und Verantwortung wahrzunehmen. Das System war darauf ausgerichtet, ausgebildete Verantwortungsträger zu generieren. Das ist dennoch oft genug auch völlig schief gegangen.

Entscheidend aber ist: Das System war darauf ausgerichtet. Das System der repräsentativen Demokratie ist es nicht, und das ist seine Crux, genauer gesagt: Das ist einer der vielen Gründe, warum die Kluft zwischen der Bevölkerung und ihren Politikern immer größer wird.

Teil 5 [12]: Eine Form der milden Funktionärsdiktatur.

Die 5. Folge zeigt, wie die staatlich finanzierten politischen Parteien alle Spuren von demokratischer Spontaneität und Selbstorganisation im Keim ersticken. Wenn den Parteien die Mitglieder in Scharen davonlaufen, so macht das gar nichts. Dann greifen die Parteien halt den Steuerzahlern noch etwas tiefer in die Taschen und lassen sie ihre Organisationen bezahlen.

Die politischen Parteien könnten keine zwei Tage überleben, entzöge man ihnen die staatliche Unterstützung, mit der sie sich selbst künstlich am Leben erhalten. Sie sind so gut wie vollständig staatsfinanziert. Sie haben den Staat usurpiert und nähren sich prächtig von den Tributzahlungen der Steuerzahler. Staatsparteien und staatlich finanzierte Mandatsträger sind meilenweit von allem entfernt, was in den Gründerjahren einmal einen durchaus demokratischen Anfang genommen hat.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3363115

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Leben-wie-die-Maden-im-Speck-3363017.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_1
[3] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_2
[4] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_3
[5] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_4
[6] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_5
[7] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_6
[8] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_7
[9] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_8
[10] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_9
[11] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html?view=fussnoten#f_10
[12] https://www.heise.de/tp/features/Eine-Form-der-milden-Funktionaersdiktatur-3363125.html