Piketty: Wiedergutmachung für Sklaven- und Zwangsarbeit muss neu diskutiert werden
Der französische Ökonom plädiert für gerechtere Regelungen und Kriterien, um eine große Ungerechtigkeit nicht zu zementieren
Mit Höchstgeschwindigkeit nähert sich die Frage in den sozialen Netzwerken, welche Statuen als nächste fallen sollen, den großen Figuren: Kant, Gandhi oder auch Jesus sind in der Debatte.
Denkt man an die Diskussionen, die es zu Jesus am Kreuz oder zum Kreuz selbst in Klassenzimmern ("Abhängen!") oder zum Umgang von Künstlern damit gegeben hat, so ist das keine wirklich neue Diskussion, siehe etwa den Skandal, den der bayerische Filmemacher Herbert Achternbusch Anfang der 1980er Jahren mit dem Gespenst entfachte.
Nun rollen aber neue, größere Wellen der Empörung über Rassismus und Ungerechtigkeiten durch die USA und in europäische Länder, besonders in Frankreich; die Medien, immer am Erregungspuls, nehmen das gerne auf und geben weiter Wind dazu. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit kommt auf neuen Wellenkämmen an den Strand der Debatten-Polis. Es sind Umbruchszeiten, alte Burgen werden unterspült. Die einen begeistern sich an den "Winds of Change", die anderen fürchten sich vor dem Mob.
Die Diskussion über die Statuen lässt sich auch lustig beleuchten. Es ist ein Thema wie geschaffen für Karikaturisten. Und es gibt sublimere und bessere - sollte es denn um Aufklärung gehen - Lösungen, als die Statuen zu stürzen, wie es zum Beispiel das Blog Moon of Alabama vorschlägt: Indem man aus dem Denkmal ein Mahnmal macht und eine alte Skulptur, die wahnsinnige Blutbäder verherrlicht, von einer neuen Skulptur konterkarieren lässt. So geschehen etwa bei Hrdlickas Gegendenkmal am Hamburger Dammtor zu dem 1936 am gleichen Ort eingeweihten 76er-Krieger-Denkmal. Das kann ein "Augenöffner" sein, der sich dem Entweder-Oder und Auslöschungsfantasien entzieht.
Kulturkampf und Verteilungskampf
Sehr viel schwieriger wird es bei dem anderen großen Fragenkomplex, der an den Strand der neuen Öffentlichkeiten getragen wird. Da geht es um Eigentumsfragen und Wiedergutmachungen, also ums Eingemachte. Der Kulturkampf, bei dem es um Deutungsmacht geht, ist das eine, der Verteilungskampf das andere.
Dazu hat nun der Ökonom Thomas Piketty, bekannt für seine Publikationen zur Ungleichheit, eine alte Forderung im neuen Kontext der Demonstration infolge des Todes von George Floyd auf den Sockel gehoben. In Le Monde plädiert Piketty für Wiedergutmachung. Dafür, dass sich die ehemaligen Kolonialstaaten auf eine neue Diskussion über den Ausgleich von jahrhundertelanger Ausbeutung Schwarzer einlassen. Das sei notwendig, um schlimme Folgen zu verhindern.
Nimmt man die Explosionsgefahr ernst, die in der wirtschaftlich und sozialen Ungleichheit steckt, so die Grundierung des Artikels, dann müsse man nochmal genauer hinschauen, worin der Reichtum in den industriellen Ländern wesentlich mitbegründet wurde, nämlich in der Sklaven- und Zwangsarbeit von Menschen, die man als zweitklassig und untergeordnet eingestuft hatte.
Das Grauenhafte kam längst ans Licht. Zu sehen etwa auf einem Foto aus Belgisch-Kongo, wo ein Mann auf die abgeschnittenen Hände seiner kleinen Tochter starrt, die von Peinigern im Dienst der belgischen Krone als Geisel verschleppt wurde, um deren Vater zur Arbeit zu zwingen. Dem belgischen König Baudouin fiel bei den Unabhängigkeitsfeierlichkeit des ehemaligen belgischen Kongos, Ende Juni 1960, nichts Besseres ein, als seinen Vorgänger, Leopold II, der für Zigtausende solcher qualvollen Lebensgeschichten verantwortlich ist, als "Genie" zu rühmen.
Dass man jetzt mit dessen Statue nicht besonders weihevoll verfährt, ist nur ein Miniausschnitt aus einer schwierigen und komplexen Folgegeschichte. Das Bild, das sein Nachfolger von den belgischen Wohltaten im Kongo gemalt hat, ist längst zerfallen. Wie wird es angesichts eines neuen Blicks auf die Geschichte neu zusammengesetzt und repariert? Das ist die Grundfrage Pikettys.
Reparationen und Vorgeschichten
Der französische Ökonom hat sich als Exempel nicht den Kongo herausgesucht, sondern Haiti. Weil man dort einem Prinzip folgte, das auch in anderen Ländern mit Sklavenhalter-Vergangenheit angewandt wurde: Entschädigungen wurden im Zuge der Abschaffung der Sklaverei den Besitzern großer Güter bezahlt, weil sie dadurch billige Arbeitskräfte verloren, nicht den Opfern dieser Tortur, die sich unter anderer Bezeichnung als Zwangsarbeit bis weithinein ins 20. Jahrhundert fortsetzte. Piketty schreibt davon, dass es in den französischen Kolonien noch bis 1950 Gesetze gab, die "Vagabundierende" zu Zwangsarbeit verpflichteten.
Die Entschädigungszahlungen an die Besitzer, so Piketty, stünden am Ursprung großer Reichtümer, die heute noch sichtbar sind. Als Großbritannien 1833 die Sklaverei abschaffte, seien auf heute umgerechnet etwa 120 Milliarden Euro an 4.000 Eigentümer ausbezahlt worden.
Die Arbeiter hingegen gingen leer aus. Die Ungerechtigkeit bekomme noch einen zusätzlichen scharfen Zacken, da im Fall der USA 1988 vom Kongress ein Gesetz verabschiedet wurde, das japanisch-amerikanischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg Entschädigungszahlungen zugestand, insgesamt in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar, eine solche Wiedergutmachung für Afro-Amerikaner, die Opfer der Segregation waren, aber bis heute ausblieb. Das habe einen starken Symbolwert, so Piketty.
Als extremen Fall der Ungerechtigkeit nennt Piketty den Fall Haiti. Frankreich hatte den unabhängigen Staat 1825 zur Zahlung einer riesigen Summe ("300 Prozent des damaligen Bruttoinlandprodukts") verpflichtet - als Entschädigung für die Abschaffung der Sklaverei. Andernfalls drohte man mit einer Invasion.
Am 7. April 2003 rechnete der haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide vor, dass es um eine Summe von "21.685.155.571,48 US-Dollar" ging und er verlangte dies von Frankreich zurück. Es gab eine hitzige Diskussion. Das Ergebnis fiel erwartungsgemäß aus: Frankreich bezahlte nicht.
Jetzt, so Piketty, sei es an der Zeit, diese und andere Diskussionen wieder aufzunehmen: "Wir müssen Vertrauen in die demokratische Diskussion setzen, eine andere Wahl haben wir nicht, um zu versuchen, gerechte Regelungen und Kriterien aufzustellen. Wenn wir die Diskussion verweigern, läuft das darauf hinaus, dass wir die Ungerechtigkeit zementieren."