Polen: Hungern für das Gemeinwohl

Die Ärzte im Hungerprotest. Bild: Jens Mattern

Seit Anfang Oktober demonstrieren Ärzte mit einem Hungerprotest gegen die Verhältnisse im polnischen Gesundheitswesen

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Eine ältere Dame mit markanter Hornbrille ist umringt von jungen Männern und Frauen in schwarzen T-Shirts. "Haltet durch!", ruft sie ihnen mit resoluter Stimme zu. "Aber überprüft immer eure Werte. Jeder Organismus reagiert anders!", so die Präsidentin der polnischen Kammer für Krankenschwestern und Hebammen, Zofia Malas. Seit dem 2. Oktober demonstrieren 20 bis 30 Assistenzärzte mit einem Hungerprotest in der Pädiatrie der Warschauer Universitätsklinik gegen die Verhältnisse im polnischen Gesundheitswesen.

Protestplakate, Kinderzeichnungen und Patientengrüße hängen an den Wänden im Untergeschoss des Klinikums. Die Mediziner, die von der Ärztegewerkschaft OZZL unterstützt werden, liegen auf Isomatten und Matratzen, wenn sie nicht gerade Solidaritätsbekundungen entgegen nehmen oder Interviews geben, bislang vor allem inländische.

"Wir erfahren große Unterstützung", so Piotr, ein Arzt im Praktikum aus Allenstein (Olsztyn), der seinen Nachnamen nicht nennen mag, aber darauf verweist, dass es den Ärzten "keinesfalls um das eigene Geld, sondern um das Gesamtwohl" gehe. Vor allem fordern die Mediziner ein Anheben der Ausgaben für das Gesundheitswesen von 4,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts auf 6,8 Prozent (wie von der WHO empfohlen) innerhalb von drei Jahren. Und zudem - der Protest sei strikt unpolitisch

Bild: Jens Mattern

Die Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) sieht das anders. Gewannen die Nationalkonservativen doch vor zwei Jahren die Wahl mit Sozialversprechen und einem allgemeinen "Wandel zum Guten". Nach einer Phase des Ignorierens gab es eine Kontaktaufnahme durch den Gesundheitsminister Konstanty Radziwill, der eine Anhebung auf 6 Prozent innerhalb von acht Jahren versprach. Die Mediziner lehnen dies als unzureichend ab.

Immerhin wurde aufgrund des Protestes eine Kommission im Sejm einberufen. Das staatliche Gesundheitswesen in Polen ist permanent unterfinanziert. Wartezeiten auf Spezialisten überschreiten dort zumeist drei Monate - Tendenz steigend. Besserverdienende bevorzugen darum private Ambulanzen.

Im Staatsfernsehen werden die Ärzte als verwöhnte Vertreter des Mittelstands angegriffen

Als Bessergestellte versuchen nun die Medien des Regierungslagers, ausgerechnet die jungen Mediziner an den Pranger zu stellen. Im Staatsfernsehen TVP werden sie als verwöhnte Vertreter des Mittelstands angegriffen, die "Kaviarbrötchen" essen und überzogene Milliardenforderungen stellen.

"Das ist Diskriminierung", sagt Anna Swiderska, die immer wieder an einen Pappbecher mit Saft nippt. Seit November arbeitet sie als Assistenzärztin, seit fünf Tagen hungert sie mit. Die Dreißigjährige "streikt" nicht, sondern sie nutzt die Urlaubszeit für den Protest, in ein paar Tagen muss sie wieder zurück in ein Krankenhaus in Lück (Elk). Ihr Rekord liegt dort bei 56 Stunden Arbeit ohne Pause. Durch Extra-Schichtdienst neben der regulären Arbeitszeit. "Wir müssen zusätzlich arbeiten, um finanziell über die Runden zu kommen." Dieses Jahr kippten bereits vier Mediziner in Polen wegen Überarbeitung tot um.

Anna Swiderska mit der Aufschrift Hungerprotest auf dem Shirt, in der Hand hält sie eine Solidaritätsbekundung der Anästhesisten. Bild: Jens Mattern

Die Entlohnung der Assistenzärzte, die bis zu sechs Jahre zum Facharzt brauchen, liegt bei maximal 3500 Zloty (823 Euro) brutto. Die Vereinigung der Assistenzärzte fordert jedoch etwas mehr als der Durchschnittslohn von derzeit 4500 Zloty.

Gerade jetzt würden viele ältere Ärzte abgehen, die Nachfolger müssten sich entscheiden, wohin es ginge. "Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, etwas zu ändern." meint Swiderska, die für ihren Beruf sehr motiviert ist - "Anderen zu helfen, gibt Dir eine große Befriedigung", so die Katholikin, die aber bemerkt, dass sich die Kirche bis auf den Klinikkaplan bislang nicht zu den Protesten geäußert hat.

Verstärkte Abwanderung droht

Die Kirche will es wohl mit der ihr nahestehenden PiS nicht verderben. Auf der anderen Seite scheinen Mitglieder der Regierung die Gefahr zu unterschätzen, sollten die jungen Mediziner mit ihrem Protest scheitern und in anderen Ländern arbeiten. Eine Abgeordnete der PiS brüllte kürzlich im Parlament: "Dann soll sie eben fahren!"

Tatsächlich kreist das Thema Verdienst in westeuropäischen Ländern beständig im Matratzenlager. "Ich habe gute Kenntnisse in Englisch und Französisch, mein Deutsch braucht wohl noch zwei Monate, um es aufzupolieren", berichtet Swiderska selbstbewusst, die später einmal als Familienärztin arbeiten und auch Zeit für eine eigene Familie haben möchte. Dafür stehen in Polen die Chancen schlecht. Während im EU-Durchschnitt 3,5 Mediziner auf tausend Einwohner fallen, hat das osteuropäische Land im Vergleich einen Mediziner weniger.

Der Direktion des Klinikums scheint es jedoch zu viele Ärzte im Haus zu geben, vor einer Woche hat sie Sorgen wegen "Seuchengefahr" geäußert. Darum mussten die Assistenzärzte die Anzahl der Hungernden auf 20 begrenzen und vom belebten Foyer des Krankenhauses in das Untergeschoss ziehen. Vielleicht müsse man bald das ganze Krankenhaus verlassen. Eine politische Konspiration?

"Wir haben alle Hungernden geprüft, es gibt keine Gefährdung", meint Tomasz. Der angehende Internist hat das weiße Unterstützer-T-Shirt an. Er kippte nach einer Woche Protestfasten um und isst seit gestern wieder, sterben wolle man hier nicht. Auch er hat Deutschland im Visier, falls die Politik stur bleibt. Vor ukrainischen Medizinern als Konkurrenten, wie Premierministerin Beata Szydlo angekündigt hatte, fürchte man sich nicht, diese würden ebenfalls nach Westen weiter ziehen.

Tomasz Karauda im weißen Shirt mit der Aufschrift "Ich unterstütze den Protest". Bild: Jens Mattern

Mittlerweile weitet sich der Protest aus. In Stettin (Szczecin), Krakau und anderen größeren Städten hungern die jungen Mediziner, immer mehr Verbände andere Berufe aus dem Gesundheitswesen erklären ihre Solidarität.

Der Konflikt droht zu einer großen Herausforderung der Nationalkonservativen zu geraten. Wenn es den jungen Medizinern gelingt zu vermitteln, wirklich für die Zukunft der polnischen Patienten zu kämpfen, und die Verantwortlichen in Warschau weiter auf Zeit spielen, wird die selbsternannte Gerechtigkeitspartei zu selbstgerecht ausschauen.

Radziwill, der innerhalb der PiS keinen so festen Stand haben soll, hat sich nun für einen Konfrontationskurs entschieden - die Assistenzärzte sollen in Zukunft statt eines Gehalts ein Stipendium erhalten. Dies müssten sie dann zurückzahlen, sollten sie Anstalten machen, ins Ausland zu fahren. Ein ähnliches Verfahren gibt es bereits in Ungarn, der Blaupause für den Demokratieumbau in Polen.