Polen im Protestlockdown: "Die Revolution ist eine Frau"
Der Protest gegen das Abtreibungsverbot in Polen hält an und wird zur Antiregierungsbewegung. Doch die Regierung hat die Kirche, den Sicherheitsapparat und vielleicht auch das Virus auf ihrer Seite
Mit einer Großdemonstration von etwa 100.000 Personen legten die Gegnerinnen und Gegner des Abtreibungsverbots am Freitagabend Warschaus Zentrum und Norden lahm. Der Protestzug verlief hauptsächlich friedlich, es gab Angriffe von Hooligans und Nationalisten, die auch das Gros der Festgenommenen ausmachten. Aufgerufen hatten dazu mehrere Frauenorganisationen, allen voran der "Streik der Frauen", geleitet von der Juristin Marta Lempart.
Der Protest richtet sich gegen das Urteil des Verfassungsgerichts vom 22. Oktober, das eine Abtreibung auch bei schwerer Fehlbildung des Fötus für verfassungswidrig erklärte. Abgeordnete der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) hatten diese Überprüfung beantragt, Druck übten die Katholische Kirche und rechtskatholische Laienorganisationen aus. Jetzt kann nur noch bei Inzest, einer Vergewaltigung und Lebensgefahr für die Schwangere ein Abort offiziell vorgenommen werden.
Mit dem Druck auf der Straße, der seit der Urteilsverkündung in ganz Polen nicht abreißt, geht das Regierungslager unterschiedlich um. So hatte Staatspräsident Andrzej Duda die Entscheidung anfangs begrüßt, äußerte sich jedoch angesichts der Demonstrationen am Freitag, dass viele "anständige Frauen durch das Urteil beunruhigt sind" und kündigte Veränderungen an.
So sollten Geburten mit lebensunfähigen oder toten Embryonen den Polinnen nicht zugemutet werden und sie nur zum Austragen eines Kindes mit Down-Syndrom gezwungen werden können. Auch sollen Frauen mit behinderten Kindern, die schon wochenlang aus Protest im Sejm campieren, mit mehr staatlichen Geldern geholfen werden. Mit liberaleren Abgeordneten der Regierung hat Duda hier schon Gespräche aufgenommen. Allerdings muss der Richterspruch erst einmal bis Montag schriftlich veröffentlicht werden.
Gleichzeitig wird auch Härte demonstriert. Der 71-jährige PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski und seit September Vizepremier rief seine Anhänger auf, die Kirche um "jeden Preis zu schützen", da es Messestörungen, Schmierereien und Farbbeutelwürfe gab. Die Proteste nannte er "nihilistisch", sie würden Polen als Nation samt seiner Geschichte zerstören wollen. Seiner Meinung nach seien die Demonstranten "geschult" worden. Im Sejm beschimpfte er die protestierenden weiblichen Abgeordneten als "russische Agenten". Die Staatsanwaltschaft droht den Organisatorinnen mit bis zu acht Jahren Haft.
Wenn auch die schnell arrangierten Umfragen mit Skepsis zu bewerten sind, so scheinen 59 Prozent der PiS-Anhänger das alte Abtreibungsgesetz zurück haben zu wollen. Hier war der Abort bei einer Fehlbildung legal. Über 70 Prozent der Polen lehnen das Urteil des Verfassungsgerichts ab. Es sind auch nicht alle protestierenden Frauen für ein uneingeschränktes Abtreibungsrecht, sondern für eine Rückkehr zur alten Regelung, die schon innerhalb der EU als eines der strengsten gilt (in Malta ist die Abtreibung gänzlich verboten).
Kulturkampf in Polen
Mittlerweile gehen die Proteste über das Thema Abtreibung hinaus - der Rücktritt der Regierung ist das Ziel, zumindest der Organisatoren. Marta Lempart und Vertreter anderer Organisationen haben am Sonntag ein Beratungskomitee zur Vorbereitung weiterer Schritte einberufen, um die Regierung unter Mateusz Morawiecki zum Abdanken zu zwingen - ganz nach dem Vorbild der aktuellen Demokratiebewegung in Belarus.
Der Streik der Frauen hat einen Forderungskatalog aufgestellt, in der auch freie Gerichte gefordert werden. Das Verfassungsgericht und Teile des Obersten Gerichts gelten nach einer Reform als Instrumente der Regierung. Auch vor dem staatlichen Sender TVP gab es in der Nacht zum Freitag Proteste. "Das ist die schlimmste Propaganda, die es gab, auch zu Zeiten meiner Eltern", meint Wojtek, einer der Protestierenden vor dem Sitz des Senders, auf die kommunistische Volksrepublik anspielend.
Im Gespräch mit den protestierenden Frauen kam neben der Wut auch viel Resignation an die Oberfläche. Die meisten glauben, dass mit dem Urteil des Verfassungsgerichts das letzte Wort gesprochen wurde und dass erst in drei Jahren mit der Parlamentswahl eine wirkliche Änderung greifen kann. Einige sind auch trotz Maske nicht von einem Foto begeistert, die Angst vor Konsequenzen sitzt tief.
Protest in Polen (7 Bilder)
Bild: Jens Mattern
Protest in Polen (7 Bilder)
"Schwadronen des Herrgotts"
Noch bleibt unklar, wer bei diesem Kulturkampf gewinnt. Die 41-jährige Juristin Marta Lempart lebt offen lesbisch und verlangt das freie Recht auf Abtreibung. Ihr Protestvorbild ist der Frauenstreik von Island - als 1975 rund 90 Prozent der Isländerinnen die Arbeit niederlegten - als Hausfrau oder im Beruf, um mehr Mitbestimmung zu erhalten. Doch ein solcher Rückhalt ist für das traditionelle Polen unrealistisch und Lempart wirkt dort nicht gerade als Identifikationsfigur. Dabei setzt das Gros der Demonstranten auf Vulgarismen - "F... die PiS" und "Verpisst euch" wurden zu den Parolen des Protests auf der lautstark anarchistische und linke Aktivisten aufsprangen.
Der Angriff auf die Kirchen, es gab Störungen der Messe, Graffiti, Farbbeutelwürfe, hat vielen Polen nicht gefallen, einige hat er mobilisiert: Mittlerweile haben sich Bürgerwehren gegen die Demonstrantinnen gebildet - die "Nationalwacht" der Rechtsextremen und Fußballfans, auf deren Konto bereits mehrfache Übergriffe gehen, aus der Gewerkschaft Solidarnosc entstehen derzeit die "Schwadronen des Herrgotts".
"Wir passen hier auf, dass nichts passiert, und zwar so lange wie es nötig ist", erklärte dem Autor dieser Zeilen ein Mann in Uniform der polnischen Armee. Michal bewachte die Treppen der Kirche des Heiligen Kreuzes in der Warschauer Altstadt. Schmierereien dulde er nicht, sonst sei er sei ganz unpolitisch, von Beruf Feuerwehrmann.
Am Freitag wurden die Kirchen im Zentrum dreifach bewacht. In erster Linie von den Nationalisten und Hooligans, dann von der Polizei und an vorderster Front von der Militärpolizei.
Sowohl Kirche wie Polizei werden eine wichtige Rolle in dieser Revolution gegen die konservative Regierung spielen. Der Sprecher des Episkopats beschied dem Staatspräsidenten recht barsch, dass es an dem Urteil nichts mehr zu diskutieren gebe. Die Teilnahme an den Protesten wurde als Sünde deklariert.
Hier wird wohl weiterhin eine Druckkulisse gegen die Rechtskonservativen aufgebaut, ja nicht einzuknicken, schließlich versprach Jaroslaw Kaczynski dem Klerus bereits 2014 eine Verschärfung der Rechtsprechung. Aus der Ecke der Rechtsklerikalen dröhnt die Sprache der Eskalation, es seien Satanisten, keine Polen mehr. Es wird spannend, ob sich die Bischöfe von dieser Aggression anstecken lassen.
Bemerkenswert ist, dass auch in ostpolnischen Kleinstädten die Frauen auf die Straßen gingen und sich so vor Priestern und konservativen Nachbarn als Gegnerinnen des Abtreibungsverbots outeten. Dies soll in der PiS für besondere Unruhe gesorgt haben.
Trotz Aufforderung des Innenministers Mariusz Kaminski, hart durchzugreifen, agierte die Polizei am Freitag moderat. Sie konnte durch die vielen Zivilpolizisten in Hooliganmontur Schlimmeres bei den Angriffen der Rechtsextremen verhindern. Der Sprecher der Polizei erklärte, dass die Proteste großenteils friedlich verlaufen seien. So hört sich keine blind regierungstreue Ordnungsmacht an.
Regierung instrumentalisiert Corona gegen die Protestierenden
Sicher ist - die Proteste haben die PiS und ihre Leitfigur Jaroslaw Kaczynski geschwächt. Der hatte sich verrechnet, als er glaubte, dass beim Anwachsen der Pandemie die Menschen nicht protestieren würden. Gleichzeitig verliert die Partei bei den Jüngeren ihre Gunst. Sie sollten durch ein Tierschutzgesetz beeindruckt werden, aber gerade sie gingen gegen die PiS auf die Straße.
Kaczynski verfügt jedoch nun auch formal über viel Macht: Als Vizepremier dirigiert er seit September ein extra für den Nationalkonservativen geschaffenes Kontrollamt der Ministerien für Justiz, Inneres und Verteidigung. Nun will er der Protestbewegung die Schuld an dem Hochschnellen der Fallzahlen zuweisen. Am Samstag wurde mit über 22.000 Neuinfektionen ein neuer Rekord verzeichnet. Kaczynski nannte die Protestierenden aus diesem Grunde bereits "Verbrecher".
Die sterbenden Alten, die trotz Corona-Infektion keinen Platz in den Spitälern mehr finden, für sie kann nun ein anderer Verantwortlicher ausgemacht werden als die Regierung, die keinen Plan für den Pandemie-Herbst hatte. Die entscheidende Frage ist, ob das Regierungslager noch als Einheit wirken kann, bislang werden die Teilnehmerinnen in den entsprechenden Medien weiterhin verteufelt.
Am Montag soll erneut der Berufsverkehr blockiert werden, am Mittwoch wollen die Polinnen wie in der vergangenen Woche die Arbeit niederlegen. Dann entscheidet sich, wer den längeren Atem hat. "Die Revolution ist eine Frau" heißt eine der Parolen.