Polit-Sumpf in der Ukraine

Seite 3: Die Parteien vor den Wahlen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am 20. Juni entschied das ukrainische Verfassungsgericht, dass Selenskyis Vorstoß für vorzeitige Neuwahlen verfassungskonform war. Zudem registrierte die Zentrale Wahlkommission seine Partei "Diener des Volkes", was zeitweise unsicher schien. Selenskyi besitzt bei der Bevölkerung weiterhin einen Vertrauensvorschuss.

Es gibt Anzeichen einer Aufbruchstimmung: Im September 2018 schauten 71% der Ukrainer pessimistisch in die Zukunft, nunmehr ist die Zahl auf 39% gesunken.

Dies schlägt sich in den Umfragewerten der "Diener" nieder. Sie dürften bei den Wahlen am 21. Juli einer absoluten Mehrheit nahekommen, könnten sie vielleicht sogar erringen. Fast die Hälfte der Parlamentssitze fällt jedoch Direktkandidaten in den Wahlkreisen zu, die meist dem örtlichen Establishment verpflichtet sind. Die 52% für die "Diener" in der letzten Umfrage könnten also trotzdem bedeuten, dass sie weniger als die Hälfte der Parlamentsabgeordneten stellen werden.

Die Selenskyj-Partei nimmt keine aktuellen oder ehemaligen Abgeordneten in ihre Reihen auf. Es ist nach wie vor schwer zu sagen, wofür sie wirklich steht, ebenso wie beim Präsidenten. Die "Diener" haben beispielsweise sowohl glühende Anhänger des "Maidan" in ihren Reihen als auch ausgesprochene Gegner des Umbruchs von 2014.

Die "russlandfreundliche" "Oppositionsplattform" wird mit 12% bis 14% den zweiten Platz einnehmen. Sie legte in den letzten Wochen zu. Selenskyi hat in den vergangenen zwei Monaten mit seinem (scheinbaren) Einschwenken auf die ukrainisch-nationalistische Linie Hoffnungen enttäuscht und Anhänger verloren.

Annähernd 55% der Bevölkerung treten für direkte Verhandlungen zwischen Kiew und der Führung der Rebellen ein, die Selenskyi bekanntlich abgelehnt hat. Etwa 70% wünschen direkte Verhandlungen mit Russland, um das Blutvergießen im Donbas zu beenden. Auch hierfür gab es keine Anzeichen. Selenskyis Angriffe gegenüber Moskau unterschieden sich letztlich nicht von denen Poroschenkos.

Der Konflikt im Donbas eskalierte vielmehr. Die ukrainische Armee soll die Moschee und das Kinderkrankenhaus in Donetsk beschossen haben. Als Selenskyis Pressesprecherin Julija Mendel dies kritisierte, wurde sie von Generalsstaatsanwalt Lutsenko zu einer Befragung einbestellt.

Der Fernsehkanal "112" kündigte an, den neuen Dokumentarfilm Oliver Stones über die Ukraine auszustrahlen, der bei ukrainischen Nationalisten auf Missfallen stößt. Er soll in diesen Tagen in 70 Ländern weltweit gezeigt werden. Der Generalstaatsanwalt warnte den Sender vor der Ausstrahlung. Am 13. Juli wurde "112" mit Granatwerfern beschossen. Menschen kamen nicht zu Schaden, aber das Studio wurde beschädigt und die Ausstrahlung abgesagt ("Wir müssen reden": Keine Chance für russisch-ukrainischen Dialog in der Ukraine).

Ukrainische Nationalisten zeigen eine hohe Gewaltbereitschaft und müssen kaum fürchten, hierfür zur Verantwortung gezogen zu werden. Ihre Taten werden weiterhin entweder gebilligt oder zumindest von Teilen der Staatsmacht gedeckt. Das hatten sich viele Wähler Selenskyis anders vorgestellt. Hunderttausende wandten sich der Oppositionsplattform zu.

Neben den "Dienern" und der "Oppositionsplattform" wird die "Europäische Solidarität" Poroschenkos die Fünfprozenthürde überwinden. Sie kommt bei Umfragen auf 7 bis 9%. Die Partei Julija Timoschenkos dürfte bis zu 7% erringen. Die meisten Umfragen sehen auch die erst im Mai 2019 gegründete Partei "Holos" im neuen Parlament. Sie ist ähnlich ukrainisch-national wie die "Europäische Solidarität", aber glaubwürdiger. Umfragen sehen sie im "russlandfreundlichen" Osten und Süden der Ukraine bei etwa 2%, im Westen bei über 13%. Im bisherigen Parlament waren Dutzende führende Protagonisten des Maidan vertreten. Sie werden es nahezu alle nicht mehr schaffen.

Hoffnungsvolle Anzeichen

Selenskyi und der Kreml ergingen sich wochenlang in wechselseitig unfreundlichen Akten. Diese Phase ist vorüber.

  • 2016 untersagte Russland den Transit ukrainischer Waren über sein Territorium. Hiergegen erhob Kiew Beschwerde vor dem Schiedsgericht der Welthandelsorganisation. Dieses erklärte die russische Maßnahme Anfang April 2019 für rechtmäßig. Gleichwohl unterzeichnete Präsident Putin am 24. Juni ein Dekret, das diesen Transit wieder zulässt.
  • Truppen der Rebellen und ukrainische Einheiten zogen sich Ende Juni von Stellungen bei Stanyzja Luhanska zurück. In den Wochen zuvor hatte es dort Kämpfe gegeben.
  • Selenskyi macht seine Ankündigung wahr, direkten Kontakt mit dem Kreml aufzunehmen. Er rief Putin am 11. Juli an. Die beiden Präsidenten sprachen insbesondere über einen Gefangenenaustausch. Selenskyi erklärte am 17. Juli, die westlichen Partner hätten ihm von einem Kontakt mit dem russischen Staatsoberhaupt abgeraten. "Wir haben unseren westlichen Partnern für ihre Unterstützung zu danken", so Selenskyi, "aber wir sollten unsere eigene Meinung haben."
  • Es ist denkbar, dass der Westen Selenskyi zu einer harten Haltung drängt, aber vielleicht sind seine Worte v.a. Wahlkampftaktik, um der "Oppositionsplattform" kurz vor der Wahl Stimmen abnehmen zu können. Immerhin haben sich Deutschland und Frankreich kürzlich dafür stark gemacht, dass Russland wieder das volle Stimmrecht im "Europarat" erhält. Und der US-Präsident traf sich auf dem G20-Gipfel mit Putin, obgleich die USA zuvor betont hatten, ohne eine Freilassung der bei Kertsch festgesetzten ukrainischen Marinesoldaten könne kein derartiges Treffen stattfinden. Amerika ist auf die Kooperation Russlands in mehreren weltpolitischen Fragen angewiesen.
  • Die Konfliktparteien einigten sich am 17. Juli unter OSZE-Vermittlung auf einen unbefristeten Waffenstillstand. Er soll am 21. Juli, also dem Wahlsonntag, in Kraft treten (Friedensversprechungen und rauer Alltag). Ähnliche Vereinbarungen hatte es zwar auch in der Vergangenheit gegeben, aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: Kiew und die Rebellen erklärten den Waffenstillstand erstmals in einer gemeinsamen Erklärung. Kiew erkennt die Führung der Rebellen somit zum ersten Mal als Verhandlungspartner an, wie von "Minsk" gefordert.
  • Am 18. Juli einigten sich Russland und die Ukraine auf einen Gefangenenaustausch, der 277 Menschen die Freiheit bringt. Der letzte fand im Dezember 2017 statt.

Die Aussichten

Die Bevölkerung fordert mit deutlicher Mehrheit ein Ende des Krieges im Donbas. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und der Kampf gegen die Korruption stehen auf der Wunschliste deutlich dahinter an zweiter bzw. dritter Stelle.

Die seit 2014 tonangebenden ukrainischen Nationalisten, zu denen auch der Außenminister gehört, lehnen die Vereinbarungen von Minsk ab, sie wollen auch keine Entspannung der Beziehungen mit Russland. Beides würde die Politik der Ukrainisierung beenden. Minsk bzw. eine Entspannung widerstrebt auch anderen Seilschaften: Sie brauchen einen köchelnden Konflikt und das Feindbild Russland, um von ihren Korruptionsnetzwerken ablenken.

Ein Frieden im Donbas ist der Dreh- und Angelpunkt, ob Selenskyi die Macht der Oligarchen brechen kann - falls er dies beabsichtigt … . Und ein innerer Umbau der Ukraine hat nur dann eine Chance, wenn der Westen auch Kiew zur Umsetzung von Minsk mahnt.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Inhalt geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.