Polizeischüsse auf 16-Jährigen: Fünf Beamte müssen vor Gericht

Die Polizei Dortmund soll nun besser im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen geschult werden, heißt es. Symbolbild: Joehawkins / CC-BY-SA-4.0

Anklage nach Einsatz in Dortmund: Offenbar schoss die Polizei nicht – wie bisher behauptet – aus "Notwehr" auf Mouhamed D.: Die Staatsanwaltschaft geht von Totschlag aus.

Nach gründlichen Ermittlungen, begleitet von einer regen öffentlichen Anteilnahme, gibt es nun einen neuen Zwischenstand im Fall Mouhamed D. - der 16-jährige Senegalese war im August vergangenen Jahres im Innenhof einer Dortmunder Jugendeinrichtung von Einsatzkräften der Dortmunder Polizei erschossen worden.

Der Todesschütze, ein 29-jähriger Polizeikommissar, war nach dem Tattag am 8. August 2022 vom Dienst suspendiert worden. Vier andere direkt am Hergang Beteiligte wurden innerhalb des Polizeipräsidiums versetzt. Jetzt, ein halbes Jahr später, wird es für die Kollegen ernst.

Wie die Staatsanwaltschaft Dortmund vergangene Woche bekanntgab, ist in dem "Strafverfahren wegen polizeilichen Schusswaffengebrauchs" Anklage erhoben worden. Die Anklage richtet sich gegen fünf Beteiligte.

Dem Polizeibeamten, der mit der Maschinenpistole die Schüsse auf den Jugendlichen abgegeben hat, wird Totschlag vorgeworfen, drei weiteren gefährliche Körperverletzung im Amt – darunter die Beamtin und der Beamte, die zuvor mit einem Distanzelektroimpulsgerät (Taser) auf den Jugendlichen geschossen haben und eine weitere Polizeibeamtin, die den Jugendlichen mit Reizstoff besprüht hat.

Wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung im Amt muss sich der polizeiliche Einsatzleiter verantworten, der den Einsatz des Reizstoffsprühgeräts angeordnet hat. Die übrigen Beteiligten hatten die Befehle auch verweigern können, ergänzen die Ruhrnachrichten interessanterweise unter Berufung auf Oberstaatsanwalt Carsten Dombert.

Der Tod von Mouhamed D. hatte ein breites politisches und gesellschaftliches Echo ausgelöst und hohe Wellen in den sozialen Medien geschlagen. Politiker und Polizeiführung gerieten unter Druck, in den Debatten ging es vor dem Hintergrund weiterer Vorfälle auch um "Öffentliche Wahrnehmung von Polizeigewalt" und das Vertrauen in die Institutionen.

Der WDR zitierte dazu auch Mouhameds Bruder Sidy, der sich über die Anklageerhebung erleichtert zeigte: "Das ist eine gute Nachricht für die ganze Familie, dass es Gerechtigkeit geben wird und sich die Polizisten vor Gericht werden verantworten müssen."

Was am Einsatztag geschah

Die Polizei war an jenem 8. August 2022 mit zwölf Einsatzkräften auf dem Hof der Jugendhilfe St. Elisabeth im Norden der Stadt. Zuvor hatte ein Betreuer der Einrichtung auf der Dortmunder Wache angerufen und um Hilfe nachgesucht. Der Asylsuchende Mouhamed richtete ein Messer gegen sich selbst, er galt als suizidgefährdet, zeigte beim Eintreffen der Polizei keine Anzeichen aggressiven Verhaltens, sondern saß teilnahmslos mit dem Rücken zu einer Kirchenmauer.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund ging daher schon kurz nach dem Vorfall von einer "statischen Lage" aus. Der Einsatz in der Dortmunder Nordstadt geriet dennoch zum Fiasko. Die Versuche, den jungen Senegalesen anzusprechen, misslangen. Kritische Stimmen sind sicher, eine "Bedrohungssituation" habe für die Einsatzkräfte bei der Ausgangslage gar nicht existiert, eine solche sei vielmehr selbst herbeigeführt oder im Nachhinein konstruiert worden.

Binnen weniger Sekunden geriet an diesem Tag die Situation außer Kontrolle. Der Todesschütze ("Sicherungsschütze"), gab aus nächster Nähe mehrere Schüsse aus einer Maschinenpistole ab. Sie waren tödlich, der getroffene Mouhamed verblutete. Der erste Schuss, der aus der Maschinenpistole (einer MP5 von Heckler & Koch) abgegeben wurde, erfolgte nur 0,717 Sekunden nach dem Tasereinsatz, wie die Auswertung einer Notruf-Tonspur ergab

Deeskalation? Fehlanzeige.

NRW-Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) hatte sich im Sommer vorschnell geäußert und den Hergang als Notwehrlage geschildert. Das sieht man heute, nach mehreren Monaten polizeilicher und staatsanwaltlicher Detailarbeit, anders. In den Fokus der Ermittlungen rückte u.a. die Bewertung der Auffinde- und Antreffsituation von Mouhamed.

Die Polizei bewertete die Lage von Anfang an offenkundig falsch. Daraufhin gab es erkennbar keine Deeskalationsstrategie: Eine mögliche Krisenintervention vor Ort blieb aus, zudem hätte ein französischsprechender Dolmetscher beteiligt werden müssen, so die Staatsanwaltschaft. Im Endeffekt hatte Mouhamed schlechte Chancen.

Seine Laufbewegung kurz vor der Schussabgabe – in welchem Tempo genau, konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden - stellten die Einsatzkräfte zwar als gefährlichen Angriff dar; dem folgt der Staatsanwalt aber mit seiner Einschätzung zuletzt nicht. Carsten Domberg hatte schon vor der Anklageerhebung die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes hervorgehoben. Der Kriminologe Tobias Singelnstein betont derweil, dass Anklagen gegen Polizisten die Ausnahme sind.

In Fällen tödlicher Polizeigewalt werde zwar standardmäßig ermittelt, so Singelnstein gegenüber dem WDR. Jedoch landeten "gerade mal zwei Prozent" der Verdachtsfälle von rechtswidriger Polizeigewalt vor Gericht:

Dass jetzt hier in dem Fall Anklage erhoben wird, ist durchaus ungewöhnlich. Das kommt relativ selten vor.


Kriminologe Tobias Singelnstein

Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange verweist auf die Unschuldsvermutung, bis die Gerichte gesprochen haben. Die fünf Angeklagten müssen sich vor dem Landgericht Dortmund verantworten; das muss entscheiden, ob es zu einer Hauptverhandlung kommt.

Hoher zivilgesellschaftlicher Druck

Seine Behörde, so Lange, habe einen speziellen Dienstunterricht eingeführt, in dem Einsatzkräfte im Umgang mit psychisch auffälligen Personen geschult und sensibilisiert würden. 2020 habe zudem ein Extremismusbeauftragter in der Polizei Dortmund seine Arbeit aufgenommen.

Die Frage ist, warum das in einem Einwanderungsland wie NRW nach so viel vertaner Zeit eine gute Nachricht sein soll. Bei allem Verständnis für den Job stellt sich die Frage, was getan werden muss, damit die Polizei - gerade in den kritischen Einsätzen - ein vertrauenswürdiger Part der Zivilgesellschaft wird und bleibt.

Die österreichischen Zeitung UZ, die den Fall Mouhamed aufgreift, berichtet u.a. über den "Solidaritätskreis Mouhamed". Die Sprecherin dieser Solidaritätsvereinigung, Sarah Claßmann, äußerte sich über die Anklage seitens der Staatsanwaltschaft, dies sei "eine logische Konsequenz aus den Fakten, die über Mouhameds Tod bekannt sind".

Eine offizielle Einschätzung von Mouhameds Tod als Tötungsdelikt, so das Blatt aus dem Nachbarland, sei ein "großer Schritt hinsichtlich einer öffentlich kritischen Wahrnehmung von tödlicher Polizeigewalt." Die Nebenklageanwältin Lisa Grüter, die Mouhameds Familie im Senegal vertritt, werde den Prozess weiter verfolgen. Nach Ansicht von Claßmanns Solidaritätskreis sei die jetzt erfolgte Anklageerhebung auch der Tatsache geschuldet, dass der zivilgesellschaftliche Druck hoch gewesen sei

Am 23. März wird der Fall Mouhamed Dramé Thema im WDR5 Stadtgespräch sein. Die Veranstaltung findet im Dortmunder Reinoldinum statt. Start 20:00 Uhr, der Eintritt ist frei.