Präsident Abbas ohne Plan
Schock und Unverständnis im Westjordanland über den Hamas-Sieg im Gazastreifen
Die Umkehrung der Machtverhältnisse im Gazastreifen hat den Alltag der meisten Palästinenser im Westjordanland wenig beeinflusst. Man ist geschockt und verfolgte am Fernseher, wie die Hamas die Fatah in nur fünf Tagen überrannte. Im Westjordanland, das von der Fatah dominiert wird, ist es dagegen vergleichsweise ruhig. In einigen Städten kam es zu Racheakten der Fatah gegen die Hamas. In Nablus wurde ein Hamas-Angehöriger hingerichtet. Dort wie in Jenin und Tulkarem wurden Büros und Geschäfte in Brand gesetzt.
In das Unverständnis mischt sich die Enttäuschung über Präsident Mahmud Abbas (Fatah). „Ich verstehe nicht, warum er sich so passiv verhält", so ein Demonstrant vor dem Amtssitz von Abbas in Ramallah am Mittwoch. Etwa 200 Menschen forderten lautstark „Fälle eine Entscheidung" von ihrem Präsidenten. „Aber er hat weder die in Gaza stationierten Nationalen Sicherheitskräfte eingeschaltet, noch sich an die Bevölkerung gewandt. In einer solchen Krisensituation muss ein Präsident den Leuten doch die Krise erklären und wie er sie lösen will." Aber Abbas sagte nichts. Nicht einmal das Dekret zur Auflösung der Regierung las er am Donnerstag persönlich vor.
Niederlage für die Fatah
Nun leidet die Fatah-Bewegung insgesamt durch die schnelle Niederlage in Gaza. Der stärkste palästinensische Sicherheitsdienst, die sogenannte Präventive Sicherheit (Inlandsgeheimdienst), und viele Fatah-Milizen, deren Angehörige teils Polizeibeamte sind, wurden von der zahlenmäßig unterlegenen Hamas ohne Schwierigkeiten besiegt. Die Kämpfer des jahrelang als „starker Mann Gazas" bezeichneten Muhammad Dahlan, die von den USA und anderen unterstützt und trainiert wurden, waren kein Gegner für die offenbar viel disziplinierteren Hamas-Militanten.
Dahlan und andere Fatah-Führer, die in den 90er Jahren die Verfolgung der Hamas organisierten, flüchteten aus Gaza. Auch sie verfolgten am Fernseher, wie die Hamas zuerst die Akten der Präventiven Sicherheit einsah, und dann das gesamte Gebäude sprengte. Aus Gaza wird berichtet, dass Hamas-Angehörige gezielt gegen ehemalige Folterer vorgingen. Sami Madhoun, der sich zuvor im Radio der Ermordung von mehreren Hamas-Angehörigen rühmte, wurde öffentlich hingerichtet.
Rache
Die Fatah war auf den Angriff der Hamas in Gaza offenbar nicht vorbereitet. Pläne für diesen Fall existierten nicht. Überhaupt scheinen alle Vorurteile über die Unorganisiertheit der Fatah zuzutreffen. Auch das willkürliche Vorgehen gegen die Hamas im Westjordanland scheint nicht von oben bestimmt. Einige Orte sind ruhig, in anderen brennt es.
„In Jenin ist die Fatah sehr stark und geht dort völlig rücksichtslos gegen Hamas-Anhänger vor", so Mustafa A. aus der Stadt im Norden. „Auch die Büros einer Wohltätigkeitsorganisation gingen in Flammen auf. Und das bringt die Leute nun gegen die Fatah auf." Das Problem sei, dass sich einige Teile der Fatah seit langem als über dem Gesetz stehend betrachten. „Die Milizen bestehen aus Gangstern, die jeder kennt. Und die machen jetzt, was sie wollen."
Ruf nach Reformen
Nachdem sich in Gaza nun der Fatah-Teil, der sich nicht am Konflikt mit der Hamas beteiligte, als die neue Führung der Bewegung präsentierte, will die Basis auch im Westjordanland die Veränderung. „In punkto Reformen liegen wir aber weit hinter unseren Kollegen aus Gaza zurück", so ein Angehöriger der Fatah-Jugendbewegung. „Jetzt wäre der Zeitpunkt, die Fehler der Vergangenheit einzugestehen und Veränderungen einzuleiten." Diese aber, besonders die personellen, stehen derzeit außer Frage. „Es ist im Prinzip nur eine Handvoll Leute, die in unserer Bewegung das Sagen haben. Diese Leute sind der Kreis um den Präsidenten. Sie kontrollieren die Finanzen, werden international unterstützt und unterliegen nicht den Mobilitätsbeschränkungen durch die Israelis." An öffentlicher Kritik mangelt es nicht. Im Fernsehstudio anwesende Fatah-Politiker wurden von einem Anrufer am Freitag als ein „Haufen Korrupte" bezeichnet.
Der von Abbas eingesetzte Interims-Ministerpräsident Salam Fajad (bis Donnerstag noch Finanzminister) kommt auch nicht gut an. Fajad ist politisch unabhängig und hat keinen Einfluss. Der Parlamentsabgeordnete Asmi Schuaibi von der Palästinensischen Demokratischen Union forderte deshalb die Einsetzung einer „Basis-Führung". Die palästinensischen Angelegenheiten könnten jetzt nur von Leuten in Ordnung gebracht werden, die lokal verankert sind und aus allen politischen Bewegungen und sozialen Gruppen kommen.
Peter Schäfer aus Ramallah