"Präzedenzfall für ein repressives Vorgehen gegen investigative Journalisten"
UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer über den Fall Assange und die Sabotage von UN-Mechanismen durch die USA, Großbritannien, Schweden und Ecuador
Herr Melzer, Sie haben im Mai dieses Jahres nach einem Haftbesuch bei dem australischen Journalisten Julian Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh bei London erklärt, der Häftling weise Spuren von Folter auf. Welche Spuren waren das?
Nils Melzer: Ich kann aus Gründen der Privatsphäre und der ärztlichen Schweigepflicht nicht alle Details dieses Berichts offenlegen, aber was ich sagen kann, ist, dass Symptome festzustellen waren, die für Folteropfer typisch sind, vor allem nach lange andauernder psychologischer Folter.
Wie äußert sich das?
Nils Melzer: Generell äußert sich das in einem permanenten, extrem erhöhten Stresslevel sowie schwerwiegenden Angstzuständen und Depressionen im pathologischen Bereich, was sich in einem posttraumatischen Stresssyndrom manifestiert. Das alles hatte bereits im vergangenen Mai einen messbaren neurologischen Effekt. Bei entsprechenden Tests wurde etwa festgestellt, dass der Betroffene gewisse kognitive Fähigkeiten verloren hat.
Es heißt, sie sind damals auch von zwei Ärzten begleitet worden?
Nils Melzer: Einer der beiden Mediziner ist ein Forensikexperte, Dr. Duarte Nuno Viera, der eine lange Erfahrung in der Untersuchung von Folteropfer hat und Chef der International Association of Forensic Sciences war. Mit dabei war auch Dr. Pau Pérez-Sales, ein spanischer Psychiater, der auch auf Folteropfer spezialisiert und Direktor eines Rehabilitationszentrums ist. Beide haben während Jahrzehnten mit Folteropfern gearbeitet.
Was ich selber in den Gesprächen mit Herrn Assange beobachten konnte, hat mich sehr an andere politische Häftlinge erinnert, die ich im Laufe meiner Karriere besucht habe. Er stellte mir unablässig Fragen, und sobald ich eine beantworten wollte, sprang er bereits zur nächsten Frage. Er konnte meine Antworten gar nicht mehr richtig verarbeiten. Der emotionale, mentale und neurologische Overload war offensichtlich. Er hatte in gewisser Weise die Bodenhaftung verloren.
Sind das nach Ihrer Einschätzung Folgen der Haft im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh oder des mehrjährigen Asyls in der ecuadorianischen Botschaft in London?
Nils Melzer: Die Ausweisung von Julian Assange aus der Botschaft hatte sich ja bereits über mehrere Monate hinweg abgezeichnet, und auch der Schock durch die Umstände seiner Verhaftung durch die Briten hat sicherlich zum Krankheitsbild beigetragen. Dennoch entwickeln sich aber solch schwerwiegende Symptome nicht in ein paar Wochen, sondern über mehrere Monate oder gar Jahre hinweg. Der Zustand, den wir feststellen konnten, war also primär eine Folge der zutiefst willkürlichen Umstände, in denen Herr Assange in der ecuadorianischen Botschaft hatte leben müssen. Ich hatte nach dem Besuch in Belmarsh in Briefen an die beteiligten Staaten geschrieben, dass sich der Zustand von Herrn Assange, wenn die Lage nicht stabilisiert wird, sehr schnell verschlechtern kann. Und das ist ja genau das, was später geschehen ist. Nur neun Tage nach meinem Besuch wurde er in die Krankenabteilung des Gefängnisses eingeliefert und offenbar unter Suizidbeobachtung gestellt.
Wie haben Sie Julian Assange damals wahrgenommen?
Nils Melzer: Ich habe ihn zwar als einen sehr intelligenten und rationalen Menschen erlebt, aber doch bereits ziemlich losgelöst von seiner Umgebung und der Fähigkeit, auf diese Umgebung Einfluss zu nehmen. Das habe ich häufig erlebt bei Menschen, die über längere Zeit machtlos einer zutiefst feindlich-willkürlichen Umgebung ausgesetzt waren, in der sie sich nicht einmal mehr auf den Schutz ihrer fundamentalen Rechte verlassen können.
"Dass er von den USA bedroht und angeklagt wird, ist weitab dessen, was rechtsstaatlich zulässig ist"
Herr Melzer, nun argumentieren Kritiker, dass sich Julian Assange selbst in diese Lage gebracht hat, indem er sich 2012 freiwillig in die Botschaft von Ecuador in London begeben hat, statt sich einem Justizverfahren in Schweden zu stellen.
Nils Melzer: Das Argument der Freiwilligkeit trifft doch auf jeden Flüchtling zu, der Schutz vor politischer Verfolgung sucht, auch wenn ihn seine Flucht in eine schwierige Situation bringt. Ich halte dies für ein völlig sinnloses Argument. Die Frage ist nicht, ob er sich selber in diese Situation gebracht hat, sondern ob er tatsächlich politisch verfolgt wurde und daher einen Grund hatte, Asyl zu beantragen. Wir müssen uns also fragen, ob Julian Assange bei einer Auslieferung an Schweden dem Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt worden wäre. Aus meiner Sicht kann man das nur bejahen, und zwar nicht in erster Linie in Schweden, sondern vor allem in den USA.
Wir wissen heute, dass die USA nur auf die Gelegenheit gewartet hat, die Auslieferung zu verlangen. Ich gehe davon aus, dass die Auslieferung nach Schweden nur als Zwischenschritt dienen sollte, weil von dort eine weitere Auslieferung in die USA aus verschiedenen rechtlichen und politischen Gründen einfacher gewesen wäre als von Großbritannien aus.
Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Nils Melzer: Dafür gibt es starke Indizien. Zunächst machte die Art und Weise, wie die schwedische Untersuchung gegen Julian Assange geführt wurde, überhaupt keinen Sinn, wenn es wirklich darum gegangen wäre, die angeblichen Sexualdelikte aufzuklären. Entgegen gängiger Praxis in anderen Fällen und trotz eines entsprechenden Rechtshilfeabkommens mit Großbritannien verweigerte Schweden beispielsweise fünf Jahre lang jede Vernehmung von Julian Assange in London. Er bot sogar wiederholt an, für das Verfahren nach Schweden zu kommen, verlangte im Gegenzug aber eine Zusicherung, dass er von dort nicht an die USA weiter ausgeliefert würde. Auch dies verweigerte Schweden jedoch ohne jeden vernünftigen Grund, obwohl dies unweigerlich zur Verjährung der Vorwürfe einer Klägerin führte.
Das Hauptziel der Schweden war ganz offensichtlich nicht die Aufklärung eines Tatverdachtes, sondern die physische Überstellung von Julian Assange nach Schweden, was wiederum nur mit Blick auf die bislang geheimen Auslieferungs-interessen der USA Sinn macht. Dass im Hintergrund Absprachen getroffen wurden zeigt auch, dass die USA den Briten bereits eine Stunde nach der Verhaftung von Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft ein formelles Auslieferungsgesuch übermittelten. Dies wäre ohne vorherige Absprachen mit Ecuador und Großbritannien so zeitnah gar nicht möglich gewesen.
Die zentrale Frage ist nun: Würde eine Auslieferung an die USA Julian Assange schweren Menschenrechtsverletzungen aussetzen? Auch das kann man nur bejahen. Das Gerichtsverfahren in den USA würde in Alexandria, Virginia mit einer Jury stattfinden, die sich überwiegend aus Angestellten der Nachrichtendienst- und Verteidigungsbranche zusammensetzt. Dies und andere Aspekte weisen darauf hin, dass ein Verfahren nicht unabhängig von den schweren Vorurteilen wäre, die innerhalb des US-Behördenapparats gegen Assange bestehen. Von dort aus sind ja schon schwerste Drohungen bis hin zu Mordaufrufen ausgesprochen worden.
Zuvor ist schon die Anklage zu kritisieren, die auf Spionage lautet. Er hat ja nichts gehackt, er hat nichts gestohlen und er hatte den USA gegenüber keine Schweige- oder Treuepflicht. Dass er ungeachtet dessen von den USA bedroht und angeklagt wird, ist weitab dessen, was rechtsstaatlich zulässig ist.
Und dann kennen wir auch die Haftbedingungen in diesen Hochsicherheitsgefängnissen in den USA, den sogenannten Supermax Facilities, die auf Anweisung des Generalstaatsanwalts bezüglich gewisser Häftlinge sogenannte besondere administrative Maßnahmen vornehmen können, welche eindeutig gegen das Verbot grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung verstoßen. Das ist übrigens nicht nur meine persönliche Meinung, sondern das haben auch alle Vorgänger in meinem UN-Mandat so gesehen.
Die Antifolterkonvention verpflichtet alle Staaten, umgehend eine unparteiische Untersuchung durchzuführen, sobald der Verdacht auf eine Folterhandlung besteht
Herr Melzer, Sie haben zum Fall Assange eine Reihe von offiziellen Briefen geschrieben und Sie haben diese Dokumente unlängst auch noch auf Twitter veröffentlicht. Wie waren denn die Reaktionen aus Großbritannien, aber auch aus den übrigen beteiligten Staaten, Ecuador, Schweden und USA?
Nils Melzer: Ecuador, Schweden und USA haben zumindest noch innerhalb der gesetzten Frist von 60 Tagen zurückgeschrieben, wenn auch nicht zufriedenstellend. Alle drei Staaten haben jede Kritik zurückgewiesen. Die schwedische Regierung sagte, dass sie meine Fragen zu mutmaßlichen Verfahrensverletzungen der Justizbehörden nicht beantworten könne, dass diese in Schweden Unabhängigkeit genießen. Sie wollten sich ganz klar nicht auf meine Fragen einlassen und haben auch keine von ihnen beantwortet.
Die Briten haben sich mit ihrer Antwort sogar mehr als vier Monate Zeit gelassen. Und das, obwohl sie Julian Assange in Haft haben und für die dringend geforderten Maßnahmen zu seinem Schutz verantwortlich wären. Die britischen Behörden haben in einem einseitigen Brief geantwortet, in welchem sie ohne jede Untersuchungshandlung oder Beweismittel alle Foltervorwürfe kurzum ablehnten und behaupteten, die britische Justiz handle im Fall Assange vollkommen unabhängig und unparteiisch im Einklang mit englischem Recht. Also auch dort keine Bereitschaft, sich auf einen Dialog einzulassen.
Die britischen Behörden haben keine weiteren Maßnahmen getroffen, außer den Gefangenen in die Health Care Unit zu verlegen. Die Justizwillkür hält aber an, etwa durch die Weigerung, ihm Zugang zu seinen Verfahrensakten zu gewähren, damit er seine eigene Verteidigung vorbereiten kann. Da werden fortlaufend fundamentalste Verfahrensrechte verletzt, ohne dass die Behörden korrigierend eingreifen würden.
Der damalige britische Außenminister Jeremy Hunt hat Sie Ende Mai vergangenen Jahres in einem Tweet heftig kritisiert.
Nils Melzer: Er warf mir vor, ich mischte mich in die Gerichtsverfahren seines Landes ein und solle das unterlassen. Assange, so Hunt damals, habe die Botschaft Ecuadors ja jederzeit freiwillig verlassen können. Genauso könnte man ja aber bei jedem politischen Flüchtling sagen, er könne ja jederzeit freiwillig zurückkehren in das Land, das ihn verfolgt. Dieses Argument ist einfach absurd und realitätsfremd.
Wie hätten Großbritannien und die anderen involvierten Staaten denn laut Antifolterkonvention reagieren müssen?
Nils Melzer: Die Antifolterkonvention verpflichtet alle Staaten, umgehend eine unparteiische Untersuchung durchzuführen, sobald ein hinreichender Grund für die Annahme besteht, dass in einem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiet eine Folterhandlung begangen wurde. Das heißt nicht, dass das bewiesen sein muss. Dann bräuchte es ja keine Untersuchung mehr. Aber wenn ein UN-Sonderberichterstatter mit zwei Ärzten einen Häftling besucht und zu dem Schluss kommt, er sei gefoltert worden - wenn das nicht ein hinreichender Grund ist, dann weiß ich nicht, was ein hinreichender Grund sein könnte.
Das ist nach der Antifolterkonvention, nicht aufgrund meines Mandats, ein Auslöser dafür, dass die Verdachtsmomente unabhängig und unmittelbar untersucht werden müssen. Wenn in einer solchen Untersuchung dann eine Verletzung der Konvention festgestellt wird, dann muss eine Strafverfolgung stattfinden, und das Folteropfer muss Rehabilitierung und Entschädigung erhalten. Dazu sind aufgrund der Ergebnisse meiner Untersuchung vom 9. Mai 2019 alle vier beteiligten Staaten verpflichtet.
Enttäuscht vom deutschen Außenministerium
Nun sind sie in Berlin Ende November mit Vertretern des Auswärtigen Amtes zusammengekommen. Wie waren denn die Reaktionen der deutschen Diplomaten, wie sind Ihre Berichte dort aufgenommen worden?
Nils Melzer: Das war, muss ich sagen, etwas enttäuschend. Da das Auswärtige Amt eine Besprechung zum Fall Assange gewünscht hatte, erwartete ich, dass sie zumindest meine wichtigsten Schreiben zu dem Fall gelesen hätten. Das sind ja immerhin offizielle UN-Dokumente, die werden auch im UN-Menschenrechtsrat im sogenannten Communications Report offiziell übermittelt. Doch die Vertreter des Auswärtigen Amtes waren völlig unvorbereitet.
Sie hatten sich mit meinen Stellungnahmen und meiner Analyse zu dem Fall überhaupt nicht befasst und hatten einen Kenntnisstand, der nicht über den eines Normalbürgers hinausging. Sie kannten meine Briefe überhaupt nicht. Ich hatte eher das Gefühl, dass die Besprechung dazu dienen sollte, mein Engagement in diesem Fall ganz grundsätzlich zu hinterfragen. Angesichts der Unabhängigkeit meines Mandats wurde das höflich in Frageform gekleidet. Es war aber schon eindeutig, dass sie mit meiner Sicht der Dinge nicht einverstanden waren.
Wie haben Sie auf diese Gesprächssituation reagiert?
Nils Melzer: Ich habe meinen Gesprächspartnern im Auswärtigen Amt daraufhin zu erklären versucht, dass es nicht nur um die Person Assange gehe, dass er nicht wichtiger sei als alle anderen Millionen Folteropfer auf der Welt. Aber dass der Fall ein Präzedenzfall für ein repressives Vorgehen gegen investigative Journalisten ist, die man notfalls auch mit politischer Verfolgung und Folter zum Schweigen zu bringen versucht. Und dass die schwersten Menschenrechtsverletzungen, die von Assange und WikiLeaks aufgedeckt wurden, einschließlich systematischer Folter, ungesühnt geblieben sind.
Aus meiner Sicht ist es durchaus im Kernbereich meines Mandats, öffentlich zu protestieren, wenn enttarnte Kriegsverbrecher straflos bleiben, während die Whistleblower und Journalisten für die Enthüllung solcher Verbrechen drakonisch bestraft werden.
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