Pressefreiheit in der Türkei weiter eingeschränkt
Generalamnestie für Menschenrechtsverletzungen von Militärs geplant
Präsident Erdogan akzeptiert die Entscheidung des Verfassungsgerichtes zur Freilassung der Cumhuriyet-Journalisten Dündar und Gül nicht. Der Fernsehsender IMC-TV wurde gesperrt. Die Verfolgung von Erdogan-Kritikern reicht mittlerweile bis in die AKP hinein. Ein neues Gesetz soll nun auch den Militärs Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen im "Antiterrorkampf" gewähren.
Während am Freitag, den 26.2.2016, die Freilassung des Chefredakteurs der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und des Hauptstadt-Büroleiters, Erdem Gül gefeiert wurde, beantragte die Staatsanwaltschaft von Ankara, dass der regierungskritische Fernsehender IMC-TV nicht mehr senden darf. Mitten in einem Interview mit den aus der Untersuchungshaft entlassenen Journalisten wurde der Sender vom Netz genommen. Damit ist der Sender nur noch über Online-Stream zu empfangen.
IMC-TV hatte unter anderem die tödlichen Schüsse von Polizei und Militär auf Zivilisten in Cizre dokumentiert. Die Aufnahme wurde unter anderem in einem Monitor-Beitrag über den Krieg in der Türkei auch in Deutschland ausgestrahlt.
Den beiden Journalisten der Cumhuriyet wurde Geheimnisverrat, Spionage und Verbrechen gegen die Regierung vorgeworfen. Darauf steht lebenslange Haft. Das Verbrechen? Sie berichteten über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an den IS und legten Belege vor. Das türkische Verfassungsgericht hat nun die Entlassung aus der Untersuchungshaft verfügt (Türkische Regierung gefährdet Feuerpause).
Die Klage wurde aber nicht fallengelassen, der Prozess gegen Dündar und Gül wird am 25. März stattfinden. Die Begründung des Verfassungsgerichts für die Freilassung: die Inhaftierung stelle einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit und verletze das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit.
Präsident Erdogan schäumte ob der Entscheidung des Verfassungsgerichtes. Er will diese Entscheidung nicht akzeptieren. Am Sonntag erklärte er, er werde weder der Entscheidung Folge leisten, noch habe er Respekt vor ihr.
Nach meiner Überzeugung kann es keine grenzenlose Freiheit der Medien geben, das gibt es nirgendwo auf der Welt.
Was es konkret zu bedeuten hat, dass Erdogan Gerichtsentscheidungen nicht akzeptiert, bleibt abzuwarten. Beweise über Menschenrechtsverletzungen der türkischen Polizei und der Militärs, oder Belege, die den Vorwurf der Zusammenarbeit mit dem IS oder die Unterstützung der Dschihadisten erhärten, führen zur Beschneidung der Pressefreiheit.
Das kann mitunter tödlich enden: So wurde jetzt bekannt, dass der Chef vom Dienst der kurdischen Tageszeitung Azadiya Welat, Rohat Aktas unter den 177 Toten des Massakers an Zivilisten in Cizre ist. Aktas war seit Mitte Dezember 2015 in Cizre und berichtete von dort über die Situation.
Seit dem 23. Januar 2016 hatte die Redaktion keinen Kontakt mehr zu ihm. In der Zeit-Online berichtet die renommierte Journalistin Pinar Ögünc über die Behinderung der Pressefreiheit in der Türkei, speziell im Südosten. Darin beschreibt sie auch die Situation der traditionsreichen kurdischen Zeitung Azadiya Welat und was Journalisten in den kurdischen Gebieten widerfahren kann.
Säuberung der AKP von Kritikern
Aber nicht nur Journalisten, Wissenschaftler, Oppositionelle sind Repressalien ausgesetzt. Mittlerweile entledigt sich Erdogan auch der Kritiker in den eigenen Reihen. Die AKP hat nun damit begonnen, auch ihre eigene Geschichte von in Ungnade gefallenen Gründungsmitgliedern zu säubern. Auf ihrer Internetseite hat sie bekannte Gründungsmitglieder wie Abdullah Gül, den früheren Premierminister, der danach den Außenminister-Posten bekleidete und sieben Jahre lang Staatspräsident war, entfernt.
Auch der AKP-Politiker, vormals stellvertretender Premierminister und Regierungssprecher, Bülent Arinc, und der damalige Innenminister Idris Naim Sahin wurden aus der Ahnengalerie entfernt. Insgesamt wurden 13 Gründungsmitglieder gestrichen. Warum? Weil sie es gewagt hatten, Erdogans Politik zu kritisieren?
Im Januar wurde gar ein Parteiausschlussverfahren gegen den ehemaligen Außenminister Yasar Yakis in die Wege geleitet. Er hatte den Fehler gemacht, sich in der Tageszeitung Zaman kritisch über die Außenpolitik zu Syrien und zum Nahen Osten zu äußern.
Als Reaktion auf diese Säuberungsaktionen trafen sich Anfang des Monats mehrere namhafte AKP-Leute in der Wohnung von Bülent Arinc. Darunter waren Sadullah Ergin (ehemaliger Justizminister), Nihat Ergün (Industrie und Technologie), Hüseyin Çelik (Bildung, Sprecher der Regierungspartei AKP), Abdullah Gül und Suat Kiliç (Sport, Kultur, einst Fraktionsvorsitzender der AKP). Sie berieten, wie sie auf die Säuberungsaktionen reagieren sollten. Der Unmut an Erdogans Alleinherrschaftsanspruch, den Säuberungsaktionen bei Polizei und Justiz, den Korruptionsaffären führender AKP-Politiker - dies alles führte zu einer Entfremdung vieler AKPler.
Es mehren sich auch kritische Stimmen in Bezug auf die Friedensgespräche mit der PKK. Es scheint, als ob nicht alle in der AKP hinter Erdogan stehen, was die Außenpolitik und die Kurdenfrage anbetrifft.
Neues Gesetz droht Straflosigkeit von Übergriffen des Militärs zu vertiefen
Die Eskalation der Angriffe der türkischen Polizei und des Militärs auf kurdische Städte im Osten der Türkei haben laut der Menschenrechtsorganisationen TIHV und IHD zu einer massiven Häufung der Menschenrechtsverletzungen geführt. Angriffe auf das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Folterverbot werden täglich gemeldet.
Schon Anfang Januar war ein internes Dokument des türkischen Militärs aufgetaucht, in dem die Soldaten darauf hingewiesen werden, dass sie sich nicht vom Schusswaffengebrauch durch rechtliche Überlegungen abhalten lassen sollten, ansonsten würden harte Konsequenzen drohen. Weiterhin wurde zugesichert, dass eine staatliche Verfolgung ausbleiben werde (Schießbefehl für die türkische Armee).
Der Abgeordnete der linken Oppositionspartei HDP, Ferhat Encü stellte am 5. Januar eine parlamentarische Anfrage zu den Konsequenzen und der rechtlichen Grundlage dieser Anordnung. Ein von der AKP Regierung eingebrachter Gesetzesentwurf scheint diese Anordnung nun in rechtliche Form zu gießen: Im Fall von der Beschuldigung von "allen mit dem Antiterrorkampf befassten Mitgliedern der Streitkräfte der Türkei" wegen Misshandlung, Überschreitung der Befugnis des Waffengebrauchs, Folter und Ähnlichem dürfe nur eine Verurteilung mit Erlaubnis des Ministerpräsidenten und des Verteidigungsministeriums erfolgen.
Dies geschieht vor dem Hintergrund einer weitgehenden Straflosigkeit von Tätern in Uniform. Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Muarrem Erbey, richtete im Dezember letzten Jahres scharfe Anklagen1 gegen die türkische Polizei:
Früher wurden die Menschen heimlich umgebracht, heute werden sie auf offener Straße erschossen. Die Situation heute ist sogar gefährlicher als in den 1990er Jahren. Damals geschah das im Geheimen, heute passiert es in der Öffentlichkeit vor den Augen der Familien, und die Täter machen sich nicht einmal die Mühe wegzulaufen, weil sie sich auf die Straflosigkeit verlassen können. Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die an Kundgebungen teilnehmen, werden sofort festgenommen, ihrer Ämter enthoben, aber die Polizisten, die meinen Freund und Anwaltskollegen Tahir Elci letzte Woche ermordet haben, wurden weder suspendiert noch festgenommen noch verhaftet. Sie wurden nur als Zeugen vorgeladen.
Es steht zu befürchten, dass vor dem Hintergrund einer verbrieften Straflosigkeit die Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des "Antiterrorkampfs" weiter zunehmen und das Recht an einen Bürgerkrieg angepasst wird.