Prigoschin-Angriff auf Putin-Elite: Hat der russische Nachfolgekampf begonnen?
Seite 2: Enormes Risiko: Will Prigoschin russischer Präsident werden?
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Anders als viele Befürworter von Nawalny und der "Demokratisierung" im Allgemeinen scheint er sich darüber klar zu sein, dass man für das Amt des russischen Präsidenten mit russischer und nicht mit amerikanischer Unterstützung kandidieren muss.
Damit kopiert Prigoschin in gewisser Weise die Herangehensweise von Mahmud Ahmadinedschad bei seiner erfolgreichen Präsidentschaftskandidatur im Iran 2005, als dieser auf der Grundlage von nationalistischem Populismus und mit Unterstützung von Militärveteranen aus dem Iran-Irak-Krieg – die das Gefühl hatten, dass ihre Opfer nie richtig gewürdigt worden waren – gegen die Korruption der Eliten ankämpfte.
Bei all dem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Prigoschin möglicherweise versucht, die Nachfolge Putins als Präsident anzutreten. Er geht damit ein enormes Risiko ein, denn Putin könnte sich dafür entscheiden, Prigoschin loszuwerden. Warum geht er dieses Risiko ein?
Ein Grund ist wahrscheinlich die Wut Prigoschins und seiner Soldaten über die Art und Weise, mit der ihr Leben durch die Inkompetenz, den Neid und die Wagner-Feindlichkeit der Leitung des Verteidigungsministeriums und des Oberkommandos aufs Spiel gesetzt wurde. Wobei sie vielleicht sogar absichtlich in dem blutigen Zermürbungskampf für Bachmut geopfert wurden, um sie als Streitkräfte zu schwächen.
Es ist kaum vorstellbar, dass Prigoschin die Bibel liest. Aber er könnte dort Samuel 2,11 nachschlagen: "Ihr sollt Urija, den Hethiter, an die Spitze des schwersten Kampfs stellen, und Ihr sollt Euch von ihm zurückziehen, damit er geschlagen wird und stirbt."
Es könnte aber auch sein, dass die internen Probleme des Putin-Regimes nach mehr als einem Jahr des Scheiterns in der Ukraine viel tiefer liegen, als sie an der Oberfläche erscheinen. Vielleicht erwägt Putin sogar, bei den für März 2024 angesetzten Präsidentschaftswahlen nicht zu kandidieren und (wie Jelzin, als er das Amt 1999 an Putin übergab) zugunsten eines gewählten Nachfolgers zurückzutreten.
Sollte das der Fall sein, wäre Prigoschin angesichts der tiefen und offenen Feindseligkeit, die sich zwischen ihm und anderen Mitgliedern von Putins Umfeld entwickelt hat, in Todesgefahr, sollte Putin die Präsidentschaft an Schoigu oder Patruschew übergeben.
Wie Richard III. nach dem Tod seines Bruders König Edward könnte Prigoschin meinen, dass er keine andere Wahl habe, als zuerst zuzuschlagen, indem er so viel Unterstützung in der Bevölkerung wie möglich sammelt und dabei an den weitverbreiteten Unmut der Öffentlichkeit über die offizielle Korruption und die wachsende Unzufriedenheit über die Situation in der Ukraine appelliert (eine Unzufriedenheit, die keine Kapitulation will, aber zutiefst unzufrieden ist mit der Art und Weise, wie der Krieg geführt wird).
Wenn diese Analyse richtig ist, könnte Russland auf ernsthafte Turbulenzen zusteuern. Während viele im Westen eine solche Entwicklung begrüßen würden, sollten wir uns auch der schwerwiegenden Risiken und Gefahren bewusst sein, die mit dem Zerfall des russischen Staates verbunden wären.
Es würde nicht nur immense Gefahren für die Welt mit sich bringen – einschließlich des Verlusts der Kontrolle über die russischen Atomwaffen und einer neuen Flüchtlingskrise –, sondern auch China mit Sicherheit dazu bringen, einzugreifen, um den Staat zusammenzuhalten. Wenn ein teilweiser Zusammenbruch Russlands dazu führen würde, dass China an die östlichen Grenzen Europas stößt, wäre das kaum zum Vorteil des Westens.
Und wenn die Wahl des Nachfolgers von Putin tatsächlich zwischen Prigoschin und Patruschew ausgefochten werden sollte, wäre dann einer von beiden eine Verbesserung gegenüber Putin? Ein alter russischer Witz über den Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten sollte uns daran erinnern, dass die Dinge in Russland, so schlecht sie auch sind, immer noch schlimmer werden können.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA, als Direktor des Open Source Center der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Sein Buch "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" warnt davor, wie die Vereinigten Staaten und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation stolpern könnten. Beebe war zudem Vizepräsident und Studiendirektor am Center for the National Interest.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).