Privacy: Kein Ende in Sicht

Die "Überwachungswissenschaften" sind neu auf dem akademischen Markt, das passende Journal gibt es gleich dazu: "Surveillance & Society"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Auf das "und" kommt es an: das frisch gelaunchte akademische Online-Journal Surveillance & Society will nicht über die Überwachungsgesellschaft klagen, sondern differenzierte Analyse betreiben. "Vieles an Überwachung geschieht, weil die Menschen in der Welt der Moderne eine 'private' Existenz bevorzugen, was wiederum die Entwicklung von Authentifizierungssystemen für Aktivitäten in einer 'öffentlichen' Welt nötig macht", schreibt der kanadische Soziologe und Mitherausgeber des neuen Magazins in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe. "Aus einem Privatfahrzeug heraus einem Polizeibeamten seinen Führerschein zu zeigen, demonstriert diesen Punkt gut."

"Surveillance and Society" ist ein interdisziplinäres, auf Peer-Review basierendes Journal. Neben den jeweils aktuellen Ausgaben des Magazins mit Texten (im PDF-Format) und, so ist es vorgesehen, mit Fotos und Videoarbeiten, wird es auf der Webseite eine kommentierte Link-Liste zu Forschungsprojekten, Kampagnen und Vereinigungen geben, eine "Encyclopedia of Surveillance" und ein Diskussionsforum.

Initiiert wurde das Projekt größten Teils von britischen und kanadischen Sozialwissenschaftlern; aber auch Amerikaner und zwei Deutsche (Eric Toepfer vom Urban Eye Project der TU Berlin und Detlef Nogalla vom MPI für ausländisches und internationales Strafrecht) sind im Kreis der Advisory Editors mit dabei. Die Anschubfinanzierung, dies sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, kommt vom Humanities Research und dem Faculty of Law Environment and Scoial Sciences Innovations Fund der University of Newcastle.

Aus Sicht von Soziologen, Politikwissenschaftlern, Historikern und Philosophen soll in "Surveillance & Society" aus kulturvergleichender und geschichtlicher Perspektive der Frage nachgegangen werden, welche Gültigkeit die Überwachungsszenarien George Orwells oder Franz Kafkas in einer Welt haben, in der Überwachung nicht mehr vornehmlich visuell erfolgt, sondern vor allem unsichtbaren Informationsflüssen- und strömen gilt und ebenso auf Populationen wie auf Personen ausgerichtet ist.

Was ist neu an der Neuen Überwachung?

Die erste Ausgabe des Magazins verdeutlicht ganz gut, auf welchem Feld sich die neu erfundene Forschungsrichtung der "Surveillance Studies" künftig bewegen könnte. Gary T. Marx zum Beispiel stellt ganz grundsätzlich die Frage, was eigentlich das Neue an der Neuen Überwachung ist - und wartet mit einer Tabelle von 28 Kategorien von "Überwachungsdimensionen" auf. Bezeichnend für die Stoßrichtung von "Surveillance & Society" ist nicht nur das Bestreben nach empirischer Fundierung und systematischer Genauigkeit, sondern auch die zögerliche und differenzierende Haltung im Urteil, die Skepsis gegenüber den Propheten des "Endes der Privatheit".

Am Ende seiner kurzen Analyse der Geschichte der Telekommunikation, in der er die Techniken der Verschlüsselung und der akustischen Versiegelung auf der einen Seite und die des Mit- und Abhörens auf der anderen gegeneinander aufwiegt, mag Gary Marx zu keiner "einfachen empirischen Konklusion" gelangen, ob die Kontrolle persönlicher Information nun zu- oder abgenommen hat - ganz abgesehen von den Schwierigkeiten der moralischen Einschätzung des Sachverhalts.

Überhaupt scheint eine Vorliebe für die Ambivalenz von Überwachungsphänomenen bei den Machern von "Society & Surveillance" verbreitet zu sein. In mehr oder weniger expliziter Anlehnung an Michel Foucault, dem auch das die dritte Ausgabe im Frühjahr 2003 gewidmet sein wird, und dessen Studie "Überwachung und Strafe", wird immer wieder das persönlichkeitskonstituierende Moment von Techniken der Kontrolle hervorgehoben. So verwendet Gary Marx viel Mühe darauf, den Begriff der "Surveillance", der "Aufsicht", wie man eigentlich im Deutschen sagen sollte, wenn man die visuellen Konnotationen beibehalten möchte, auszudehnen auf Phänomene der Selbstbeobachtung und -überwachung. Somit rücken auch Phänomene wie Schwangerschafts- und Alkoholtests für den Hausgebrauch in den Fokus des Überwachungstheoretikers.

Flankiert werden die Arbeiten von Gary Marx und David Lyon mit ihrer betont moderaten Haltung von einem Privacy-skeptischen Kommentar, "Privacy is not the antidot to surveillance", und einer Abhandlung, die "CCTV" unter dem Titel "Crime Control or Crime Cultur TV" als Teil des gegenwärtigen kulturellen Repertoires beschreibt. Andere Beiträge haben die Gültigkeit von Haar-Analysen zur Diagnose von Ecstasy-Konsum zum Thema, Privacy-Probleme bei einem australischen Obdachlosenprogramm und einen Versuch, aus der Europäischen Menschenrechtserklärung von 1998 ein "Recht auf den Schutz der Privatsphäre" im öffentlichen Raum herauszuinterpretieren. Aus diesem Recht soll dann wiederum ein neuer Regulierungsbedarf für CCTV-Systeme abgeleitet werden.

Phänetisch fixiert

Ein so feinsinniges Für-und-Wider, das sich selten nur in theoretischen Verspulungen entlädt (wie etwa David Lyons glänzend-kryptischer Wortprägung vom "phentic fix"), mag vielleicht nicht bei der gesamten Privacy-Klientel auf Gegenliebe stoßen. Das muss es auch nicht. "Surveillance and Society" deckt tatsächlich so etwas wie eine Marktlücke, die von den Privacy-Webseiten der Bürgerrechtsvereinigungen und der Softwarefirmen mitnichten abgedeckt wird. Man kann die Herausgeber und Initiatoren nur beglückwünschen, ein so vielversprechendes Forum für die akademische Auseinandersetzung über "Privacy" geschaffen zu haben.

Den ein oder anderen mag es dennoch besänftigen, dass am Ende doch noch die Privacy-Aktivisten zu Wort kommen. Erich Schienke hat ein Interview geführt mit den Mitgliedern des Instituts für Angewandte Autonomie. In dem Gespräch geht es um die "Mallifizierung" der Städte, um Überwachungskamera-Stadtspaziergänge und um die Erschaffung von Robotern, die Jobs verrichten, bei denen man selbst lieber nicht identifiziert werden möchte - und die einen wahrscheinlich wohl auch um das Vergnügen bringen, diese "Jobs" eigenhändig zu erledigen.