Projektionsfläche Amerika
Seite 3: Je größer die Ähnlichkeit zwischen der Bundesrepublik und den USA, desto stärker schäumt hierzulande der Antiamerikanismus hoch
- Projektionsfläche Amerika
- Die zwiespältige Position der USA als am weitesten fortgeschrittene Volkswirtschaft des kapitalistischen Weltsystems
- Je größer die Ähnlichkeit zwischen der Bundesrepublik und den USA, desto stärker schäumt hierzulande der Antiamerikanismus hoch
- Auf einer Seite lesen
Zugleich dienen die Vereinigten Staaten insbesondere dem deutschen Antiamerikanismus als Projektionsfläche, bei der gerade innerdeutsche Transformationen und Widersprüche zutage treten. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die die Bundesrepublik erfassen, werden hierbei auf das Land projiziert, in dem sie zuerst auftraten: die USA. Die Tendenz ist offensichtlich: Je größer die Ähnlichkeit zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten, desto stärker schäumt hierzulande der Antiamerikanismus hoch.
Nirgends in Europa schlägt die Empörung über den NSA-Abhörskandal höhere Wellen wie im Land der Vorratsdatenspeicherung, dessen Geheimdienste überdies seit Jahren mit Zustimmung der Politik mit ihren US-Kollegen kooperierten. Künftig will der deutsche Nachrichtendienst aber auf eigenen Beinen stehen und im großen Stil die Internetüberwachung ausweiten: Rund 100 Millionen Euro wird der BND in den Aufbau des entsprechenden Überwachungsprogramms investieren, bis zu 100 neue Mitarbeiter sollen im Rahmen dieser deutschen Überwachungsoffensive eingestellt werden. Auch die Polizeigewalt in Deutschland hat schon längst ein "amerikanisches" Niveau erreicht, wie die regelmäßigen Berichte von Amnesty International und die polizeilichen Gewaltexzesse bei Demonstrationen - bei denen Wasserwerfer schon mal Demonstranten die Augen aus dem Kopf schießen - immer wieder unter Beweis stellen.
Die Prozesse gesellschaftlichen Zerfalls und der Deindustrialisierung, für die die US-Metropole Detroit steht, laufen in der BRD im Ruhrgebiet ab. Bei der zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft ist die Bundesrepublik sogar europaweit führend: Kein anderes Euroland weist einen derartig großen Niedriglohnsektor wie Deutschland auf. Zugleich erreicht die soziale Spaltung in der BRD bereits Ausmaße, wie sie auch in den USA üblich sind:
"Das oberste Hundertstel der Haushalte besitzt 25 Prozent des gesamten Volksvermögens, die obersten zehn Prozent können sich mit der Hälfte des deutschen Gesamtvermögens gemütlich einrichten - aber auf 50 Prozent der Menschen in diesem Land entfällt gerade einmal ein einziges Prozent des Gesamtbesitzes.
Auch die Militarisierung der deutschen Außenpolitik schreitet munter voran - ganz nach US-Vorbild. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich längst daran gewöhnt, dass deutsche Soldaten permanent im Rahmen von Militäreinsätzen im Ausland aktiv sind. Dabei legt die Bundeswehr schon mal eine Massakerlogik an den Tag, die immer noch ihresgleichen sucht - und die an die Bestrafungsaktionen der Wehrmacht im besetzten Osteuropa erinnert, als für einen getöteten Wehrmachtssoldaten schon mal 100 Zivilisten ermordet wurden. In Afghanistan reicht dem Deutschen Landser heutzutage schon ein Benzindiebstahl aus, um einen Massenord anzuordnen. Das von einem deutschen Oberst befohlene Massaker von Kunduz, bei dem bis 142 Menschen - größtenteils Zivilisten, darunter auch Kinder - getötet wurden, hatte nicht nur keine Konsequenzen für den Täter, Oberst Georg Klein, dieser wurde auch noch 2013 in den Rang eines Brigadegenerals befördert.
Die einseitige Empörung über ähnliche US-Militärverbrechen, über die Abhöraktionen der NSA, über den Rassismus in den USA und die obszöne Spaltung in Arm und Reich - während dieselben, in der Bundesrepublik ablaufenden Prozesse ausgeblendet werden - ermöglicht die Aufrechterhaltung der Identifikation mit der bestehenden Gesellschaftsformation. Diese Krisentendenzen erscheinen in der verzerrten Optik der antiamerikanischen Ideologe als genuin amerikanische "Importe", die zersetzend auf die deutsche Gesellschaft wirkten. Diese deutsche Gesellschaft wird damit als potenziell widerspruchsfrei und harmonisch imaginiert, während die Widersprüche und Krisentendenzen dem Wirken Amerikas zugeschrieben werden. Obwohl sich BRD und USA immer weiter in ihrer inneren Gesellschaftsstruktur annähern, kann vor allem der deutsche Antiamerikanismus das "echte" Deutschland als Gegenentwurf imaginieren, als eine Gegenmacht zur amerikanischen Hegemonie. Die auch in Deutschland ablaufenden gesellschaftlichen Transformationen und Krisenprozesse erscheinen dem Amerikahasser als ein "Fremdkörper", der von den USA herkommend die heile Welt der deutschen Schicksals- oder Volksgemeinschaft unterminiert.
Dieser Parallelen zwischen der BRD und den USA erstrecken sich inzwischen aber auch auf den Bereich der Machtpolitik. Die Bundesrepublik ist gerade dabei, innerhalb der Europäischen Union eine dominante machtpolitische Stellung zu erlangen, wie sie die USA in Lateinamerika jahrzehntelang innehatten. Berlin dominiert die EU und diktiert den europäischen Krisenstaaten eine Krisenpolitik, die zur längsten Rezession der europäischen Geschichte führte. In Südeuropa flackern folglich immer wieder Proteste gegen dieses deutsche Spardiktat auf, die Erinnerungen an die antiamerikanischen Demonstrationen wecken, wie sie im arabischen Raum üblich sind. Der SPON-Rechtsausleger Jan Fleischhauer hat diese Parallelen korrekt erkannt und mit den deutschlandweit wieder blühenden Ressentiments garniert.
Es fehlt nicht mehr viel, und sie verbrennen deutsche Flaggen. Aber halt, auch das tun sie ja bereits. Man kannte das bislang nur aus arabischen Ländern, wo die Jugend bei jeder sich bietender Gelegenheit auf die Straße rennt, um gegen den Satan USA zu Felde zu ziehen. Aber so ist es, wenn man aus Sicht anderer als zu erfolgreich, zu selbstbewusst, zu stark gilt. Wir sind jetzt die Amerikaner Europas. Der Rollenwechsel wird nicht leicht, das kann man schon heute sagen. Wir sind es gewohnt, dass man uns für unsere Effizienz und unseren Fleiß bewundert, nicht, dass man uns dafür hasst."
Der deutsche "Führungsanspruch" in Europa muss nicht unbedingt in solch schwarzbraunen Töten postuliert werden. Es geht auch lockerer, mit einem Hauch von Weltoffenheit, wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 13. Juli unter Beweis stellte. Das Feuilleton der SZ bejubelte unter dem Titel "Die neue Süße des deutschen Daseins" eine "fulminante Streitschrift für eine deutsche Hegemonie", die dem Bayernblatt der Italiener Angelo Bolaffi lieferte. Der dritte Anlauf zur deutschen Hegemonie in Europa stütze sich nicht auf Wehmachtstiefel, sondern resultiere aus der "unwiderstehlichen Kraft eines überlegenen Gesellschaftsmodells", wie die SZ feststellte. In der Konsequenz kann dies nur eins heißen:
Dieses beispielhaft moderne, zivile, selbstreflexive, kreative, ökonomisch besonnene, durch und durch demokratische, in Berlin sogar wilde und junge Land ist die derzeit einzig denkbare Führungsmacht Europas.
Auch die Frankfurter Zeitung ("Ziemlich gute Partner," vom 18.07.2013) reflektierte anlässlich der Berlinvisite von US-Präsident Obama die den neuen machtpolitischen Realitäten in Europa, die es Deutschland ermöglichten "selbstbewusster" gegenüber den USA aufzutreten:
Die dramatischen Veränderungen… sind besonders ausgeprägt in Deutschland - das nicht "nur" wiedervereinigt ist, sondern dessen gegenwärtige politische Stellung in Europa und dessen Wirtschaftskraft nur wenige sich hätten träumen lassen … In der Staatsschulden- und Euro-Krise hat Berlin zusätzlich Einfluss erlangt; seine politischen Ziele sind wesentlich, teilweise maßgeblich.
Die FAZ verglich die Berlinvisite Obamas mit dem "Besuch bei groß gewordenen Kindern", die sich nun "von ihren Eltern emanzipiert" hätten. Und wie das bei "Kindern" mit imperialen Ambitionen nun mal so ist, irgendwann wollen sie sich nicht mehr reinreden lassen in ihrem eigenen europäischen Hinterhof, etwa bei der Wirtschaftspolitik, wo Washington "die Deutschen seit Jahr und Tag" ermahne, "statt zu sparen und die den Haushalt zu sanieren die Konjunktur mit staatlichen Investitionen auf Pump anzukurbeln" ("Rückkehr des Umjubelten", FAZ vom 18. Juli 2013). Der Antiamerikanismus dient somit auch als profanes Propagandainstrument in einem handfesten Machtkampf um die Dominanz in der Eurozone, bei dem der punktuell immer noch gegebene Einfluss Washingtons in Europa weiter zurückgedrängt werden soll.