Proteste im Irak: "Ich bin nicht Sunnit, sondern arbeitslos!"
Im Irak gehen wieder Menschen gegen die Regierung auf die Straße Trotz Corona und Repression protestieren sie gegen die korrupte Regierung und gegen den Einfluss des Iran
Seit Oktober letzten Jahres gingen im Irak Leute gegen die Regierung auf die Straße - dann kam Corona. Wie geht es jetzt weiter?
Qasim Ali: Das Coronavirus hat das korrupte System vorübergehend vor den Protesten gerettet. Wegen der Ausgangssperren konnten wir nicht mehr auf die Straße gehen, und auch die Protestcamps die wir auf besetzten Plätzen in vielen Städten errichtet haben um zu diskutieren und Forderungen zu erarbeiten, sind leerer geworden.
In dem Camp auf dem Tahrir-Platz in Bagdad, auf dem wir aktiv sind, sind nur noch ein kleiner Teil der Leute. Aber langsam füllt er sich wieder. Der Staat droht uns zwar mit Gewalt und auch die Miliz des Schiitenführers Muqtada al-Sadr hat Kräfte zusammengezogen um uns einzuschüchtern. Aber sie, noch Corona werden unsere Revolution stoppen! Was uns besonders motiviert ist, dass gerade auch immer mehr Frauen auf die Straße gehen.
Was treibt die Proteste an?
Sami Adnan: Es geht einerseits um die schlechte wirtschaftliche Lage. Die Arbeitslosigkeit liegt in Teilen des Landes bei rund 50 Prozent. Und auch die Versorgung der Menschen ist schlecht, und das in vielen Bereichen: Es gibt zu wenig Trinkwasser, der Strom fällt oft aus und die Schulen sind kaputt.
Unser Widerstand richtet sich aber andererseits auch gegen die ökonomische und militärische Einflussnahme anderer Länder im Irak. Die wollen das Land kontrollieren und ausrauben, vor Allem das Öl.
Du spielst damit auch auf den Iran an oder?
Qasim Ali: Ja. Proiranische Kräfte und iranische Milizen haben hier in vielen Teilen des Landes das sagen und die Vormachtstellung. Der Iran versucht die schiitischen Teile der irakischen Bevölkerung mit religiösen Slogans zu ködern.
Im Parlament sitzen Parteien, die mehr oder weniger vom Iran aus gesteuert werden und auch militärisch ist der Iran hier sehr stark, es gibt eine Vielzahl proiranischer Milizen. Viele in der Bevölkerung lehnen die Milizen ab, aber viele junge Männer schließen sich ihnen als Söldner an, weil sie anders keine Möglichkeit haben, Geld zu verdienen.
Die proiranischen Kräfte sagen, eure Bewegung sei von den USA gesteuert.
Sami Adnan: Das ist Propaganda. Wir sind nicht nur gegen die iranische Einflussnahme sondern auch gegen die Präsenz der USA. Wir sagen auf unseren Demos ganz klar: Wir wollen hier weder die USA noch den Iran, wir wollen eigenständig sein.
Die USA haben dem Irak nur schlechtes gebracht. Sie haben das Land 2003 im Krieg gegen Saddam Hussein zerstört. Aber es ging ihnen nicht um Demokratie, sondern ums Öl. Und sie haben das neue korrupte politische System aufgebaut, auf das der Iran sich heute stützt.
Ihr seid beide bei den Workers Against Secterianism aktiv, einer sozialistischen Gruppe innerhalb der Bewegung. Was sind eure Ziele?
Sami Adnan: Uns geht es vor Allem darum, die Spaltung der Bevölkerung in Konfessionen und Ethnien zu überwinden. Deshalb nennen wir uns Workers Against Secterianism (Arbeiter*innen gegen Sektierertum). Das politische und gesellschaftliche System das hier seit der US-Invasion 2003 aufgebaut wurde stützt sich auf Spaltung, fast alle Parteien und Milizen beziehen sich auf religiöse oder ethnische Zugehörigkeit, es gibt schiitische, sunnitische und kurdische Parteien.
Wenn die Menschen gespalten sind und gegeneinander aufgehetzt werden, können sie sich auch nicht gemeinsam gegen das korrupte System wehren.
Und das funktioniert?
Qasim Ali: Es ändert sich im Bewusstsein der Leute hier gerade viel: Viele Menschen schauen einen nur schief an, wenn man sie fragt, ob sie Schiiten oder Sunniten, Araber oder Kurden sind. In der Berichterstattung über unsere Bewegung im Westen wird oft darüber berichtet, dass Schiiten und Sunniten auf dem Tahrir Platz gemeinsam demonstrieren.
Dabei sind viele hier schon viel weiter: Wenn man heute auf den Tahrir Platz geht und die Leute danach fragt werden viele sagen: Ist mir doch egal! Ich bin Taxifahrer, ich bin Arbeiter. Oder: Ich bin nicht Sunnit, sondern arbeitslos!
Die neue Identität ist eine andere, eine, bei der die soziale Frage im Mittelpunkt steht. Und das ist notwendig, um die eigene Lage zu erkennen und gemeinsam gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu kämpfen.