Proteste im Irak: Soziale Ursachen mit Potenzial zur Eskalation
Beobachter befürchten, dass die Empörung von außen weiter geschürt wird
Ja, der schiitische Prediger und Wahlsieger Muktada as-Sadr habe mit seiner Order die Proteste im Süden Iraks gestartet, schreibt der Irak-Beobachter Haidar Sumeri als Reaktion auf eine Ermahnung, wonach man doch das Handbuch für Verschwörungstheorien weglegen sollte.
Aber, so fährt Sumeri fort, man dürfe nicht ignorieren, welche Rolle die Unterstützung von Baathisten und Saudis in online-Postings für den "Kollaps des schiitischen Systems" (im Original steht das Schimpfwort "Safavid regime") spiele. Frühere Proteste in Anbar hätten dieselbe Unterstützung bekommen und das Ende sei bekannt.
Worauf Sumeri anspielt, ist die mit Hass auf die schiitische Herrschaft unterfütterte jahrelange Unterstützung von Dschihadisten in der mehrheitlich sunnitischen Provinz Anbar, die zur Ausbreitung des IS beitrug und zu seiner Herrschaft in Städten wie Falludscha führten (siehe Falludscha wird zur humanitären Katastrophe.
Sumeris Gegenüber, der Irakexperte Robert Tollast, tritt dafür ein, die Proteste als Phänomen einer existentiellen Krise des politischen Systems im Irak zu sehen - mit eindeutigen materiellen Ursachen: hohe Arbeitslosigkeit und schlechten Lebensbedingen. Zu erwähnen wäre zum Beispiel notorischer Wassermangel, für den die Regierung verantwortlich gemacht wird, bei Temperaturen von über 40 Grad sowie der stundenlange Ausfall von Elektrizität.
Plakate, von denen der Irak-Berichterstatter Patrick Cockburn berichtet, bekräftigen laut, dass der Skandal, der die Wut anheizt, ganz einfache Ursachen hat: "2.500.000 Fass Öl am Tag, der Preis liegt bei 70 Dollar pro Fass. Das macht 2.500.000 mal 70 Dollar ist gleich Null. Sorry Pythagoras, aber wir sind in Basra."
Im Süden bei Basra befinden sich bedeutende Ölvorkommen. Sie machen laut Patrick Cockburn 70 Prozent der gesamten Ölproduktion aus. Das Land ist reich, aber die Bewohner horrend unterversorgt, wie auch Premierminister Haider al-Abadi vor ein paar Tagen eingestanden hat, indem er auf Forderungen der Protestierenden einging.
Er versprach unter anderem, dass er etwa 2,5 Milliarden Dollar für Entsalzungsanlagen bereitstellen wird, dass man sich um die Stromausfälle kümmern werde und die medizinische Versorgung verbessern werde. Außerdem werde man sich um Programme kümmern, die Arbeitsstellen schaffen sollen.
Hilfe im Volumen von insgesamt über drei Milliarden Dollar hat Abadi versprochen, berichtet auch Cockburn, der in seinem Situationsbericht darauf hinweist, dass die Glaubwürdigkeit von Abadi wie auch anderen Politikern ziemlich abgesunken ist. Korruption ist weitverbreitet und laute Proteste dagegen gibt nicht erst seit in diesem Sommer.
Doch gibt es ein paar bemerkenswerte Unterschied zu den letzten Protesten: Die Regierung Abadi feierte Anfang dieses Jahres nach der Eroberung von Mossul einen im ganzen Land bejubelten Sieg. Abadi hatte an Popularität gewonnen, viele waren stolz auf die Armee und die Sicherheitskräfte. Jetzt gibt es Bilder von schweren Auseinandersetzungen zwischen Empörten und Sicherheitskräften, es gab Tote unter den Demonstranten, über 200 Mitglieder der Sicherheitskräfte wurden verletzt.
Abadis Popularität machte sich bei den Wahlen nicht bemerkbar, er gewann nicht. Die Wahlbeteiligung war mit 44,5 Prozent sehr niedrig. Das hat mit dem Vertrauen in die Politiker zu tun. Die Regierungsbildung dauert noch an, man kann von einer Krise sprechen. Die Proteste hatten sich innerhalb weniger Tage auf mehrere Orte ausgebreitet, unterstützt von Ayatollah Sistani, dessen Weisungen im Süden Iraks bedeutend sind.
Es sind soziale Proteste, aber sie haben Potenzial, um von außen politisch ausgenutzt zu werden.