Falludscha wird zur humanitären Katastrophe
Die Flüchtenden werden von schiitischen Milizen teils misshandelt, den Hilfsorganisationen geht das Geld aus, weil die Geberländer wieder knausern
Seit Monaten wird das vom Islamischen Staat kontrollierte Falludscha, das schon 2004 eine Hochburg sunnitischer Extremisten war und von US-Soldaten bei der Eroberung weitgehend zerstört wurde, von irakischen Regierungstruppen und schiitischen Milizen abgesperrt. Während die Kritik gegenüber dem Assad-Regime laut war, wenn es - wie manche Rebellengruppen auch - in umstellte Städte keine Hilfslieferungen für die Bevölkerung fahren ließ, sah man in Falludscha Monate zu, obgleich es immer wieder Berichte darüber gab, dass die Menschen dort hungern müssen und nicht mehr medizinisch versorgt werden können (Auch in Falludscha verhungern Menschen).
Ende Mai wurde schließlich eine Offensive gestartet (Die nächste Schlacht um Falludscha hat begonnen), die Stadt ist seitdem vollständig abgeriegelt und wird immer wieder von irakischen und amerikanischen Flugzeugen bombardiert. Die IS-Kämpfer haben die Bevölkerung, die Rede ist von 50.000 bis 100.000 Menschen, darunter bis zu 20.000 Kinder, möglichst in die Innenstadt gebracht, um sie besser kontrollieren und an der Flucht hindern, aber sich auch hinter ihr verstecken zu können. Kämpfe finden in den Außenbezirken statt, noch werden vor allem die schiitischen Milizen zurückgehalten, das Stadtzentrum zu erstürmen, weil man ein Blutbad fürchtet (Die gelenkte Vorwahl). Angeblich ist mittlerweile ein Viertel der Stadt erobert worden.
Der IS hat wie üblich die Zufahrten in die Stadt und Häuser mit Sprengfallen überzogen, die nicht nur den Soldaten und Milizen, sondern auch den Menschen, die aus der Stadt flüchten wollen, zum Verhängnis werden können. Bislang haben dies nur wenige geschafft. Aber viele fürchten nicht nur die IS-Kämpfer, sondern ebenso sehr die schiitischen Milizen. Nachdem der IS in Bagdad immer wieder Selbstmordanschläge in den hauptsächlich von Schiiten bewohnten Vierteln begeht und diese längere Zeit auch von Falludscha aus geschehen ist, befürchten die Einwohner, dass die Milizen sich rächen werden.
Das ist eine durchaus berechtigte Sorge, denn mit der Einkreisung der Stadt haben schiitische Milizen auch die Orte um Falludscha herum eingenommen und dabei Männer festgenommen, die sie verdächtigen, IS-Sympathisanten zu sein. Bekannt ist, dass schiitische Männer willkürlich festgenommen, oft gefoltert und weggesperrt werden, sofern sie nicht verschwinden. Daher sind viele Männer aus der Umgebung vor den schiitischen Milizen in die Stadt geflohen und haben sich dort womöglich dem IS angeschlossen. Wenn unter den aus Falludscha Flüchtenden sich Männer in kampffähigen Alter, darunter auch Jugendliche, befinden, werden diese von den schiitischen Milizen unter dem Verdacht festgehalten und verhört, IS-Sympathisanten oder IS-Kämpfer zu sein. Dabei soll es zu massenhafter Folter und Gewaltanwendung in den Haftlagern kommen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat darauf aufmerksam gemacht, dass sie bereits mit Beginn der Offensive glaubwürdige Informationen über Massenexekutionen, Zwangsverschleppungen und Schlägen sowie Verstümmelungen von Leichen in den Außenbezirken der Stadt erhalten habe. Dabei handelt es sich um Polizeikräfte, vor allem aber um schiitische Milizen, darunter neben den Volksmobilmachungskräften (PMF) auch Hisbolla- und al-Sadr-Milizen, denen immer wieder vorgeworfen wird, unbewaffnete Männer aus Gruppen von Flüchtenden, teils mit weißer Flagge, getrennt und dann erschossen zu haben. Die Regierung hat zwar zugesagt, die Vorwürfe zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, aber sie dürfte, selbst wenn sie wollte, zu schwach sein, um in die Milizen einzugreifen, auf deren Hilfe sie zudem angesichts der weiterhin unzuverlässigen Streitkräfte angewiesen ist und die sie kaum kontrollieren kann.
Der irakische Innenminister Mohammed al-Ghabban, ein Schiit und Mitglied der Partei des schiitischen Geistlichen al-Sadr, der die Proteste gegen die Regierung in Bagdad organisiert und einst selbst Milizenführer, erklärte am Mittwoch, es sei schwierig, Angriffe gegen die Menschen, die aus Falludscha fliehen zu verhindern. Sie seien aber nicht systematisch und die Regierung werde diejenigen bestrafen, die sich schuldig gemacht haben. Einige seien bereits vor Gericht gestellt worden. Nach Angaben der irakischen Regierung wurden bislang 7.181 Männer von Falludscha festgenommen, davon seien 4100 wieder freigelassen worden - HRW berichtet, dass auf vielen Spuren der Gewaltanwendung zu sehen seien -, 1030 sind wegen möglicher Verbindungen zum IS ins Gefängnis gekommen, 2000 warten noch in der Halle, um überprüft zu werden.
Nach dem Bericht Gouverneurs Sohaib al-Rawi sind in den ersten Tagen dieser Woche allein 49 Männer getötet worden, zwischen dem 3. und 5. Juni sind mehr als 600 Männer nach der Flucht aus Falludscha durch die Milizen verschwunden. Er fordert eine unabhängige Untersuchung und den Abzug der dafür verantwortlichen Milizen.
Aber selbst wenn die Menschen aus Falludscha die Flucht lebendig und unverletzt überstanden haben und in die Flüchtlingslager gekommen sind, gehen die Probleme weiter. Die irakische Regierung hat, angesichts der niedrigen Ölpreise, kein Geld für die Versorgung der Flüchtlinge, aber auch nicht für die übrige Bevölkerung, weswegen seit Monaten Proteste gegen die Regierung stattfinden, die in Korruption versunken ist und es nicht geschafft hat, die Infrastruktur wiederherzustellen und für Arbeitsplätze zu sorgen. Dazu gibt es den Krieg gegen den IS, aber auch Konflikte mit den irakischen Kurden und den von diesen kontrollierten Ölressourcen. Kurdenpräsident Barzani drängt auf einen eigenen Staat, sein Sohn Masrour Barzani hat gerade wieder erklärt, dass der Irak nach dem Sieg über den IS in drei Länder aufgeteilt werden sollte.
Flüchtlinge erwartet humanitäre Katastrophe
Seit Beginn der Offensive am 22. Mai bis zum 13. Juni 43.470 Menschen aus dem Distrikt Falludscha geflohen oder vertrieben worden, berichtet IOM. Insgesamt gibt es mehr als 3,3 Millionen Binnenflüchtlinge im Irak, vor allem aus den sunnitischen Provinzen Anbar und Ninive, die vom IS kontrolliert werden oder die umkämpft sind. Zu erwarten sind weitere Flüchtlingsströme, wenn die Offensive in Falludscha vorankommt und dann steht noch die gegen Mossul an, wo man mit Hunderttausenden rechnen muss. Jetzt schon sagt der Provinzrat von Anbar, es seien mindestens 20 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau wegen der weitreichenden Zerstörungen nötig, die aber nicht vorhanden sind.
Der Norwegian Refugee Council (NRC) berichtet, es gebe nicht nur eine humanitäre Krise in Falludscha, es entfalte sich auch eine außerhalb. Lebensmittel, Trinkwasser und Medizin zur Versorgung der oft bereits unterernährten Flüchtlinge gingen zu Ende. Bislang sind mehr als 30000 Menschen oder 5300 Familien aus Falludscha geflohen. Sie dürfen die Anbar-Provinz nicht verlassen, an den Straßen Richtung Bagdad gibt es Straßensperren und Kontrollen.
Der NRC könne nur noch 3 Liter Trinkwasser pro Person zur Verfügung stellen, notwendig wären 10 Liter. Man erwartet, dass die Temperaturen bald bis 50 Grad Celsius ansteigen. Die Lebensmittelvorräte sollen gerade noch für zwei Tage reichen. Jan Egeland, der Generalsekretär des NRC, ruft die internationale Gemeinschaft dringend zur Solidarität auf.
Wie zuvor in Syrien versiegt die Hilfsbereitschaft der Staaten. Das UNHCR hat für die Flüchtlingshilfe dieses Jahr 405 Millionen US-Dollar veranschlagt. Gezahlt worden seien bislang 10 Prozent. Stand 9. Juni. Auch der UNHCR spricht davon, dass die Hilfsgelder für die Notsituation in Falludscha ausgehen. Die USA haben mit fast 76 Millionen US-Dollar am meisten gezahlt, gefolgt von Deutschland mit 18 Millionen. Ansonsten kamen noch Gelder von der EU, von Japan, Großbritannien, der Schweiz und Frankreich. Letzteres hat 1,1 Millionen überwiesen, Spanien gerade einmal symbolische 45.500. Vom Rest der europäischen Staaten kam nichts. Der Vatikan war mit 7.500 US-Dollar auch nicht sonderlich freizügig.
Für Iraker, die in Nachbarländer wie Jordanien oder dem Libanon, hat der UNHCR unter 10 Prozent der veranschlagten Spenden bislang erhalten. Etwas besser sieht es für syrische Flüchtlinge aus, aber auch hier wurden erst 40 bzw. 30 Prozent der erforderlichen Gelder gezahlt.