Proteste in Georgien: (k)ein Maidan
In Georgien reißen die pro-europäischen Proteste gegen das Wahlergebnis nicht ab. Warum ein georgischer Maidan im Interesse des Westens, allerdings derzeit nicht absehbar ist. Eine Analyse.
Vor dem georgischen Parlament steht, wie in fast allen christlichen Metropolen, ein opulent überdimensionierter Weihnachtsbaum. Vor seiner Silhouette, im Fadenkreuz zwischen regierungstreuen Schaulustigen und prowestlichen Demonstranten, stehen die großen Fragen der aktuellen Geopolitik.
Die meterhohe Nadeltanne bietet zusammen mit den auf das Parlament projizierten Sternen und Schneeflocken ein unwirkliches Panorama, das in deutlichen Nuancen an den kalten Maidan-Winter in der ukrainischen Hauptstadt erinnert.
Was auf den ersten Blick wie ein friedlicher orthodox-christlicher Brauch anmutet, ist auf den zweiten Blick die Kulisse für eine ernste politische Auseinandersetzung mit geopolitisch-weltweiten Implikationen.
Anhand der Frage von Wahlfälschungen, Manipulationen und Repressalien gegen die in die Defensive geratene georgische Opposition wird im Kaukasus und Ex-Sowjetstaat die übergeordnete Frage einer politischen Einordnung in die geopolitischen Achsen der Welt verhandelt.
In Tiflis, Batumi oder auf den Dörfern scheint sich zu entscheiden, ob Georgien sich künftig dem europäischen Westen und seinem Staatenbund, der Europäischen Union, weiter annähert und assoziiert oder ob es zu einer neutralen bis freundschaftlichen Allianz mit dem benachbarten Riesen Russland kommt.
Georgien und Russland verbindet neben kulturellen und historischen Parallelen auch eine Vielzahl wirtschaftlicher Verflechtungen.
Die EU, ihre Medienagenturen und die akademische Mittelschicht der georgischen Gesellschaft spielen dagegen auf der bekannten Klaviatur von Freiheit, Liberalität und Wohlstand, die von der EU profitieren. Kurzum: Ein genauer Blick auf den kleinen Staat lohnt sich.
Der neue Maidan vom 28. November?
Er begann nicht im luftleeren Raum: Wie Telepolis berichtete, waren die Folgen absehbar. Nach dem klaren Sieg des Georgischen Traums bei den Wahlen im Oktober mehrten sich im Westen schnell Zweifel an der Legalität und Integrität der Ergebnisse.
Ein Beißreflex, den man von Wahlen in Venezuela, Iran oder den lateinamerikanischen "Hinterhofstaaten" des US-Imperiums kennt. Neue, demokratische Heldensagen sollten geschrieben werden: als am 28. November der neue Premierminister des Landes – Irakli Kobachidze – verkündete, was viele geahnt hatten.
Die EU-Beitrittsverhandlungen würden vorerst auf Eis gelegt. Der Tropfen, der nach den Wahlen das Fass zum Überlaufen brachte. Während die TAZ zwischen Massenprotesten und Heldenepen ging der Bewegung in den kalten Tagen schneller die Luft aus als gedacht. Auch wenn die Situation bis zuletzt als fragil bezeichnet werden kann, sprechen einige Faktoren gegen einen erfolgreichen Maidan in Georgien.
Wie aus Tiflis berichtet wird, haben die Proteste einen spezifischen Charakter.
Sie beschränkten sich auf die Hauptstadt (auf dem Land gab es sie kaum oder nur in geringer Zahl), auf ein akademisches Publikum und auf US-NATO-EU-Fahnen schwenkende Claqueure. Und vor allem zwei Dinge: Ihre Zahl stagniert, die Polizeigewalt lässt sich nicht in erschreckendem Ausmaß dokumentieren.
Maidan-Vergleiche unangebracht
Der deutsche Journalist Enno Lenze ist am 1. Dezember mit seiner Kamera vor Ort. Seine Reportage ist lesenswert und setzt einen Kontrapunkt zu anderen Medienberichten, etwa der Deutschen Welle.
Zwar schildert auch er Gewalt, Repressalien und Tränengas, die es zweifellos gab und gibt, aber er kontextualisiert seine Augenzeugenberichte.
Er schildert, dass es auch nach stundenlangen Provokationen der Demonstranten zu keiner Eskalation gekommen sei, dass er mit Polizeibeamten sprechen und sich frei bewegen konnte und dass er die Polizei nicht als aggressiv einstufe.
Ihre Aufgabe sei es (wie auch in Deutschland bei Demonstrationen), das Parlament und die Gebäude zu schützen und darüber hinaus die Menge zu zerstreuen.
Hier sind erste deutliche Unterschiede zu analysieren: Die Ordnungskräfte wirken (bei aller Kritik an regierungsnahen Schlägerbanden) besonnener als in der Ukraine, die Proteste produzieren weit weniger die Bilder, die der Westen zu brauchen scheint, und die Zahl der Protestierenden ist nicht mit dem Maidan vergleichbar.
Der Opposition fehlt es an Geschlossenheit und parlamentarischer Vertretung – alle Parteien boykottieren das Parlament. Wenn gleichzeitig über EU-Hilfe debattiert wird und die USA den Innenminister wegen repressiver Polizeigewalt sanktionieren, könnte dies die Proteste sogar delegitimieren.
Eine Parallele zur Ukraine: Zu offensichtlich ist die ausländische Einflussnahme über NGO-Spendengelder und Freihandelsabkommen mit der EU, der Tagesspiegel spricht von unternehmerischer Unterstützung der georgischen Proteste.
Wunschdenken ohne Beweise
Die estnische, antirussische Hardlinerin und neue EU-Außenbeauftragte Katja Kallas und ihre Mehrheit im EU-Parlament beschlossen am 28. November 2024 eine klare Verurteilung der georgischen Wahlen und boten Solidarität und diplomatischen Druck an.
Bemerkenswert ist, dass der Text im Konjunktiv formuliert ist: Neben Verurteilung und Bedauern dominiert das Wort "in Erwägung". Beweise bleiben manchmal aus, im Abschlussbericht der OSZE-Wahlbeobachtung wird nicht direkt von Wahlbetrug gesprochen. Im Gegenteil: Es wird von einer polarisierten Wahl und einigen, wenigen Unregelmäßigkeiten berichtet.
Fun Fact: Auch in Berlin demonstrierte die gleiche Klientel - junge, akademische Georgier.
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Der Autor selbst konnte eine kleine Demonstration in Dortmund beobachten. Dort wurden neben georgischen Fahnen auch Kreuze und orthodoxe Christusbilder durch die Innenstadt getragen. Schirmherr war die deutsche Sozialdemokratie in Person von Michael Roth (Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses).
In einem Interview mit dem Handelsblatt zieht Roth den Vergleich zum Maidan: Dass es in Georgien – entgegen seiner Behauptung – nicht um "Werte" wie "ein Leben in Freiheit, Demokratie und Sicherheit" geht, lässt sich belegen.
"Systemkonkurrenz im Kaukasus"
So überschreibt die CDU-nahe Adenauer-Stiftung ihre Analyse der Wahlen in Georgien. Was sie meint, ist der beschworene Wertekampf zwischen östlichem Autoritarismus und westlich-liberaler Demokratie. Was nicht verschwiegen wird: Dahinter steckt mehr.
Die geographische Lage Georgiens im zentralen Landkorridor macht das Land zu einem interessanten Markt- und Transportzentrum.
Fällt diese Route weg, müssen Unternehmen wie Maersk auf andere Routen ausweichen. Ein Dorn im Auge des Werte-Westens sind die kapitalistischen Verbindungen nach Russland und China. Für Russland und China geht es um eine Transitroute der BRI sowie zum immer wichtiger werdenden Partner Iran.
Für die EU-Staaten um die Landverbindung zu strategischen Rohstoffen, die im Wirtschaftskrieg mit Russland "kriegsentscheidend" sein können. China erhielt zudem den Zuschlag für den Bau eines Tiefseehafens, Sicherheitsgarantien und stationierte Soldaten kommen ebenfalls aus Russland.
Im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan musste die EU, so die Analyse der DGA, trotz verstärkten Engagements seit 2022 eine empfindliche Niederlage hinnehmen. Die Schalthebel in der Region scheinen zwischen Moskau und Ankara zu pendeln. Der Analyse ist zuzustimmen, dass der Ausgang des Ukraine-Konflikts auch die Region stabilisieren oder transformieren könnte.
Man kann also sagen: Ein Maidan droht nicht unmittelbar, aber es geht weit weniger als proklamiert um Werte, sondern um knallharte Interessen und Einflusssphären – da klingt die angedachte Kulmination der Proteste am 29. Dezember als "letztes Aufbäumen" wie eine Eskalationsdrohung. Das georgische Puzzleteil wird im Westen noch gesucht; Russland, Iran und China sind gut beraten, wachsam zu bleiben.