Psychogramm der Corona-Gesellschaft

Seite 2: Eine therapeutische Perspektive zur Corona-Krise

Ich behaupte nicht, unsere Gesellschaft sei durch und durch "unfähig", "gestört", "krank". Ich erlebe auch konstruktive Aktionen, die ich z. T. unterstütze, positive Lebensmöglichkeiten, die ich in Anspruch nehme. Doch lebensschädigende und pathologische Züge unserer Gesellschaftsverfassung sind unverkennbar. Daran sind wir alle beteiligt.

Unterschiedlich zwar, mehr oder weniger wurde jeder von uns in dieser Gesellschaft deformiert, physisch und psychisch, durch Erziehung, Schule, Beruf, durch gesamtgesellschaftlich oder kollektiv vorgegebene und übernommene Orientierungen, Verhaltens- und Lebensweisen. Unsere Schädigungen und Deformierungen geben wir weiter, in die Gesellschaft und an Personen, mit denen wir leben.

Deshalb schlage ich vor, zumindest den Lesern dieses Magazins, einmal eine therapeutische Perspektive einzunehmen und in der Haltung eines unvoreingenommenen Arztes oder Psychotherapeuten auf den gegenwärtigen Gesellschaftszustand – mit Einschluss der eigenen Beteiligung – zu blicken; wie zuvor besprochen, als distanzierte, aber teilnehmende Beobachter.

So interessant es wäre, in einer Arzt-Perspektive auf leibliche Deformationen durch Armut, Wohlstand und Konsum zu blicken, beschränke ich mich hier darauf, mental-psychische Aspekte in den Blick zu nehmen.

Dabei wäre es wichtig, sich auch in die Rolle der gesellschaftlichen Fraktionen zu versetzen, denen man sich nicht zugehörig fühlt oder zu denen man im Widerspruch steht. Vielleicht könnte das helfen, aus der Verabsolutierung der Standpunkte zu kommen, Verständnis für andere Positionen zu entwickeln und womöglich Verbindendes zu entdecken.

Jeder mag dieses Experiment auf seine Weise, aufgrund seiner Erfahrungen und seines Einblicks tun. Ich tue das auf meine, natürlich auch subjektiv gefärbte Weise. Ich aktualisiere dabei Kenntnisse aus einer mehrjährigen Psychoanalyse mit Ausbildungsabsicht ("humanistischer" Richtung mit "Gestalt"-Elementen) und der Co-Leitung von Lehrer/-innen-Supervisionsgruppen zusammen mit einem systemisch ausgerichteten Therapeuten.

Dabei nehme ich mir keine umfassende gesellschaftliche Analyse vor, sondern beschränke mich auf ein Feld, das derzeit im Vordergrund des gesellschaftlichen Interesses steht, die sogenannte Corona-Krise. Nicht dass es keine andere beobachtungs- und bearbeitungswürdigen Felder gäbe, aber im Corona-Geschehen werden brennpunktartig auch andere gesellschaftliche Konflikte und Störungen sichtbar.

Die Mehrheit – blinde Flecken

Nehmen wir zuerst die rund 80 Prozent der Bevölkerung in den Blick, die im November dieses Jahres angeben, die verordneten Corona-Maßnahmen zu akzeptieren und damit wohl auch bereit sind zu befolgen. Ihnen wird oft unterstellt, sie hätten eine übertriebene Angst vor einer Covid-19-Ansteckung. Das trifft allerdings nach Befragungen auf zwei Drittel nicht zu. (Das schließt nicht aus, dass sie andere Ängste haben, die möglicherweise in der Corona-Situation verstärkt werden.)

Und wie ist das mit der Unterstellung, sie seien "Schlafschafe", die unreflektiert staatlichen Geboten folgten? Die "Reaktanz"-Forschung – sie beschäftigt sich mit dem Widerstand gegen die Einengung von Freiheitsräumen – erbringt allerdings, dass Reaktanz bei den Menschen ausgeprägter ist, die glauben, wenig Kontrolle über ihr Leben zu haben. Menschen, die den Eindruck haben, sie hätten das Steuer selbst in der Hand, fallen Freiheitsbeschränkungen leichter.

Die Beobachtung von überzeugten Maßnahmen-Befürwortern im Social-Media-Bereich zeigt, dass sie die Informationen über das Corona-Geschehen aufmerksam verfolgen und ihre Entscheidungen gut begründen können.

Diesen Menschen das "eigene Denken" abzusprechen, ist ein nicht begründetes und wenig freundliches Urteil. Natürlich wird man nicht sagen können, dass all die "braven" Bürger die Maßnahmen so reflektiert nachvollziehen wie eine intellektuell offenbar gehobene Twitter-Schicht.

Über Motive der vielen, die sich kaum öffentlich äußern, wissen wir nichts Genaues. Ich halte es nicht für einen sehr wertschätzenden Umgang mit Mitbürgern, ihnen von vornherein "Untertanenmentalität" und Gedankenlosigkeit zu unterstellen.

Offenbar bringen sie den Empfehlungen einer Mehrheit von Wissenschaftlern und auch der Politik mehr Vertrauen entgegen als Skeptiker und Ablehnende. Ich möchte das nicht abwerten, genauso wenig wie eine skeptische Haltung.

Und Vorsicht in unsicheren Gefahrenlagen ist besser als Leichtsinn aufgrund angenommer Sicherheiten. Ich kann bei dieser Haltung nichts Pathologisches finden, sondern sehe sie eher als gesund an.

Ich finde allerdings einen Zug bei einem Teil der Maßnahmen-Befolger, vorwiegend jetzt in der Frage einer Impfpflicht, bedenklich. Momentan macht sich großer Unwille über Ungeimpfte breit. Man schiebt ihnen die "Schuld" über den Anstieg der Infektionen, die Belastung der Intensivstationen zu, wirft ihnen unsoziales Verhalten vor usw.

Den Realitätsgehalt und die Berechtigung der Vorwürfe will ich jetzt nicht erörtern, stelle aber fest, dass die Vorwürfe undifferenziert sind. Zum Anstieg der Infektionen und den damit verbundenen Auswirkungen tragen noch andere Faktoren bei als die Zahl der Ungeimpften. Ich halte fest, dass es bis jetzt keine Impfpflicht gibt und dass diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, dies auch nicht müssen.

Die Motive mögen unterschiedlich, verständlich oder auch nicht gut begründet und realistisch sein. Skepsis gegenüber behördlichen Empfehlungen, Maßnahmen und medizinischen Mitteln und Maßnahmen, die mich nicht überzeugen, ist ja zunächst eine gesunde Reaktion.

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