Psychogramm der Corona-Gesellschaft

Von Verdrängung und Projektion. Wie ein Virus unsere Gesellschaft gespalten hat (Teil 1)

Wir alle sind in die Geschehnisse der Gegenwart verwickelt und haben unseren Blickwinkel und Verständnishorizont, einen individuellen und den der Gruppen, mit denen wir uns verbunden fühlen. Von Zeit zu Zeit kann es aber hilfreich sein, Distanz von unserer subjektiven Blickweise zu üben und eine andere Perspektive einzunehmen. "Reframing", Umdeutung, einen neuen Verständnis-Rahmen gewinnen nennt die "Systemische Psychotherapie" dies.

Ganz heraustreten aus den uns umgebenden und angehenden Geschehnissen können wir nicht, aber wir wir sind in der Lage, den Standpunkt eines "teilnehmenden Beobachters" einzunehmen.

Wir sehen eine Gesellschaft …

Blicken wir also von diesem Standpunkt auf die Geschehnisse des Spätherbstes 2021 in unserem Land. Wir sehen eine Gesellschaft, die in widerstreitende Fraktionen gespalten ist, die uneinig über den Weg aus Krisen und lebensgefährdenden Bedrohungen ist.

Wir beobachten eine Bevölkerung, deren Mehrheit von Bedrohungslagen und Befunden von Experten überzeugt ist, verordnete Maßnahmen zur Behebung trägt, aber im Alltag widersprüchlich handelt.

Auf der anderen Seite sehen wir eine Minderheit, die massiv opponiert und sich mehrheitlich anerkannten Erkenntnissen, staatlichen Empfehlungen und Anordnungen verweigert.

Wir erleben, dass die Gesprächsbrücken zwischen beiden Teilen abgebrochen sind. Bei der Mehrheit wächst Ungeduld, ja Wut gegenüber der Minderheit, die Minderheit ergeht sich schon länger in herabsetzenden Urteilen über die Mehrheit.

Die eine Seite verliert zunehmend das Vertrauen in Regierung und ausführende Einrichtungen, die andere Seite ist von einem grundsätzlichen Misstrauen in das gesamte "System" der gesellschaftlich-politischen Verfassung erfüllt.

Dazu erleben wir Regierungsformationen, die bemüht sind, unterschiedliche Interessen abzuwägen, aber dabei zögerlich, unentschlossen, widersprüchlich und damit nicht nachhaltig agieren.

Wenn wir unsere Gesamtgesellschaft mit einem "Organismus" vergleichen, dann müssen wir als distanziert-beteiligte Beobachter feststellen, dass derzeit das Zusammenwirken und Gleichgewicht, die "Homöostase" der Organe und Prozesse gestört ist. Es liegt eine Disharmonie vor, die dem Wohlbefinden und der Gesundheit des Organismus abträglich ist.

Beteiligt sind wir insofern, als wir als Einzelteile mitwirken und sich das Geschehen auf jeden einzelnen von uns auswirkt. Dies spürt wohl jeder auf seine Weise. Das Bestreben eines jeden Organismus ist aber, Homöostase und damit Gesundheit herzustellen, sonst ist sein Überleben nicht gesichert.

Wem das Bild des "Organismus" zu romantisch und zu belastet erscheint, mag zu einem Bild aus der Technik greifen: dem eines sich selbst regulierenden kybernetischen Systems. Offenbar haben wir in unserem Regelsystem Gesamtgesellschaft Teile, die nicht oder schlecht integriert sind und verhindern, dass der "Soll-Wert", das "Fließgleichgewicht" und eine "Homöostase" erreicht werden.

Diese Bilder sind Modelle, die nur begrenzt die komplexe Realität einer Gesellschaft und die Interaktionen von Menschen abbilden. Sie verdeutlichen aber, dass Gesellschaften eine Ganzheit bilden, auch wenn sie im Zeitalter der Globalisierung und übernationaler Zusammenschlüsse nach außen hin offen sind.

Sie bilden auch ab, dass Gesellschaften auf Zusammenhalt ihrer Mitglieder und Zusammenarbeit ihrer Einrichtungen angewiesen sind, wenn sie nicht auseinanderfallen sollen.

Wohin führt der Weg?

Moderne Gesellschaften sind dafür angetreten, das bestmögliche Wohlergehen ihrer Mitglieder zu schaffen oder wenigstens zu ermöglichen. Zumindest gilt dies für Gesellschaften, die in der Tradition der "Erklärung der Menschenrechte" (1789) stehen.

Wohlbefinden der Gesamtheit und damit auch der Einzelnen ist nur möglich, wenn zentrifugale und zentripetale Kräfte einigermaßen ausgewogen sind, wenn das Wechselspiel von Antagonismen und Synergismen nicht grundlegende Gemeinsamkeiten zerreißt.

Die grundlegenden Übereinkünfte, die unserer Gesellschaft vorgegeben sind, sind im Grundgesetz festgelegt. Die Zustimmung zu dieser Basis scheint im Blick auf die gegenwärtigen Zustände in unserer Gesellschaft ins Wanken zu geraten.

Ich erörtere hier nicht, wieweit die Vorgaben des Grundgesetzes in der deutschen "repräsentativen Demokratie" erreicht oder erreichbar sind.

Eine Minderheit in unserer Gesellschaft arbeitet mehr oder weniger deutlich auf einen Umsturz dieses "Systems" hin, sei es die Umwandlung in eine antikapitalisch-marxistische Wirtschaft und Gesellschaft oder in eine autoritäre völkisch-nationale "Gemeinschaft".

Ein abrupter Übergang in eine antikapitalistisch strukturierte Wirtschaft und Gesellschaft wäre selbst für Marxisten und Linke nicht wünschenswert. Dies ginge nur unter heftigen Widerständen, mit enormen lebensweltlichen Brüchen und menschlichen Opfern, wahrscheinlich nicht ohne Gewalt. Für eine Übergangszeit wären nicht einmal die materiellen Lebensgrundlagen der Bevölkerung gesichert.

Eine völkisch-nationale Umorganisierung der Gesellschaft nach nationalsozialistischen Vorbild würde die freiheitlichen und humanen Vorgaben unserer Verfassung, die durch sie mögliche politisch-gesellschaftlichen Praxis, und bisher freie Gestaltungen privater Räume außer Kraft setzen.

Bei aller Unvollkommenheit des deutschen repräsentativ-parlamentarischen Systems und der (immerhin teilweise) eingeschränkten neoliberalen Wirtschaft ist nicht "Systemzerschlagung", sondern "Reformismus" der Weg zu einer humanen und lebenswerten Gesellschaft. Reformismus bedeutet: Arbeit an der Verbesserung und schrittweisen Umwandlung ungerechter und lebensfeindlicher Zustände.

Ebendieser Weg wird derzeit von Teilen der Gesellschaft infrage gestellt. Begünstigt wird dies durch Politikversagen, Missbräuche von Mandatsträgern sowie unsoziale, lebens- und umweltschädliche Wirtschaftspraktiken. Aber nicht nur "Machteliten" untergraben diesen Weg, sondern auch Bürger durch Unterstützung, kritiklose Hinnahme, Passivität und Resignation.

Den Weg zur Verbesserung der Verhältnisse und Bewältigung der vielfältigen "Krisen" der Zeit finden wir, wenn wir nach Gemeinsamkeiten suchen und uns zum gemeinsamen Handeln zusammenschließen, nicht durch ständiges Diskutieren, Problematisieren, Opponieren, Zögern …

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