Quo vadis, Afghanistan?

Seit dem Abkommen in Katar konzentriert sich die Taliban-Gewalt ausschließlich auf Afghanen. Die Mehrheit lebt von knapp einem Dollar pro Tag

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In Afghanistan begann Eid, das islamische Opferfest, vor gut zwei Wochen abermals mit einem Waffenstillstand, der von den Taliban ausgerufen und von der Regierung angenommen wurde. Viele Afghanen erlebten daraufhin ein Déjá-vu. Selbiges Szenario spielte sich nämlich auch in den vergangenen Jahren ab und ließ die Menschen auf Frieden hoffen - bis der Krieg wieder losbrach. "Warum können wir nicht jeden Tag Eid feiern?", fragten sich viele.

Noch bevor die dreitägigen Feierlichkeiten zu Ende gingen, wurden in einigen Provinzen neue Taliban-Angriffe gemeldet. Laut dem aktuellen Bericht der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) wurden in der ersten Jahreshälfte mindestens 1.282 Zivilisten, darunter 340 Kinder, getötet sowie 2.176 weitere verletzt. Für die meisten Opfer waren die Taliban (43 Prozent) sowie die afghanische Armee (23 Prozent) verantwortlich. Die Anzahl ziviler Opfer durch Luftangriffe der afghanischen Armee hat sich im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2019 verdreifacht.

Taliban-Gewalt konzentriert sich auf Afghanen

Währenddessen befinden sich die NATO-Truppen seit dem Abzugsdeal zwischen den Taliban und den USA in der Defensive. Seitdem das Abkommen in Katar im Februar unterzeichnet wurde, konzentriert sich die Taliban-Gewalt ausschließlich auf Afghanen. Diskussion sorgte vor allem die geforderte Freilassung von 5.000 Taliban-Häftlingen, die Teil des Deals mit den Amerikanern ist. In den letzten Wochen und Monaten hat die Regierung von Präsident Ashraf Ghani 4.600 Gefangene in die Freiheit entlassen.

Über das Schicksal der restlichen Männer hat nun eine Loya Jirga, eine große Versammlung, die von Ghani einberufen wird, entschieden. Das Resultat: Sie sollen freigelassen werden. Auf einer Abschlussrede betonten Ex-Präsident Hamid Karzai und Ghani ihre Pläne für die Zeit nach Beginn der Friedensära. So würde Karzai gerne das Land bereisen, während Ghani es vorzieht, an neuen Büchern zu schreiben. Die Kosten für das politische Großereignis gingen in die Millionenhöhe und wurden dementsprechend kritisiert.

Die Mehrheit der Afghanen lebt von knapp einem Dollar pro Tag. Den Aufwand, der für 400 Taliban-Häftlinge betrieben wurde, halten viele Beobachter für überzogen. Ob die endgültige Freilassung der Insassen endlich zur Aufnahme innerafghanischer Friedensgespräche führen wird, bleibt weiterhin offen. Berichten zufolge wollen die Taliban unverzüglich nach der Freilassung der Gefangenen an einer Dialogrunde im Golfemirat Katar teilnehmen.

Diese könnte - trotz weltweiter Corona-Zustände - womöglich schon in der kommenden Woche stattfinden. Sultan Barakat, Leiter des Doha Institute for Graduate Studies, begrüßte die Entscheidung der Jirga. Das von Barakat geführte Institut, das vollständig von der katarischen Regierung finanziert wird, gilt als Hauptorganisator der innerafghanischen Friedensgespräche. Barakat, ein Palästinenser aus Jordanien, der jahrelang in Großbritannien lebte und lehrte, stellt sich meist als optimistischer Charismatiker dar.

"Westliche Ideen und Lösungen bringen uns nicht weiter"

"Wir müssen die Probleme unserer Region selbst lösen. Westliche Ideen und Lösungen bringen uns nicht weit", meinte er etwa im vergangenen Jahr vor einer Gruppe von Diaspora-Afghanen, die sein Institut nach Katar eingeladen hatte, um an den Friedensgesprächen - die dann doch nicht stattfanden - teilzunehmen.

Barakats Ansätze klingen durchaus vernünftig. Gleichzeitig macht er keinen Hehl aus den politischen und wirtschaftlichen Interessen der Gastgeber. Nicht jedem Afghanen gefallen Barakats und Katars Pläne. "Wie wäre es, wenn Herr Barakat erst einmal den Konflikt in seiner palästinensischen Heimat löst, bevor er sich an uns Afghanen wendet?", meint etwa Kadir Mohmand, aus US-Afghane, der einst auf Seiten der Mudschaheddin gegen die Rote Armee kämpfte.

In einem Interview mit dem afghanischen TV-Sender Ariana meinte Mohmand vor Kurzem, dass sich fremde Nationen, "und dazu zählt auch Katar", nicht in Afghanistan einmischen sollten. "Wir brauchen einen echten Dialog. Keine Show, die von außen gesteuert wird", so Mohmand.