RKI-Files: Schweigen, Spekulation und ein erhärteter Verdacht

Professor Lothar Wieler, ehemaliger Präsident des Robert Koch-Instituts

Professor Lothar Wieler, ehemaliger Präsident des Robert Koch-Instituts. Bild: RKI / Rechte RKI

Freigeklagte Sitzungsprotokolle des Robert-Koch-Instituts werfen Fragen zur Unabhängigkeit in der Corona-Krise auf. Ein plötzlicher Umschwung erntet scharfe Kritik.

Kam die Entscheidung "von ganz oben"? Das ist die Frage mit dem politischen Sprengsatz.

Am vergangenen Mittwoch hat das Online-Magazin multipolar einen umfassenden Stoß von Dokumenten veröffentlicht.

Entscheidungen: Wie und von wem wurde das Risiko bewertet?

Sie geben einen Einblick in die "Entscheidungen unter Unsicherheit", die das Robert-Koch-Institut (RKI) während der Corona-Krise zu treffen hatte. Um die vielfach als "RKI-Files" bezeichneten Dokumente ist – weniger in den sogenannten Leit- als in den Sozialen Medien – eine Debatte entbrannt, die erhebliche Zweifel an der Entscheidungskompetenz der Behörde anmeldet.

Im Zentrum steht der von multipolar selbst vorgebrachte Vorwurf, wonach die Risikobewertung der Atemwegserkrankung Covid-19 nicht auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgt ist. Sondern mutmaßlich auf politischer Anweisung, womöglich des weisungsbefugten und übergeordneten Bundesgesundheitsministeriums.

Die Anschuldigung ist allerdings nicht neu. Vielmehr reißt sie alte Wunden des juristischen Widerspruchs gegen die weitestreichenden Grundrechtseinschränkungen der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.

Der Hintergrund: Die Klage

Das Online-Magazin multipolar hatte im November 2020 eine Klage gegen die oberste Infektionsschutzbehörde angestrengt. Der Grund war, dass diese im Juli einer presserechtlich verbürgten Auskunft zur Deklaration der "hohen Gefährdung" durch Covid-19 nicht nachgekommen sein soll.

Wie das Magazin berichtet, erging im März 2021 ein Beschluss des Verwaltungsgerichtes Berlin, "wonach die Behörde die Namen der höherrangigen Mitglieder des RKI-Krisenstabes offenlegen musste".

Im Mai 2021 stellte multipolar eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz und klagte Ende 2021 auf Einsicht in die Protokolle des RKI-Krisenstabes, nachdem die Behörde die entsprechende Antwort schuldig geblieben sein soll.

Die nun veröffentlichten Dokumente sind laut der Publikation das Ergebnis einer "überraschenden Kehrtwende", in der sich die Infektionsschutzbehörde 2023 entschlossen haben soll, mehr als 200 Sitzungsprotokolle vom Zeitraum Januar 2020 bis April 2021 freizugeben.

Die 456 nun öffentlich verfügbaren Dateien umfassen mehr als 2.500 Seiten im pdf-Format. Allerdings stehen die Dokumente des Krisenstabs der Öffentlichkeit nicht in ihrer ursprünglichen Abfassung zur Verfügung:

Beigefügt wurde den Protokollen ein mehr als 1.000-seitiges Dokument der das RKI vertretenden Anwaltskanzlei Raue, in dem diese die umfassenden Schwärzungen zum Teil entscheidender Stellen begründet.

Schwärzungen und eine weitere Klage

Darin finden sich unter anderem Verweise auf "RKI-interne Diskussionen zum vermehrten Auftreten von Impfnebenwirkungen", die Abstimmung des RKI mit einer "namentlich genannten Bundesoberbehörde" hinsichtlich der Definition des zeitweise nach politischer Anweisung vergebenen Genesenen-Status sowie Informationen, die "einen Rückschluss auf den Gang der Meinungsbildung innerhalb des RKI" zuließen.

Das Online-Magazin hat auf seiner Website bekannt gegeben, aktuell vor dem Verwaltungsgericht Berlin auf die Aufhebung der Schwärzungen zu klagen. Die entsprechende Verhandlung ist auf den 6. Mai terminiert.

Das RKI vertröstet Telepolis

Der Kernvorwurf des multipolar-Berichts betrifft die Entscheidung des RKI, seine Risikoeinschätzung am 17. März 2020 von "mäßig" auf "hoch" angepasst zu haben. Wie den Sitzungsprotokollen der Behörde zu entnehmen ist, wurde bereits am Vortag Folgendes festgehalten:

Am WE [=Wochenende] wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald [Stelle geschwärzt] ein Signal dafür gibt.

Sitzungsprotokoll des RKI-Krisenstabs vom 16. März 2020

Im darauffolgenden Protokoll vom 17. März heißt es dann:

In dem heutigen Pressebriefing hat (Stelle geschwärzt, vermutlich handelt es sich um den damaligen RKI-Präsidenten Lothar Wieler) über die geänderte Risikoeinschätzung informiert. Durch den starken Anstieg der Fallzahlen wird die Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung jetzt als "hoch" eingestuft.

Sitzungsprotokoll des RKI-Krisenstabs vom 17. März 2020

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hatte noch am 14. März auf (damals) Twitter verkündet, dass "massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens" nicht geplant seien und entsprechende Behauptungen als "Fake-News" zurückgewiesen.

Am 22. März verhängt die Regierung den ersten Lockdown, der zunächst auf zwei Wochen beschränkt sein soll. Die geänderte Beurteilung des RKI fällt genau in diesen Zeitraum. Allein deshalb liegt sie im "überragenden öffentlichen Interesse", mit denen presserechtliche Auskunftsansprüche normalerweise begründet werden können.

Telepolis hat bei der Infektionsschutzbehörde noch am vergangenen Mittwoch eine Anfrage zu dem zentralen Vorwurf des multipolar-Berichts gestellt. Die zentrale Frage lautete:

"Aus welchen Gründen ist im März (speziell am 16. bzw. am 17. des Monats) die Anpassung der Risikoeinschätzung von Covid-19 (von zunächst "mäßig" auf "hoch") erfolgt und welche Entität/Instanz/Akteur hatte diese aus welchen Gründen zu verantworten? Falls es sich dabei nicht um das RKI selbst handelt, um wen dann?"

(Aus der Telepolis-Anfrage an das RKI)

Der Bitte um eine Beantwortung binnen 24 Stunden ist die Behörde mit dem Verweis auf einen "angemessenen Zeitrahmen" nicht nachgekommen. Eine Antwort wurde trotzdem angekündigt, diese soll "voraussichtlich Anfang kommender Woche" erfolgen, so eine Sprecherin.

Über die betreffende Entität, die die folgenreiche Änderung angestoßen hat, kursieren plausible Spekulationen. Doch dazu später.

Der verschwiegene Diskurs

Im Zuge der Veröffentlichung der sogenannten RKI-Files wurden speziell in den Sozialen Medien eine Reihe von weiteren Anschuldigungen gegen die Behörde vorgebracht. Eine Reihe von Accounts auf der Plattform X (vormals Twitter) hat sich bereits bemüht, diese Anschuldigungen zu entkräften.

Sie verweisen darauf, dass die aufgeführten Erwägungen nicht als Standpunkte zu verstehen sind, sondern den Diskussionsrahmen innerhalb des RKI abbilden, der nicht notwendigerweise mit den Überzeugungen der Krisenstabs-Teilnehmer zusammenfallen muss. Das macht die Veröffentlichung aber nicht weniger brisant.

Denn in den Sitzungsprotokollen finden sich auch eben solche Erwägungen, die wenig oder keinen Eingang in den hochpolitisierten und größtenteils einseitig geführten öffentlichen Diskurs gefunden haben. Die folgende Zusammenstellung kann angesichts der erst kürzlich erfolgten Veröffentlichung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

Bedenken gegenüber der Folgewirkung von Lockdowns:

"Konsequenzen des Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als Covid selbst", wird ein Einwurf des ZIG (Zentrum für Internationalen Gesundheitsschutz) im Protokoll vom 16. Februar 2020 im Zuge einer Diskussion über die Situation in Afrika wiedergegeben.

Das Thema ist bis heute umstritten und nicht eindeutig geklärt, was nicht zuletzt an der schwierigen Messbarkeit jener "schwereren Konsequenzen" liegt.

Die Alternativlosigkeit von Lockdowns gegenüber einem verfassungsrechtlich gebotenen milderen Mittel jedenfalls kann nicht als bewiesen gelten. Auch vor diesem Hintergrund wundert die im Sitzungsprotokoll vom 29. Mai 2020 festgehaltene Erwähnung eines Papiers der Bill & Melinda Gates Stiftung, das

den epidemiologischen Verlauf und das Management von 3 Ländern weltweit auf(greift), die als Best Practice Beispiele gewürdigt werden, darunter DEU. Als Co-Autoren sind (geschwärzt) und (geschwärzt) vorgesehen.

Sitzungsprotokoll des RKI-Krisenstabs vom 29. Mai 2020

Der Zeitpunkt zur Bestimmung jenes Vorbild-Charakters scheint zumindest verhältnismäßig früh gewählt.

Schulschließungen:

Am 13. März 2020 wird im Protokoll noch für alle Teilnehmer festgehalten:

"Es ist unklar was die Konsequenz ist wenn die Schulen jetzt für 4 Wochen schließen, ggf. kommt bei Wiedereröffnung zu einer verstärkten Aktivität (Interpunktion im Original)."

Am 16. März wird mit Verweis auf eine Studie zur Infektionshäufigkeit bei Kindern und Jugendlichen die Einlassung dokumentiert, "dass Schulschließungen prinzipiell sinnvoll sind".

Die anfänglichen Unklarheiten dürften sich indes aber nicht beseitigt haben, zumal spätere Erkenntnisse in die entgegengesetzte Richtung weisen und selbst der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Strategie als "Fehler" bezeichnete.

Eignung von FFP-2-Masken für den Infektionsschutz

"Es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes", heißt es in einer noch abzustimmenden Dokumentation im Protokoll vom 30. Oktober 2020. Diese Einschätzung hat sich später geändert, wurde aber auch danach immer wieder in Zweifel gezogen.

(Ungeklärte) Rückläufigkeit von Nachweisen anderer Atemwegserkrankungen

Im Protokoll vom 18. November 2020 stellt das Fachgebiet für Influenzaviren und weitere Viren des Respirationstraktes (FG17) eine "Diskrepanz zwischen hohem Covid-Positivenanteil und regredientem Rhinovirenpositivenanteil" fest.

Dieses anscheinend umgekehrt proportionale Verhältnis setzt sich auch in einer für "alle" festgehaltenen Bemerkung vom 28. Dezember 2020 fort, wo es heißt: "Influenzanachweise so niedrig/ausbleibend, warum?"

Herdenimmunität durch Impfung

Die Impfung als "Ausweg aus der Pandemie" hat sich rückblickend zwar eindeutig als Narrativ erwiesen. Kritiker lesen eine Frage im Protokoll vom 8. Januar 2021 jedoch so, als ob es sich dabei auch nie um mehr gehandelt habe: "Verabschieden wir uns vom Narrativ der Herdenimmunität durch Impfung?" heißt es dort in einem "generellen Update".

Bemerkenswert ist, dass diese Frage, die doch erhebliche Zweifel ankündigt, lange vor dem Bundestags-Beschluss einer Impfpflicht (zunächst) für Gesundheitspersonal am 10. Dezember gestellt wurde.

Rolle des Alters und der Impfung im Hinblick auf Covid-19-Todesfälle

"Sterbefallzahlen leicht unter dem Durchschnitt der Vorjahre", heißt es in einem Beitrag vom 19. März 2021 aus dem Fachgebiet 32: Surveillance und elektronisches Melde- und Informationssystem (DEMIS). "Das Hauptrisiko, an COVID-19 zu sterben, ist das Alter", heißt es weiter.

Das deckt sich mit der Statistik auf der Website des RKI, wonach 90 Prozent der Corona-Toten 70 Jahre oder älter sind. Der Hamburger Rechtsmediziner Benjamin Ondruschka bezifferte das durchschnittliche Todesalter 2021 sogar auf 83 Jahre.

Im selben Dokument hält FG32 fest: "Noch ist nicht zu sehen, dass aufgrund des Impfeffekts weniger alte sterben", allerdings versehen mit einem Fragezeichen. Trotzdem wird gefordert: "Das Argument, dass Ältere auch ohne Impfung versterben, sollte entschärft werden."

Ein weiterer Einwurf, der in den Sozialen Medien für brisant erachtet wurde: "Covid-19 sollte nicht mit Influenza verglichen werden, bei normaler Influenzawelle versterben mehr Leute [!], jedoch ist Covid-19 aus anderen Gründen bedenklich(er)". Zumal sich die von anderer (geschwärzter) Stelle eingebrachte Beurteilung vom 11. Dezember 2020 noch deutlich anders liest:

Fazit: deutliche Schwere im Vergleich zu Influenza hinsichtlich Mortalität, Übersterblichkeit kann ohne präventive Maßnahmen wie im Frühjahr extrem hoch sein, selbst mit Maßnahmen höher als bei Influenza.

Protokoll des RKI-Krisenstabs vom 11. Dezember 2020

Massentests und falsch positive Ergebnisse

Besonders brisant, und daher nicht in der hier nur grob chronologischen Ordnung aufgeführt, ist eine Bemerkung vom 20. November 2020, die "allen" beziehungsweise dem RKI-Vizepräsidenten Lars Schaade zugeordnet wird. Brisant deshalb, weil sie den Kernvorwurf nährt, den nicht nur multipolar gegenüber dem RKI vorgebracht hat:

Die Sensitivität der Tests liegt bei ca. 80%, die Spezifität bei ca. 98%. Das Ergebnis hängt von der Güte der Tests ab. Es ist mit einem hohen Anteil falsch positiver Ergebnisse zu rechnen.

Protokoll des RKI-Krisenstabs vom 23. November 2020

Die Initiative der Fachanwältin für Strafrecht, Jessica Hamed

Die an der Hochschule Mainz lehrende Fachanwältin für Strafrecht, Jessica Hamed, setzt sich seit Beginn der Corona-Krise dafür ein, dass die pandemischen Grundrechtsbeschränkungen in ihrer Verhältnismäßigkeit transparent und nachvollziehbar kommuniziert werden.

Und hat sich mehrfach dort auf rechtlichem Wege gewehrt, wo diese Transparenz der Entscheidungsfindung aus ihrer Sicht nicht gegeben ist.

Dazu gehörte insbesondere auch die nun erneut kritisierte Risikoeinschätzung des RKI, die sich auf die per Massentestung erhobenen Fallzahlen gründet.