Radikaler Systemwechsel statt Bildungskosmetik
Im Bildungswesen herrscht ein Durcheinander von Zuständigkeiten und Gremien mit ungeklärten Aufgaben. Der von der Koalition angekündigte Nationale Bildungsrat kommt nicht in die Gänge. Doch für das Gerangel und die Trödelei haben wir keine Zeit mehr, wenn unser Bildungssystem künftig Klasse statt Masse liefern soll
Zuerst sollte einmal geklärt werden, welche Art von Bildung wir künftig brauchen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Was wir mit Sicherheit nicht brauchen werden, sind Menschen mit Verwaltungsmentalität, die das Risiko und Veränderung scheuen, die nicht rechts und nicht links schauen. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen Menschen mit Eigeninitiative, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, die kreativ und offen für Neues sind, bereit gewohnte Pfade zu verlassen sowie vernetzt und fachübergreifend denken können. Wir brauchen Menschen mit unternehmerischer und digitaler Kompetenz, Menschen, die Leader statt Follower sein wollen und können - als Gründer und Mitarbeiter.
Damit wir das erreichen, reicht nicht ein bisschen Kosmetik hier und da, sondern nur ein radikaler Systemwechsel in der Bildungspolitik. Die wichtigsten Maßnahmen dabei sind die Abschaffung des föderalen Systems in der Bildung und mehr Autonomie für Schulen und Universitäten in pädagogisch-didaktischer, finanzieller, organisatorischer und personeller Hinsicht.
Lernen zu lernen
Wir brauchen eine tiefgreifende Reform des Bildungssystems, ausgelegt auf Innovation und Unternehmertum sowie Digitalisierung, angepasst an die Bedürfnisse der Menschen und der Unternehmen. Menschen, Unternehmen, Kulturen sind nur dann erfolgreich und überlebensfähig, wenn sie sich an veränderte Umgebungsbedingungen anpassen können.
Damit warten wir schon viel zu lange. Wir hinken der digitalen Entwicklung mittlerweile so weit hinterher, dass wir einen ganzheitlichen, umfassenden Plan brauchen, mindestens für Deutschland, am besten für ganz Europa. Das bedeutet für mich auch, dass Bildung in Deutschland nicht mehr Ländersache sein darf. Wir brauchen eine Abkehr vom Föderalismus und einen Plan, der bereits in der Kita beginnt und sich konsistent durchzieht bis zur Universität und in den Beruf. Lebenslanges Lernen darf keine Worthülse bleiben. Dafür müssen sich nicht nur die Bildungsinhalte und -methoden ändern, sondern ebenso die Strukturen, die Finanzierung und das Selbstverständnis der verschiedenen Bildungsorganisationen.
Grundlage für ein neues Bildungssystem sind meiner Ansicht nach drei Dinge:
- Wir alle sind Lehrende und Lernende - lebenslang
- Aus Wissens- muss Kompetenzvermittlung werden
- Wir müssen lernen zu lernen
Entscheidend wird in jeder Bildungsphase sein, Eigenständigkeit und Kreativität der Lernenden zu fördern. In einer digitalen Gesellschaft sind die wichtigsten absoluten und komparativen Vorteile des Menschen seine Fähigkeiten zu kreativem Denken, zur flexiblen Anpassung an die unterschiedlichsten Anforderungen, zu Reflexion, kritischem Denken und zur komplexen Kommunikation. Wir müssen lernen zu lernen, selbstständig Probleme zu lösen und Lösungen umzusetzen. Reines Wissen ist in der digitalen Gesellschaft schnell abrufbar und noch schneller veraltet.
Mehr Eigenständigkeit
Es würde dem gesamten deutschen Bildungssystem gut anstehen, wenn Schulen mehr Selbstständigkeit, mehr Unabhängigkeit und damit auch mehr Selbstverantwortung erhielten. Das würde sich positiv auf die Motivation von Leitung und Lehrenden auswirken sowie auf die Motivation der Schüler und Studenten. Niemand kann ein Unternehmen erfolgreich führen, wenn er nicht entscheiden kann, wie das Budget verwendet, wo investiert wird oder wie viele und welche Leute eingestellt werden.
Für die Hochschulen gilt im Grundsatz dasselbe wie für die Schulen: mehr Autonomie und eine zukunftsfähige Finanzierung. Hochschulen sind Organisationseinheiten von der Größe mittlerer Unternehmen. Sie können und sollten nicht als nachgeordnete Einrichtungen von Ministerien behandelt und geführt werden. Ziel muss sein, dass Hochschulen mehr eigene Entscheidungsverantwortung übernehmen können und im Gegenzug dem Staat, den Steuerzahlern und ihren Kunden, den Studenten, Rechenschaft über ihre erbrachten Leistungen ablegen.
Die Schweden machen vor, wie man es besser machen kann. Schulen und Universitäten sind dort in hohem Maße selbstständig und besitzen entscheidende Freiräume und Entscheidungskompetenzen, sowohl im Bereich der Personaleinstellung oder der Weiterbildung als auch in der Arbeitsplatzentwicklung oder der gesamten Schulentwicklung. Gesteuert wird das Bildungssystem durch "Management by objectives", das heißt: die Swedish National Agency for School Improvement (Skolverket) setzt übergeordnete Ziele, gibt jedoch keine Details vor. In meinem Buch "Digitaler Suizid. Warum wir vom Hightech-Standort zum Entwicklungsland verkommen und was wir dagegen tun können" gehe ich ausführlich auf das schwedische Modell ein.
Lehrerausbildung ist der Knackpunkt
Kinder sind mit ihrer Neugier und Kreativität die geborenen Unternehmer, doch unser Bildungssystem sorgt dafür, dass sie diese natürlichen "unternehmerischen" Kompetenzen verlieren und sie später in Seminaren mühsam wieder trainieren müssen. Es untergräbt Individualität, achtet nicht auf die individuelle Geschwindigkeit der Entwicklung, konzentriert sich zu sehr auf Theorie und Wissensvermittlung und stellt viel zu früh viel zu viele Regeln auf. Wir bremsen die Entwicklung unserer Kinder statt sie zu fördern.
Wir sollten informelles und selbstorganisiertes Lernen fördern, so wie wir mittlerweile in vielen Unternehmen auf sich selbstorganisierende Teams setzen. Kompetenzen werden wichtiger als Wissen. Die Lernenden übernehmen im Lernprozess einen aktiven Part. Der Lernende wird mit Unterstützung des Lehrers zum Lehrenden. Dabei geht es nicht darum, Referate zu halten oder Präsentationen vorzutragen, sondern um gemeinsames Lernen und Vorwärtskommen. Das funktioniert am besten auf der Basis "echter" Probleme, die in der Gruppe gelöst werden. Der Lehrer ist dabei Moderator und Berater.
Gute Lehrerinnen und Lehrer sind für das Bildungswesen entscheidend. Das künftige Aufgabenspektrum umfasst das Unterrichten, Erziehen, Diagnostizieren, Beurteilen sowie die Beratung und die Partizipation an der Schulentwicklung. Lehrer werden zum Berater und Coach der Kinder und Jugendlichen, die ihnen dabei helfen, lernen zu lernen und sich selbst weiterzuentwickeln. In diesem Sinne ist es die wichtigste Aufgabe der Lehrenden, die Lernenden dabei zu unterstützen, ihr individuelles Potenzial zu entdecken, zu entfalten und zu nutzen. Doch das können sie nur, wenn sie dem Schüler gegenüber nicht mehr als über sein Schicksal entscheidende Kontrollmacht auftreten, sondern als diejenigen, die ihm die Werkzeuge anbieten, um sich selbst Ziele zu setzen und diese auch zu erreichen.
Von Dr. Hubertus Porschen ist gerade das Buch "Deutschland begeht digitalen Suizid. Warum wir vom Hightech-Standort zum Entwicklungsland verkommen und was wir dagegen tun können" erschienen. Porschen ist Gründer und Geschäftsführer der App-Arena GmbH in Köln, promovierter Volkswirt, Social-Media-Experte und Keynote Speaker für Digitalisierung und Innovation. Er studierte BWL in Marburg und promovierte zum Thema "Der akademische Unternehmer". Während des Studiums arbeitete er bereits in mehreren Startups, die er teils mitgegründet hat. In seinem Blog befasst er sich mit digitaler Transformation, Persönlichkeitsentwicklung, Unternehmertum, Politik und Wirtschaft. Bis zum März 2018 war er Bundesvorsitzender der Jungen Unternehmer.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.