Rätsel um Scheich Mohammed

Tot, lebendig, frei oder in Gefangenschaft - Verschwörungstheorien und Gerüchte machen die Runde

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Es macht immer einen Unterschied, ob man jemanden eine Information sagen lässt oder ob man sie ohne Quellenangabe zum Faktum erklärt. Im Hinblick auf die berichtete Verhaftung des mutmaßlichen Chefplaners des 11. September 2001, Khalid Scheich Mohammed, haben Journalisten sich überwiegend für letzteres entschieden. Der Effekt: Zeitungsberichte widersprechen sich teils gegenseitig. Von der gebotenen Vorsicht, die die strittige Ausgangslage gebietet, ist in der Berichterstattung kaum etwas zu spüren. Berichte, Scheich Mohammed sei schon früher verhaftet worden oder gar tot, spielen keine Rolle im aktuellen Nachrichtengeschäft. Die Person Khalid Scheich Mohammed droht nun im gleichen schwarzen Loch zu verschwinden, das bereits Ramzi bin al-Shibh, den mutmaßlichen 9/11-Hintermann, geschluckt hat. (vgl. Wie ein schlechter Krimi

Khalid Scheich Mohammed hat 1986 laut CNN einen Ingenieursabschluss an der Universität von North Carolina gemacht. Wenn die weiteren Berichte stimmen, dann ist er in erster Linie ein terroristisches Schwergewicht. Laut einem Bericht des al-Jazeera-Reporters Yusri Foda hat der Scheich in einem Interview zugegeben, zentral an der Planung der Anschläge des 11. September 2001 mitgewirkt zu haben. Ermittlern gilt er als Operationschef von al-Qaida und enger Vertrauter Osama bin Ladens. Nach amerikanischen Angaben soll er bei den Planungen der Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania (1998) und auf das US-Kriegschiff "USS Cole" (2000) beteiligt gewesen sein. Auch bei dem Attentat auf die Ghriba-Synagoge auf Djerba (2002) soll der Scheich eine Rolle gespielt haben. (SZ, 3.3.03)

Nach CIA-Erkenntnissen steht er auch hinter den vereitelten Plänen José Padillas, in den USA eine "schmutzige Bombe" zu zünden. CNN will wissen, dass auch der Schuhbomber Richard Reid, der am 22. Dezember 2002 in seinen Schuhen Sprengstoff an Bord eines Flugzeugs geschmuggelt hatte, seine Berichte direkt an den Scheich gerichtet hat. Das FBI suchte ihn bis vor kurzem jedoch wegen einer 1995 vereitelten Anschlagserie. Mehrere amerikanische Passagiermaschinen hätten über dem Atlantik in die Luft gesprengt werden sollen.

Zentrale Figur bei dieser Terroroperation mit Namen "Bojinka" war ein gewisser Ramzi Yousef, von dem manche heute annehmen, dass er Scheich Mohammeds Neffe ist. Yousef wurde 1995 verhaftet und 1997 wegen Beteiligung an den Attentatsplänen und Durchführung des Anschlags auf das World Trade Center am 26. Februar 1993 verurteilt. Bemerkenswert ist ein Bericht der New York Times (28.10.93), dass das FBI Kenntnis von den Anschlagsplänen gehabt haben soll. Mit einem Informanten, der die Terroristengruppe unterwandert hatte, sei abgemacht worden, die Attentäter bis zum letzten Moment gewähren zu lassen und sie so bei frischer Tat zu ertappen. Dieser Plan sei jedoch von einem FBI-Agenten verworfen worden, so dass die Explosion im Parkhaus des Hochhauses stattfand.

Die Wochenzeitung Newsday (3.8.93) enthüllte Tonbänder, die der Informant von den entsprechenden Gesprächen mit dem FBI angefertigt hatte. Einem Bericht der Village Voice (3.8.93) zufolge hatte möglicherweise auch der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad die Terroristengruppe unterwandert.

Ob Khalid Scheich Mohammed 1993 eine Rolle gespielt hat ist unbekannt. Seit neuestem wird der angebliche Kuwaiter - andere sagen, er sei Pakistani - auch mit dem Mord an dem amerikanischen Journalisten Daniel Pearl in Verbindung gebracht (AP, 4.3.03) Für die Planung des Mordes hat ein pakistanisches Gericht bereits den in London aufgewachsenen Ahmed Omar Saeed Sheikh zum Tode verurteilt, ohne ihn jedoch der Durchführung des Mordes bezichtigt zu haben. Dem Independent zufolge war der frühere pakistanische Polizist zum Zeitpunkt des Mordes jedoch noch Mitarbeiter des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI. Bis heute besteht der Verdacht, dass dieser Dienst, über den die CIA den Aufbau von al-Qaida betrieben hat, Osama bin Laden und seine "Basis" unterstützt, statt sie zu bekämpfen. Der ehemalige indische Sicherheitsberater Bahukutumbi Raman vermutet, Omar sei nicht an die USA ausgeliefert worden, da diese sich sonst gezwungen hätte fühlen können, "gegen Pakistan vorzugehen".

Aktuellen Berichten zufolge ist Scheich Mohammed mittlerweile zum Verhör auf der "Bagram Air Force Base" in Afghanistan. Dieses setzt natürlich voraus, dass er nicht bereits zu einem früheren Zeitpunk gefangen oder getötet worden ist. Dahingehende Berichte verschwanden schnell aus den Zeitungen.

Tod oder lebendig...

Wir erinnern uns: Ersten Berichten zufolge ist bin al-Shibh im Laufe eines Feuergefechts am 11. September 2002 im pakistanischen Karachi verhaftet worden. Die mutmaßlichen Bilder bin al-Shibhs im blauen T-Shirt standen unter dem Vorbehalt, dass sie auch am Ort des Feuergefechts gefilmt worden waren. Am 15. September berichtete dann die Washington Post, dass bin al-Shibh zwar an diesem Tag, aber "im Schlaf" bei einer früheren Razzia verhaftet worden sei. Insgesamt hätten an diesem Tag drei Razzien stattgefunden, bei denen acht mutmaßliche Qaida-Anhänger verhaftet und zwei weitere getötet worden seien. Pakistanische Polizisten seien sicher, dass Khalid Scheich Mohammed einer der Toten gewesen sei. Pakistanische und amerikanische Geheimdienstmitarbeiter hätten dafür jedoch "keine Anhaltspunkte". Überhaupt sei die Verhaftung bin al-Shibhs ein Zufall gewesen, denn eigentlich wollte man Scheich Mohammed festnehmen. Die Los Angeles Times berief sich Ende 2002 schließlich auf ISI-Agenten, Mohammeds Söhne seien seit September in Gewahrsam, der Vater aber wäre auf der Flucht. Eine Flucht schien auch die Asia Times Online zu bestätigen. Die Namen der getöteten wurden mit Mohammad Khalid und Saleh Ibrahim angegeben. Handelte es sich einfach nur um eine Verwechslung, wie das TIME Magazine nahe legt

Einem späteren Bericht der Asia Times Online ist zu entnehmen, dass es sogar Scheich Mohammeds eigenes Appartement gewesen sei, dass unter Feuer lag. Und: In der Nähe des pakistanischen Geheimdienstes platzierten Quellen zufolge sei er bei der gemeinsamen ISI/FBI-Operation - entgegen anderslautenden Anweisungen - tatsächlich erschossen worden. Von einem "official", der bei der Stürmung zugegen gewesen sei, will man erfahren haben, dass der Scheich mit seinem eigenen Blut noch einen Satz an die Wand geschrieben habe, bevor er starb: "Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet." Diese Bilder seien in pakistanischen Zeitungen zu sehen gewesen.

... oder längst gefangen?

Es gibt eine dritte Version. Weiteren Medienberichten zufolge ist Scheich Mohammed bereits im Juni, vor oder nach Yusri Fodas angeblichem Interview verhaftet worden. Die Financial Times zitierte die "begründeten Zweifel" einer Islamismus-Expertin an der Echtheit des Foda-Interviews: "Das Skript könnte vom FBI geschrieben worden sein." Die Gerüchteköche überschlagen sich ob der Undurchschaubarkeit der psychologischen Kriegsführung. Waren Ramzi bin al-Shibh und Khalid Scheich Mohammed längst in Haft und haben die USA die Verhaftungen zu einem Zeitpunkt inszeniert, an dem sie propagandistisch wichtig sind? Wirkt die Nachricht über Scheich Mohammeds Verhaftung nicht demoralisierend auf al-Qaida, kurz vor dem möglichen Beginn eines dritten Golfkrieges, der die arabische Welt zutiefst empören würde?

Alle Versionen können nicht wahr sein. Welche ist falsch? Aussagen pakistanischer und amerikanischer Offizieller widersprechen sich. Wer lügt?

Die Asia Times Online hat mittlerweile eine Erklärung auf ihrer Webseite veröffentlicht: Man könne nicht unabhängig bestätigen, dass Khalid Scheich Mohammad tot, lebendig, frei oder in Gefangenschaft ist. Verwirrung, Verschwörungstheorien und Gerüchte machten die Runde. Klar sei nur, dass Aussagen offizieller oder inoffizieller Quellen nicht als Fakt genommen werden dürften.

Vernachlässigung journalistischer Handwerksregeln

Eine journalistische Handwerksregel besagt, dass nur unstrittige Sachverhalte als Fakt berichtet werden dürfen. Deutsche wie britische Medien haben trotz allem keinen Zweifel an der Verhaftung. Aussagen einer Quelle im Text werden zu allgemeingültigen Aussagen in der Überschrift. (vgl. Chronologie erster Presseberichte)

Bevor die Sachlage geklärt war, setzte die Deutung durch die Politik ein Bis 24 Stunden nach erstmaligem bekannt werden der angeblichen Verhaftung herrschte die Meinung vor, Scheich Mohammed sei Stunden nach seiner Festnahme US-Behörden übergeben worden, die ihn an einen unbekannten Ort gebracht hätten. (Reuters, 2.3.03, 05:30) Einen Tag später dementierte das pakistanische Innenministerium Berichte des Informationsministeriums. Mohammed befinde sich nicht in US-Gewahrsam, sondern werde weiter in Pakistan verhört. Zuvor hatte US-Präsident Bush die vermeintliche Gefangenschaft mit den Worten begrüßt, sie sei "fantastisch". Der Vorsitzende des Geheimdienst-Ausschusses des US-Repräsentantenhauses Porter Goss hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon mit der Befreiung von Paris während des Zweiten Weltkriegs verglichen. (Reuters, 2.3.03, 17:01)

Von der gebotenen Vorsicht, die allein schon die strittige Ausgangslage gebietet, ist in der Berichterstattung kaum etwas zu spüren. Tariq Ali weist darauf hin, dass man fast alles, was man über al-Qaida und deren Bekämpfung weiß, von Geheimdiensten weiß. Es sei schon "ziemlich unglaublich", dass Mohammed derjenige ist, der er genannt wird. Seltsam sei, dass er seinen Unterschlupf ausgerechnet ins Viertel des Militärgeheimdienstes gelegt haben soll.

Widersprüche im Beweis-Vakuum

Die offizielle Version der Verhaftung - etwa von CNN - besagt, dass etwa zwei Dutzend amerikanische und pakistanische Agenten am 1. März um drei Uhr morgens das Haus der Familie Qadoos im pakistanischen Stadtteil Rawalpindi gestürmt und dabei neben dem Hausbesitzer Ahmed Abdul Qadoos auch Scheich Mohammed und einen Ausländer verhaftet hätten. Die Wahrheit ist nicht so einfach. Die Schwester des Verhafteten gab an, die Agenten hätten ihre Stiefschwester und deren Kinder in Schach gehalten, eine Stunde lang das Haus durchsucht und ihren Bruder mitgenommen. Zu keinem Zeitpunkt aber seien andere Männer im Haus gewesen. Sie wisse nicht, "was die Polizei hier wollte." Der pakistanische Innenminister, der darauf bestand, dass Scheich Mohammed in diesem Haus verhaftet worden sei, sagte, "in solchen Fällen" gäben sich die Familien immer unschuldig. Vielleicht war es aber auch so, wie die Los Angeles Times berichtete. Demnach wurde Scheich Mohammed bei der Stürmung eines zweiten Hauses in der Nähe verhaftet. Qadoos hätte bereits unter ISI/FBI-Überwachung gestanden und sei erst am Freitag zu Mohammeds Appartement gegangen. Quellen im pakistanischen Innenministerium werden angegeben. Der Autor ist nicht bei seiner Version geblieben. Warum eigentlich nicht?

Was schließlich von der "Taliban-Quelle" zu halten sei, die zu Protokoll gab, Scheich Mohammed sei in Sicherheit und die USA sollten ihre Behauptung doch beweisen, weiß der Independent-Nahostexperte Robert Fisk auch nicht. Er will erst an einen "Durchbruch im Krieg gegen den Terror" glauben, wenn ihm die Beweise vorliegen.

Das aber ist genau das Problem. Auf Beweise, dass am 11. September 2002 Ramzi bin al-Shibh tatsächlich verhaftet worden ist, warten die Welt jetzt seit dem. Er ist im schwarzen Loch der Militärtribunale verschwunden. Die USA haben sogar alles getan, um den Beweis nicht erbringen zu müssen.

Im schwarzen Loch der Militärtribunale

Im Prozess gegen den mutmaßlichen Hamburger al-Qaida-Statthalter Mounir al-Motassadeq weigerten sich die USA, bin al-Shibh aussagen zu lassen. Die Verteidigung wollte diesen als Zeugen vorladen, denn die Anklage basiert in weiten Teilen auf al-Motassadeqs angeblich enge Verbindungen zu bin al-Shibh. Der Jemenit stehe aber "nicht zur Verfügung". Nichtmal ein gerichtsfähiges Aussagenprotokoll wollte man herausrücken. Auch das Bundeskriminalamt und der Bundesnachrichtendienst, die angeblich im Besitz entsprechender Protokolle sind, durften diese auf Weisung der Bundesregierung nicht ans Gericht weiterleiten. Die Bundesregierung befürchtete eine "Schädigung des Verhältnisses zu den USA durch eine öffentliche Verlesung der Protokolle". (SZ, 25.1.03) Aussagen von bin al-Shibh sind im Hamburger Prozess letztendlich nicht verwendet worden.

Ein amerikanisches Berufungsgericht entscheidet zur Zeit, ob das Bundesgericht in Virginia Zugang zu bin al-Shibh erhalten soll. Dort wird der Fall Zacarias Moussaoui verhandelt. Sollte das Berufungsgericht entsprechend entscheiden, will die US-Administration Moussaouis Fall zu einem Militärtribunal wechseln. Bin al-Shibh soll offenbar auf keinen Fall seinem schwarzen Loch entkommen. Schließlich geht es um die "nationale Sicherheit".