Rassismus: "Wir sind nicht frei"

Protest zum gewaltsamen Tod von George Floyd, Charlotte, USA, 6. Juni 2020. Bild: Clay Banks/unsplash

Damit die aktuelle Debatte über Rassismus nicht wirkungslos verpufft, braucht es Veränderung und Dialog. Im Gespräch mit Andrea Karimé und Said Boluri

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Seit dem Mord an George Floyd in Minneapolis, seit den neuerlichen Black-Lives-Matter-Demos ist Rassismus wieder ein Thema. Medial. Gesellschaftlich. Es wird drüber gesprochen. In Talkshows und auch anderswo. Und obwohl es Ansätze gibt, die von Rassismus betroffenen Menschen zu Wort kommen zu lassen, ist es doch nach wie vor eine einseitige Debatte.

Eine von vielen, die aufgrund eines aktuellen Anlasses hochkocht und wahrscheinlich wieder vergessen werden wird, sobald sie vom nächsten großen Thema verdrängt wird - sei es irgendwas mit Corona oder irgendwas mit Geld. Man kennt das.

"Nicht an Dialog interessiert"

Die medialen Aufmerksamkeitsspannen sind kurz, die gesellschaftlichen auch. Dass es viele Menschen gibt, die nicht weiß sind, die sich tagtäglich mit Alltagsrassismus und institutionalisiertem Rassismus rumschlagen müssen ist etwas, das die Mehrheitsgesellschaft nicht gerne hört. Das erlebt auch Andrea Karimé. Die in Köln lebende Kinderbuchautorin ("Tee mit Onkel Mustafa"; "Der Wörterhimmel des Fräulein Dill") sagt:

"In meinem Arbeitsumfeld wird viel über das Thema gesprochen, aber eben nicht mit Menschen, die selbst rassistische Erfahrungen machen. Man ist nicht an Dialog interessiert."

Das sieht sie als großes, wenn nicht gar das größte Problem der Debatte. Die Einseitigkeit. Und die erlebt sie durchaus auch dort, wo man es erstmal nicht erwarten würde: In der Kulturszene, unter Schriftstellern und Künstlern. "Es gibt die Debatte darüber, was man noch sagen oder schreiben darf", sagt sie.

"Auch bei der Frage, ob das N-Wort aus älteren Kinderbüchern entfernt werden soll, wird viel gesprochen, aber es wird nicht gefragt, wie es schwarzen Menschen damit geht. Viele wollen das gar nicht wissen. An dem Wort hängen so viele Verbrechen - und bei anderen, ähnlich gelagerten Begriffen, beispielsweise solchen, die Juden betreffen, steht ja auch nicht zur Debatte, ob man sie weiter verwenden soll oder nicht. Aber beim N-Wort fühlt sich manch einer direkt angegriffen, als wollte man ihm etwas wegnehmen."

Angst vor Verlust von Macht und Privilegien

Ähnliches beobachtet auch der Duisburger Sozialwissenschaftler Said Boluri, der 2019 ein Buch über seine eigenen Erfahrungen mit Rassismus geschrieben hat, über seine Flucht aus Iran und das schwierige Ankommen in Deutschland ("Der Himmel über der Grenze"). Er nimmt bei Weißen eine Angst davor wahr, Macht und Privilegien zu verlieren:

"Dabei verstehen viele nicht, dass Weißsein an sich schon ein Privileg ist. Sie hinterfragen das gar nicht. Sie haben Angst, Migranten könnten ihnen etwas wegnehmen. Und aus dieser Position heraus argumentieren Weiße, die nie Rassismus oder damit zusammenhängende Diskriminierung erfahren haben, über Rassismus und reden ihn klein. Das ist völlig realitätsfern."

Die Debatte an sich, meint Boluri, ändere wenig an den herrschenden Zuständen. Aber die Demonstrationen und auch dass sich politisch etwas bewegt, sei wichtig. Das neue Antidiskriminierungsgesetz in Berlin beispielsweise sieht er als "wichtiges Signal für die Betroffenen".

So ein Signal sieht Andrea Karimé auch in der Eröffnungsrede zum diesjährigen Ingeborg Bachmann-Wettbewerb von Sharon Dodua Otoo, die große Aufmerksamkeit erhält. Otoo hatte 2016 den Bachmannpreis gewonnen.

"Das ist es, was Sharon Dodua Otoo in Bezug auf den Umgang mit Sprache und Begriffen meint: Wir sind nicht frei."

In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk sagte Otoo, "Schwarz" verstehe sie "als ein Verb", als "Erfahrung, die man macht, wenn man in einer überwiegend weißen Gesellschaft lebt."

Und:

"Ich möchte anregen, dass alle darüber nachdenken, denn bei Diskriminierung geht es nicht faktisch um das, was die Person ist. Ich werde nicht diskriminiert, weil ich so aussehe, sondern weil jemand sich etwas in den Kopf gesetzt hat und das etwas mit mir verbindet, was mit mir gar nichts zu tun hat."

"Sie wollen nicht darüber nachdenken"

Und solche verzerrten Bilder, die letztlich rassistische Ressentiments verfestigen, kommen zustande, wenn es an Dialog und Interesse mangelt. "Man muss auch das große Ganze sehen", sagt Karimé.

"Verlage, Redakteure, Autorinnen und Autoren, Literaturvermittler - das ist alles überwiegend weiß-deutsch, es gibt wenig Vielfalt, und dadurch fehlen, wie auch Sharon Dodua Otoo sagt, die anderen Geschichten und Erfahrungen. Es fehlen Reflexion und Dialog. Wenn ich mit Kindern arbeite habe ich einen spielerischen mehrsprachigen Ansatz, und das kommt bei den Kindern gut an, die sind sehr offen für neue Perspektiven."

Die Probleme, berichtet sie, kämen eher von Erwachsenen: "Einmal wurde ich von einer Schulveranstaltung wieder ausgeladen, weil die Lehrerin meinte, ihre Klasse habe keinen Migrationshintergrund. Und genau das ist dieses falsche Denken - meine Arbeit richtet sich an alle Kinder. Kinder sind generell viel aufgeschlossener als Erwachsene."

Das beobachtet auch Said Boluri, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet und ungefiltert mitbekommt, wie sie schon in jungen Jahren erste Erfahrungen mit Rassismus machen müssen:

"Sie berichten mir zum Beispiel, dass sie Schwierigkeiten bei Bewerbungen haben, dass sie oft nicht mal eine Antwort bekommen, während ihre weißen Mitschüler mit deutschen Namen zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Bei gleicher Qualifikation. Diese jungen Menschen freuen sich über die aktuelle Debatte, darüber, dass überhaupt über das Thema gesprochen wird, dass sie Gehör finden."

Doch dass sie Gehör finden ist selten. Die Regel ist eher, dass ihnen mit Ablehnung begegnet wird. "Oft fehlt einfach die Empathie", sagt Boluri.

"Viele Menschen können oder wollen nicht innehalten und sich vorstellen, wie es ist als Schwarzer oder Migrant. Sie wollen nicht darüber nachdenken, wie es sich anfühlt, immer der einzige zu sein, der von der Polizei kontrolliert wird. Stichwort racial profiling. Und dieselben sind es dann, die Migranten generell kriminelle Absichten unterstellen, dabei zeigt schon die Kriminalitätsstatistik, dass das einfach nicht stimmt. Wer diskutieren will, muss sich vorher informieren. Ich habe für diese Oberflächlichkeit und Empathielosigkeit kein Verständnis."

Nach den Ursachen gefragt, verweist Andrea Karimé auf die Kolonialzeit, die in Deutschland eine viel zu geringe Rolle spielt. Im Schulunterricht kommt sie nahezu nicht vor, sie ist bis heute ein weitgehend blinder Fleck in der deutschen Geschichte:

"Man muss anerkennen, dass es diese weiße Überheblichkeit und Vormachtstellung gibt, und dass das viel mit den Kolonialverbrechen zu tun hat - und dass es viel nachzuholen und zu lernen gibt. Dass jeder einzelne Defizite hat, die es auszugleichen gilt, und zwar im Dialog. Es braucht ernsthaften Austausch, die Bereitschaft, zuzuhören und gegenseitigen Respekt. Und vielleicht muss man auch ein wenig Platz machen."

Said Boluri schließt sich dieser Perspektive an:

"Wir wären ein großes Stück weiter, wenn es mehr gegenseitiges Interesse gäbe, wenn man einander mal zuhören würde, ohne gleich in eine Ablehnungshaltung zu gehen."