Raus aus meiner Bubble!
Der London-Marathon wagt sich als weltweit erster Marathonveranstalter dieses Jahr ans Live-Event mit eigens entwickelter Corona-Sicherheitstechnologie. Die sogenannte "Bio-Secure-Bubble" soll bald weltweit für Profisport-Events eingesetzt werden können
Nun also doch nicht. Die Veranstalter des London-Marathons trieb seit Wochen und Monaten nur eine Frage um: Wie könnte er doch noch stattfinden für alle Teilnehmer, der Marathon, der in der Szene das Highlight des Jahres ist? Nach langem Ringen, Planen und Abwägen ist nun klar: Zwar werden die bereits angemeldeten Teilnehmer sich am "Virtual Run" live beteiligen können, das Rennen an sich wird allerdings nur für Profisportler stattfinden. Eine handverlesene Gruppe Weltklasse-Athleten wird am 4. Oktober im St. James Park in London gegeneinander antreten. Möglich macht es die sogenannte "Bio-Secure-Bubble".
Was nach Science-Fiction klingt, ist erst mal nichts anderes als das, was im Profisport gerade ständig praktiziert wird: Athleten werden vor, während und nach dem Sportereignis auf Covid getestet und streng abgeschirmt während ihres Aufenthalts am Austragungsort.
Beim London-Marathon sieht das konkret so aus: Getestet wird schon vier Tage vor Abflug oder Anreise der Läufer, weitere Tests folgen vor Ort in London. Wohnen dürfen die Athleten nur in einem speziell dafür angemieteten Hotel, gemeinsam mit ihren Betreuer-Teams. Schlafen muss jeder im Einzelzimmer und ausnahmslos Maske tragen, außer beim Training oder Essen.
Das mit Spannung erwartete Rennen findet dann nicht auf der gewohnten Marathonlänge von 42,195 Kilometer am Stück statt, sondern auf speziell abgeschirmten 2,15 Kilometer-Runden, die jeder und jede 19 Mal rennen muss. Plus 1,3 Kilometer Zieleinlauf. "Man kann sich das vorstellen wie bei der Formel 1", so die Veranstalter.
Gemeinsam, einsam: Der Virtual Run
Zuschauer vor Ort werden am 4. Oktober nicht zugelassen, sie können das Event aber live verfolgen und zudem am Tag selbst und sogar zur selben Zeit wie die Weltelite antreten zu ihrem ganz persönlichen "Virtual Run", der populären Antwort der Laufszene auf die Pandemie.
Das wäre an sich schon spannend genug, denkt man die Umstände des Jahres mit. Bisher mussten sich ambitionierte Läufer und Marathonfans mit einsamen Trainings am Wohnort begnügen. Oder sich eben virtuell messen an anderen durch Aufzeichnung der persönlichen Bestzeit über Smartwatches und eigens dafür angelegte Apps. Aber damit nicht genug - angeblich haben die Veranstalter des London-Marathons in monatelanger Entwicklungsarbeit die Technologie entwickelt, mit der sportliche Großveranstaltungen in Zukunft möglich gemacht werden könnten.
Corona-App deluxe für Sportler
Was jetzt nur an der Elite probiert wird, könnte laut Veranstalter bald für alle Teilnehmer eines sozial distanzierten Sportevents eingesetzt werden: "Seit Monaten haben wir versucht, den London-Marathon doch noch stattfinden zu lassen. Gedacht war ein Rennen oder Lauf mit sozialer Distanz und weniger Teilnehmern, doch auch das erscheint uns zu riskant. Was bleibt, ist die revolutionäre Technologie, die wir entwickelt haben und die bald weltweit auf den Markt gebracht wird - die 'Bio-Secure-Bubble'."
Neben der menschlichen Abschirmung und damit dem Schaffen einer Blase der Sicherheit bedeutet das auch den Einsatz einer "revolutionären Technologie, die mit Bluetooth und Superbreitband" von allen Teilnehmern genutzt werden muss. Nur so kann man verlässlich überwachen und analysieren.
Die Veranstalter erklären ihre Idee im internen Newsletter für Teilnehmer ausführlicher: Ergäbe die Analyse der Daten nach dem Laufevent, dass sich ein Läufer länger als 15 Minuten näher als 1,5 Meter von einer anderen Person aufgehalten hat, bekäme dieser eine Warnnachricht. Hat diese spezielle Person nach dem Event gemeldet, dass sie Corona-Symptome an sich erkennt, bekommen zusätzlich alle, die sich in unmittelbarer Nähe befunden haben, eine Warnnachricht.
Sieht so die Zukunft der Marathonszene aus? Und die von Sportveranstaltungen? Weniger Teilnehmer und jeder virtuell überwacht in seiner eigenen "Bubble"?
Etwas erinnert die "Bubble"-Technologie natürlich an die Corona-Apps, die in den vergangenen Monaten diskutiert wurden, nicht zuletzt in puncto Datenschutz. Auf Sportevents bezogen hieße das nun, dass alle Teilnehmer sich zur Nutzung dieser Technologie einverstanden erklären müssten, damit sie verlässlich funktioniert.
Die euphemistische Blase
Blase an Blase könnte dann gesportelt werden. Doch wovor genau schützt sie, die "Bubble"? Wie die Wortwahl schon anklingen lässt, sollen Teilnehmer in dieser Blase sicher sein vor dem Faktor "Bio"-Einfluss, sprich biologische Gefahren. Konkret gesagt: Menschen. Noch konkreter: potenziellen Virenschleudern.
Sprache schafft Realität. Wird das unser neuer Wunschzustand? Realität schafft Sprache. Ist das bereits unser aller geheimer Traum? Sich sicher bewegen in einer Wohlfühlblase aus Abstand zu anderen, die einem potenziell den unter Umständen tödlichen Virus geben könnten.
Sind andere Menschen nur noch Gefahren, denen wir beim Einkaufen, in der Bahn und auf dem Bürgersteig besser und vorsichtshalber ausweichen sollten? Ja, sagt die Wissenschaft. Abstand, Desinfektion, Vorsicht!, lautet die Maxime, mit der wir leben müssen, solange Corona weiter wütet. Was macht das mit unserem Sozialleben und Denken auf Dauer?
Darüber könnte man nachdenken. Aber auch darüber, was eigentlich ganze Berufsgruppen gerade tun, um zu überleben, darunter eben auch Berufssportler. Heutzutage mehr denn je sind Sportler Marken, die sichtbar bleiben müssen und vor allem - man hat es am Beispiel Fußball gesehen, - bitterlich kämpfen (müssen) um die Möglichkeit, weiter Geld zu verdienen, im Spiel zu bleiben.
Welch absurde Ausmaße das annehmen kann, hat dieses Jahr Ironman-Weltmeister Jan Frodeno gezeigt. Per Liveübertragung konnten ihm Zuschauer stundenlang dabei zusehen, wie er sich bei sich zu Hause in Girona abmüht auf dem Heimtrainer, im eigenen Pool gegen eine Wellenmaschine anschwimmt und schlussendlich einen Marathon auf dem Laufband absolviert, nur um die offizielle Ironman-Distanz abzuhaken. Und sichtbar zu bleiben. Man könnte auch sagen: Geld zu verdienen, denn die Marke Frodeno wurde während der 8,5 Stunden programmatisch beworben durch Werbe-Clips und auch der Spendenmarathon zum Event fehlte nicht.
Frodeno versinnbildlicht, wie sehr Spitzensportler und die ganze Maschinerie dahinter ums Überleben kämpfen. Umso größer ist nun die Neugier auf die Technologie, die den Profisport doch noch retten, vielleicht sogar schon für Olympia eingesetzt werden könnte?
"Fuck 2020": Corona als Berufs-Aus für Spitzensportler
Oder könnte der London-Marathon ebenso ein Flop werden wie der jüngste Großevent-Versuch in Davos? Nach monatelanger Wettkampfflaute freute sich die Triathlon-Community in schwindeligen Höhen über das erste offizielle Wettrennen bei der #ChallengeDavos, nur um dann in ein noch tieferes Loch zu fallen, als das Rennen wieder abgesagt wurde. Schwere Gewitterstürme zwangen die Veranstalter dazu, das Rennen gleich zu Beginn abzubrechen. Ex-Ironman-Weltmeister Sebastian Kienle fasste es kurz und knackig so zusammen: "Fuck 2020!"
Jetzt also noch mal von vorne mit doppelter Spannung, technologisch wie menschlich. Neben den "Bio-Secure"-Zuständen am 4. Oktober wird das Verfolgen des London-Marathons auch deshalb interessant, weil der amtierende Weltrekordhalter und Sympathie-Superstar Eliud Kipchoge gegen Kenenisa Bekele antritt. Dieser wiederum ist Kipchoge mit nur 2 Sekunden Abstand auf seine Weltrekordzeit im wahrsten Sinne des Wortes auf den Fersen. Kann er Kipchoge schlagen, der zuletzt die übermenschliche Hürde, einen Marathon in unter 2 Stunden zu rennen, geschafft hat?
Das fragt sich die weltweite Läuferszene gerade. Das und wo man als virtueller Teilnehmer bloß die 42,195 Kilometer in seinem Dorf oder seiner Stadt am Tag des Marathons laufen kann. Und dann vielleicht noch, wie zur Hölle man sich mit der Bluetooth-Funktion am Handy eine DIY-Bio-Secure-Bubble basteln kann.