Rechte Unruhen in Großbritannien: Soziale Medien als Brandbeschleuniger
Algorithmen lassen besonders polarisierende Kommentare viral gehen. "Alternative mediale Ökosysteme" als Gefahr. Experten fordern umfassende Auseinandersetzung.
Im Zuge der gewaltsamen Ausschreitungen, die Großbritannien nach den Morden in Southport erschütterten, richtet sich der Fokus der britischen Öffentlichkeit vermehrt auf die Rolle sozialer Medien bei der Verbreitung radikaler Ideologien, berichtet der britische Guardian.
Motor der gesellschaftlichen Polarisierung
Der Vergleich mit der Reaktion auf das Massaker von Dunblane 1996, als eine landesweite Welle des Entsetzens zu einer raschen Verschärfung der Waffengesetze führte, steht in krassem Gegensatz zur aktuellen Situation.
Heute scheinen Algorithmen, die besonders emotionale und empörende Kommentare viral gehen lassen (in Verbindung mit einer Kette aus Wut und Fehlinformationen) die rechten Ausschreitungen befördert zu haben. Social Media scheint heute immer mehr als Motor der gesellschaftlichen Polarisierung zu fungieren.
Die preisgekrönte Journalistin Maria Ressa sieht in den sozialen Medien eine zentrale Kraft, die Gewalt in den Mainstream hineinträgt. Anders als früher, als persönliche Kontakte von führenden Persönlichkeiten gesellschaftlicher Gruppen zur Versöhnung beitrugen, würden nun "die Mechanismen, die Extremisten und Terroristen radikalisieren, auf die breite Öffentlichkeit angewandt."
Plattformen wie Telegram, Bitchute, Parler und Gab schaffen ein alternatives Informationsökosystem, das oft unsichtbar unter der Oberfläche agiert und eine Brutstätte für rechtsextreme, verschwörungstheoretische und extremistische Ideologien darstellt, so Ressa.
"Alternatives mediales Ökosystem"
Julia Ebner, Leiterin des Labors für gewalttätigen Extremismus am Centre for the Study of Social Cohesion an der Universität Oxford, sieht in den aktuellen Ereignissen eine Bestätigung ihrer Befürchtungen. "Das alternative mediale Ökosystem befeuert diese Narrative", sagte Ebner gegenüber dem Guardian.
Sie sieht insbesondere in der Verbreitung von Desinformation, die Menschen zur Gewaltanwendung verleite, eine Gefahr. Derartige Vorfälle erinnern an die Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018 oder den Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021.
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Politiker und Entscheidungsträger seien gefordert, die Online-Welt nicht mehr von der realen Welt zu trennen, erklärt die Journalistin Ressa. Die Technologie, die hinter diesen Ereignissen stehe, sei jedoch noch nicht ausreichend adressiert worden.
Der Leiter des britischen Inlandsgeheimdiensts MI5, Ken McCallum, bezeichnete zwar den Rechtsextremismus als die größte inländische terroristische Bedrohung für Großbritannien, konkrete Schritte gegen die technologischen Ursachen blieben aber aus.
Debatte um Rolle digitaler Technologien gefragt
Die Befürchtung, dass politische Entscheidungsträger wie Premierminister Keir Starmer mit Maßnahmen wie der Ausweitung von Gesichtserkennungssystemen weiteren Schaden anrichten könnten, wird von Bürgerrechtsorganisationen wie Big Brother Watch geteilt.
Die Durchsetzung von Datenschutzbestimmungen oder polizeiliche Maßnahmen gegen Aufrufe zur Gewalt seien zwar wichtig, würden aber immer nur eine nachträgliche Reaktionen darstellen, betont der Fachanwalt Ravi Naik betont gegenüber der Zeitung.
Zudem seien inzwischen viele Poliker selbst radikalisiert, wie Ebner betont: "Sie sagen jetzt Dinge, die sie früher nicht gesagt hätten, und benutzen Codes der extremen Rechten, indem sie mit Verschwörungsmythen kokettieren, die früher zu rechtsextremen Randbewegungen gehörten", so die Sozialwissenschaftlerin.
Die Problematik sei zu groß, um sie spontan oder mit kurzfristigen Reaktionen anzugehen. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Rolle digitaler Technologien scheint nicht nur in Großbritannien mehr denn je notwendig zu sein.