Rechtes Erdbeben in Frankreich
Die Ergebnisse des ersten Durchgangs der Präsidentschaftswahlen setzen Frankreich unter Schock
Am 5.Mai wird Jacques Chirac im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen nicht, wie von allen erwartet, auf Kaum-noch-Premier Lionel Jospin treffen, sondern auf Jean-Marie Le Pen und seine altbekannten nationalen Parolen. Diese verheerende Niederlange der französischen Sozialisten hat Jospin mit seinem Rückzug aus der Politik beantwortet. "Schock" und "politisches Erdbeben" waren die Wörter, die man am Sonntag Abend am häufigsten in den französischen Medien zu hören bekam. Kurz nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse begannen in ganz Frankreich spontane Demonstrationen gegen Le Pen und den Rechtsextremismus. Gleichzeitig wurde zu einer großen Protestversammlung im Laufe der nächsten Tage aufgerufen. Le Pen versuchte derweilen in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme die erhitzten Gemüter zu beruhigen: "Habt keine Angst, liebe Mitbürger! Tretet in die Hoffnung ein!". Erste Eindrücke von einem turbulenten Wahlabend.
Während der 73-jährige Le Pen, der sich bereits zum vierten Mal um das Präsidentschaftsamt bewirbt, seine 17,2% der Stimmen genüsslich im Wahlhauptquartier des "Front National" auskostete, herrscht im Rest des Landes blankes Entsetzen: "Heute weinen viele Franzosen", erklärte Finanzminister Laurent Fabius sichtlich erschüttert. Der aus dem Rennen geschlagene Jospin sprach von einem "Donnerschlag", der ihn angesichts des Siegeszuges eines rechtsextremen Kandidaten getroffen habe. Der vorläufige Wahlsieger Jacques Chirac erinnerte in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme an die "große humanistische Tradition Frankreichs", rief dazu auf, gemeinsam die Menschenrechte zu verteidigen und die Autorität des Staates wiederherzustellen.
Chirac, der laut einer Blitzumfrage mit 80% der Stimmen als strahlender Sieger aus der in zwei Wochen statt findenden Stichwahl hervorgehen soll, setzt mit letzterer Aussage ungebrochen das zentrale Thema des bisherigen Wahlkampfes fort: Die leidige Debatte um die innere Sicherheit oder besser gesagt "Unsicherheit", wie sie schon seit Monaten von den französischen Medien getrommelt wird, könnte es auch zum Grossteil gewesen sein, die Lionel Jospin aus dem Rennen geschlagen hat.
Aber auch der Umstand, dass sich viele Wähler aus dem linken Spektrum lieber "kleinen", tiefroten Kandidaten zugewendet haben. Wie z.B. dem kommunistischen Briefträger Olivier Besancenot , der mit Parolen, die man aus der Anti-Globalisierungs-Ecke kennt, immerhin um die 4 % der Stimmen mobilisierte, oder Arlette Laguiller, Repräsentantin einer Kleinpartei namens "Lutte Ouvriere" (Arbeiterkampf), die mit Schlagwörtern aus der kommunistischen Zeitmaschine stolze 5,8% für sich gewinnen konnte. Insgesamt kamen die "Links-von-Links"-Kandidaten" auf 10% der Stimmen. Die kommunistische Partei, in der Regierung derzeit noch mit zwei Ministern vertreten, musste allerdings ebenfalls mit kläglichen 3,6% eine schwere Wahlschlappe hinnehmen.
Das Lager der Politikverdrossenen glänzte an diesem Wahlsonntag durch eine rekordverdächtige Abwesenheit: 28,5% der an die Urnen gerufenen Franzosen haben es vorgezogen, sich der Qual der Wahl zu entziehen. Insgesamt 16 Kandidaten hatten sich um das oberste Amt im Staate beworben.
Dabei hatte das Schreckgespenst aller aufrechten Demokraten namens Jean-Marie Le Pen den Einzug in die Wahlschlacht fast nicht geschafft. Wer sich in Frankreich um das Präsidentschaftsamt bewirbt, braucht zunächst einmal 500 Unterschriften gewählter Volksvertreter, um überhaupt kandidieren zu können. Knapp vor dem Abgabetermin hatte er seine Unterschriften noch nicht beisammen und zeterte, dass auf die Bürgermeister, die ihm bereits ihre Stimmen versprochen hätten, politischer Druck ausgeübt worden sei, um seine Kandidatur zu verhindern.
Die benötigten Unterschriften hat Le Pen quasi noch in letzter Minute zusammenkratzen können und so sieht sich nun Chirac einem Rivalen gegenüber, der die Gaskammern des Nationalsozialismus als "Detail der Geschichte" ansieht, was ihm 1997 in München eine Geldstrafe wegen Volksverhetzung eingebracht hatte. Im gleichen Jahr wurde ihm das EU-Abgeordneten-Mandat entzogen, nachdem er in Frankreich eine Politikerin geschlagen hatte. In seinem aktuellen Programm verlangt er die Wiedereinführung der Todesstrafe für "Kinderschänder", lässt er keine der klassischen Parolen der Rechtsextremen ungesagt an sich vorbeiziehen, tönt er "Franzosen zuerst", wenn es um die Integration der Einwanderer geht, oder "Wiederherstellung der französischen Souveränität", wenn es um die Rolle der Grande Nation in der EU geht : " In Sozialfragen bin ich links, wirtschaftlich gesehen rechts und national gesehen mehr denn je französisch," erklärte der Veteran des Indochina- und Algerienkrieges am Wahlabend sein leicht verständliches Programm der gebannten TV-Nation.
Freilich will niemand ernsthaft daran glauben, dass Le Pen tatsächlich am 5. Mai das neue französische Staatsoberhaupt werden könnte. Doch das Signal, dass die französische Wählerschaft wahrscheinlich damit an das politische "Establishment", wie es Le Pen bezeichnet, senden wollte, ist nicht nur in den Augen Jospins "für unser Land besorgniserregend". Bislang hat das ständige Heraufbeschwören der "erschreckenden Kriminalitätsstatistiken" und der gefährlichen, "ausländischen" Jugend in den zur sensiblen Zone deklarierten Vorstädten vor allem einem genutzt: Jean-Marie Le Pen. Die Schockwirkung des gestrigen Wahlabends könnte aber auch die merklich erschlafften und verstreuten linken Kräfte des Landes wachrütteln und die von den Franzosen nur gering geschätzte "Cohabitation" damit fortsetzen. Eines ist jedoch jetzt schon gewiss: Die bissigen Kommentare der ausländischen Presse, die Frankreich mit dem Fall Haider in Österreich und Berlusconi in Italien gleichsetzen werden - man erinnere sich: Frankreich hatte sich in beiden Fällen erlaubt, "Lektionen" zu erteilen, wie Libération schreibt - werden der Grande Nation wohl nicht erspart bleiben.