Rechtfertigungsorgien aus dem Kanzleramt und konzertierte Hilfestellung von der ARD
Medienkritik: Keine Nachfragen, keine Gründe, dafür ein anderes Staatsverständnis. Anne Will bereitet Angela Merkel eine Bühne
"Es wird dazu kommen, dass wir das Richtige tun."
Angela Merkel, bei "Anne Will"
Es sind Offenbarungseide im halben Dutzend, die man in diesen Tagen in Deutschland erlebt. Politische Offenbarungseide, kommunikative Offenbarungseide.
Das "Oster-Ruhe"-Desaster der vergangenen Woche war ein politisches und ein kommunikatives Desaster für die Regierenden und ihre Corona-Politik. Für eines aber könnten sie gut sein: Die Fehler liegen offen zutage - Gelegenheit für politische Beobachter, endlich mit der Regierung abzurechnen. Stattdessen erlebt man aber allerorten Schongang.
Die größte Blöße geben sich in diesen Tagen die Medien, besonders die öffentlich-rechtlichen Sender. Wer den vergangenen Sonntagabend erlebte, der konnte nicht anders, als an eine konzertierte Aktion der ARD zur Unterstützung der Corona-Politik der Bundesregierung zu glauben.
Zuerst ein Staatsakt: Angela Merkel bei Anne Will. Merkel sagte nicht viel, außer dass sie "nicht glücklich" sei mit den Ministerpräsidenten, den bösen, den unartigen und mit ihren Beschlüssen, den falschen. Sie sagt: "Das erfüllt mich nicht mit Freude" - und meinte Armin Laschet, als ob der dafür da wäre, ihr Freude zu bereiten. Vor einem Jahr hatte die Kanzlerin von "Öffnungs- und Lockerungsorgien" gesprochen. Was man heute von ihr hört, sind Rechtfertigungsorgien.
Sie sagte nicht viel, aber die Moderatorin fragte noch weniger. Wie eine Debütantin auf dem Abi-Ball mit der Lehrerin, so sprach die Frau, die seit 14 Jahren mit vier Jahren Unterbrechung die Sonntagabend-Talkshow der ARD moderiert, mit der Politikerin. Es gab keine Nachfragen. Schon gar nicht nach Gründen für Merkels Politik oder nach Fakten der Pandemie: Ist der Inzidenzwert überhaupt geeignet, um das Risikopotenzial einer Epidemie einzuschätzen? Warum berücksichtigt die Kanzlerin nicht, dass ihre eigenen Experten ein Infektionsrisiko im Freien als praktisch nicht vorhanden charakterisieren?
Stattdessen Rücksichtnahme mit der "rhetorischen Wanderdüne" Merkel (Die Welt).
Am Tag danach nannte Die Welt das Gespräch eine "journalistische Kapitulationserklärung", eine "Osteransprache mit Überlänge und in Interviewform. Diese sollte den Zuschauern nicht die Meinungsbildung ermöglichen, sondern den Autoritätsverlust der Kanzlerin bei den Bürgern stoppen".
Merkel vertrat hier noch einmal ihr komplett anderes Staatsverständnis als das, das die Union traditionell hat: Der Vorsorgestaat; der lenkende, schützende Staat der totalen Sicherheit; ein lenkender, regelnder, auch resilienter Staat. Freiheit spielt eine untergeordnete Rolle, Selbstverantwortung auch.
Der ARD brachte es Quote: 4,3 Millionen, mehr als seit drei Monaten bei "Anne Will".
Journalistisch miserables Handwerk
Dann später in den Tagesthemen kam gleich Markus Söder hinterher und blies im Gespräch mit Carmen Miosga ins selbe Horn: "Ich habe da kein gutes Gefühl dabei." Da klang es fast identisch, als ginge es hier irgendwo um Gefühle. Dann kam die bekannte Forderung nach Ausgangs-Beschränkungen und allen möglichen anderen Dingen, die Markus Söder seit einem Jahr immer sagt. Auch hier fragte Moderatorin Miosga nur in eine Richtung: Verschärfungen. Nicht einmal in die andere Richtung. Zum Beispiel: "Warum lockern sie nicht? Was taugt das Tübinger Modell? Was könnten Nachverfolgungen, wenn sie denn klappen würden, überhaupt bringen?"
Die Interviewführung von Miosga war journalistisch miserables Handwerk. Frage: "Die Kanzlerin kann ja nicht alleine entscheiden." (Ach so? Oh, sollten die Bürger Mitleid haben mit der Armen? Aber ist sie nicht Kanzlerin? Und was hat sie denn entschieden oder zu entscheiden versucht?). Söders Antwort: ".. wir müssen uns dieser Herausforderung stellen und Corona bekämpfen." Stimmt, ist aber eine hohle Phrase.
Statt zu fragen: "Wie tun Sie das? Warum sind die Zahlen in Bayern so hoch", lautet die zweite Frage von Miosga wörtlich: "Aber das machen ja eben einige nicht, wie Sie ja zu Recht sagen..." (Wie jetzt? Die tagesthemen-Moderatorin gibt Söder Recht und behauptet, einige Ministerpräsidenten stellen sich nicht der Herausforderung und bekämpfen Corona nicht?). Wieder Söder: "Es gibt ja Länder wie wir, die machen konsequente Notbremse. Viele tun sich schwer mit der Notbremse." Dann verteidigt Söder nicht etwa die Hoheit der Bundesländer und verteidigt nicht die Freiheit des Freistaats Bayern, sondern knickt ein und gibt dem Bund Recht: In der Pandemie dürfe man die Hoheit der Länder schon mal einschränken.
Dritte Frage wörtlich: "Ist das jetzt spätestens der Moment, da das Infektionsschutzgesetz in diese Richtung geändert werden muss?" (Die Moderatorin sagt, ein Gesetz müsste geändert werden und relativiert diese Aussage nicht etwa zumindest etwas, indem sie ein "Ihrer Meinung nach" hineinschiebt, und sie spricht dabei aber ein Gesetz an, das erst vor wenigen Monaten geändert wurde. Sie legt dem Ministerpräsidenten eine Antwort in den Mund und zwar die Antwort, die er sowieso geben möchte.) Man fragt sich, wieso sie nicht neutral und unparteiisch den Ministerpräsidenten danach fragt, was er denn für Maßnahmen vorschlägt. Dann kann er ja seinen Punkt setzen. Ohne Vorlage.
"Es gibt ja auch viele Leute, die mahnen. Intensivmediziner sagen, dass das Beschlossene bei weitem nicht reicht und wenn wir nichts ändern, dann rennen wir sehenden Auges ins Verderben - so formuliert es der Verbandspräsident Gernot Marx."
Ins Zitat gekleidet zitiert Miosga ein Katastrophenszenario: "Verderben" - darunter geht es nicht. Warum zitiert sie nicht jene, denen die Maßnahmen zu weit gehen? Und sei es nur, um Söder aus der Reserve zu locken, ihm einen kritischen Punkt entgegenzusetzen? Es gibt auch die Soziologen, die Psychologen, die Mediziner, die mit anderen Krankheiten als mit Corona zu tun haben. Die mahnen in ganz andere Richtung, sie mahnen für Lockerungen. Mit welchem Recht nimmt die Interviewerin eine Position ein, in der sie auf der einen Seite sämtliche Ministerpräsidenten kritisiert und die Beschlusslage der vergangenen Woche? Aber nur, um dem Verschärfer, der vor ihr zum Interview sitzt, Munition zu geben, mit der er dann wieder verschärfen kann? Wo ist da die Ausgewogenheit, wo ist da das "Wenn und Aber"?
Auch die ARD hat ein anderes Staatsverständnis: Wo blieben am Sonntag die Politiker der Opposition? Wo blieb ein einziger, der Wasser in den Wein goss?
Die Bürger sind es leid
Es liegt sehr nahe, hinter beiden TV-Auftritten eine vorherige Abstimmung zu vermuten. Verloren geht über all diesen Personalquerelen aber die Politik. Besonders übel stößt der grundsätzliche defensive Gestus der Regierenden auf.
Es wird immer alles kleingeredet und es gibt immer irgendein Argument. Möglichst heißt es, dass in anderen Ländern die Dinge schlechter laufen. Wenn sich das nicht mehr behaupten lässt, dann sind die Ministerpräsidenten schuld oder der Föderalismus oder die Tatsache, dass bestimmte Politiker "nicht auf die Wissenschaftler" hören.
Wer nie schuld ist, ist die Kanzlerin, und wer nie schuld ist, das ist Söder. Was für eine Zeit und was für eine Energie zum Beispiel ein Markus Söder damit verbraucht, Interviews zu geben, in denen er sich vor allem versucht, sich doch noch als Kanzlerkandidat der Union in Stellung zu bringen, in denen er versucht, Armin Laschet schlecht aussehen zu lassen und auf die saarländische Öffnungsstrategie einzudreschen, anstatt in seinem eigenen Bundesland, dem einzigen, für das er zuständig ist, die Hausaufgaben zu machen.
Abgesehen von den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt und dem Stadtstaat Berlin hat Bayern nämlich immer noch die höchsten Inzidenzraten und vor allem die meisten Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung. Höher auch als Nordrhein-Westfalen und fast doppelt so viel wie das Saarland.
Warum versteht der Mann nicht, warum versteht die Kanzlerin nicht: Die Bürger wollen das alles nicht mehr hören und sehen. Sie wollen einfach, dass die Personen in den Ämtern ihren Job machen. Die Bürger sind es leid, einen Streit zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern untereinander zu haben. Wichtig ist, dass Lösungen auf den Tisch kommen.
Was sollen etwa die Dauerforderungen nach Verschärfung des Lockdown? Warum brauchen wir jetzt einen harten Lockdown? Ist der bisherige nicht hart genug? Wozu Ausgangssperren bundesweit? In Bayern und Baden-Württemberg gibt es längst abendliche Ausgangsbeschränkungen. Es gibt sie, weil dort die Zahlen besonders hoch waren. Sind sie seitdem heruntergegangen?
Merkel aber bringt zusätzliches Durcheinander in die Debatte, um ihren Autoritätsverlust auszugleichen. Wie schwach Merkel ist, merkte man gerade an ihren direkten Angriffen auf Laschet. Sie gab sich eine Blöße nach der anderen. Am Ende bleibt der Eindruck: Es herrscht Chaos und die Kanzlerin hat die Lage nicht mehr im Griff.
Da kann ihr auch die ARD nicht helfen.