Rechtsfreie Räume in linken Köpfen
Der Konflikt bei "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" über den Umgang mit einem angeblichen sexuellen Übergriff hat exemplarische Bedeutung für alle demokratischen Bewegungen
Die "Deutsche Wohnen & Co enteignen" beruft sich auf das Grundgesetz und erreicht große Teile der Berliner Bevölkerung, die am 26. September parallel zur Bundestagswahl in einem Volksentscheid demokratisch über die Vergesellschaftung von mehr als 200.000 Wohnungen großer Immobilienkonzerne abstimmen soll. Das Leitungsgremium der Kampagne beharrt aber weiterhin darauf, dass rechtsstaatliche Mindeststandards für sie intern keine Gültigkeit haben. Nach dem Vorwurf einer Aktivistin, sie sei vom Kampagnensprecher Michel P. sexuell belästigt worden, vertritt das Leitungsgremium die Position, dass diese Anschuldigung auch ohne weitere Nachfragen als unumstößliche Wahrheit zu bewerten ist.
Auch wurde dem Beschuldigten eine Anhörung zu den Vorwürfen verweigert. Als Vorbedingung für die Teilnahme an einem "transformativen Prozess" der Aufarbeitung durch eine Kommission und externe Berater wird von ihm ein Schuldeingeständnis verlangt. P. weist die Anschuldigung aber nach wie vor kategorisch als "frei erfunden" zurück.
Ein Stimmungsbild - also keine offizielle Abstimmung - auf dem Kampagnenplenum am Dienstag ergab eine Mehrheit für dieses Vorgehen. Eine Reintegration von P. in die Kampagne wurde abgelehnt. P. hat inzwischen die Konsequenzen gezogen und am Mittwoch auch selbst seinen Rückzug aus der Kampagne erklärt. Zu weiteren Stellungnahmen ist er derzeit nicht bereit, was angesichts der schwer fassbaren und extrem belastenden Vorgehensweise gegen ihn auch nachvollziehbar ist.
In der Tat ist das Prozedere vollkommen inakzeptabel. Es gibt eine Anschuldigung, die durch nichts substantiiert ist und dennoch postwendend zu einem Schuldspruch führt - mit weitreichenden Konsequenzen für den Beschuldigten und sein Umfeld. Nicht alle wollen da mitziehen, doch Kritiker - und auch Kritikerinnen - haben keine Chance.
Was sagen die Bündnispartner?
Es wird Zeit, sich damit zu beschäftigten, was das für eine Geisteshaltung ist, die nicht nur in dieser Kampagne, sondern auch in einigen anderen linken Zusammenhängen inzwischen hegemonial zu sein scheint. Das gilt vor allem für jüngere Aktive mit akademischen Background. Und es wird Zeit, nachzufragen, wie sich große und wichtige Unterstützer der Kampagne, die in ihrer Gesamtheit nicht diesem Milieu zuzuordnen sind, dazu verhalten. In diesem konkreten Fall sind das die Partei Die Linke, der Berliner Mieterverein (mehr als 180.000 Mitglieder) sowie die Gewerkschaften ver.di und IG Metall, deren Berliner Ortsverbände das Volksbegehren unterstützen. Und natürlich möchte man auch von Kampagne selbst eine Stellungnahme. Entsprechende Anfragen wurden bereits gestellt.
Dabei ging es unter anderem um folgende Fragen:
• Können Vertreter von vordemokratischen, diametral gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien (Unschuldsvermutung, Anhörung, faires Verfahren) gerichteten ideologischen Konstrukten Bestandteil breiter Bündniskampagnen sein?
• Wäre es nicht an der Zeit, dem System von Anschuldigung und automatischer Verurteilung ohne Anhörung und Untersuchung grundsätzlich den Kampf anzusagen und als unvereinbar mit demokratischen Prinzipien zu kennzeichnen?
• Bleibt ein "Eingeständnis" des Beschuldigten (der die Anschuldigungen kategorisch zurückweist und rechtliche Schritte gegen das vermeintliche Opfer eingeleitet hat) Voraussetzung für die jetzt geplanten "transformativen Prozesse"?
Vom Presseteam der Kampagne gab es eine lapidare, aber dennoch gerade deshalb erhellende Antwort: "Der Vorfall befindet sich in Klärung. Die Kampagne hat dafür auf demokratische Weise einen Prozess ausgehandelt, bei dem beide Parteien eingebunden werden sollen." Zynischer geht es kaum, denn die besagte "Einbindung" des Beschuldigten ist an ein vorheriges Unterwerfungsritual gekoppelt - und an die bedingungslose Anerkennung der Deutungs- und Verfahrenshoheit der Beschuldigenden.
Vonseiten der Partei Die Linke gibt es nur beredtes Schweigen auf entsprechende Anfragen. Diese richteten sich an vier Mitglieder des Landesvorstandes, darunter auch zwei aktive Mitstreiter der Kampagne. Am Mittwoch hat laut einem Partei-Insider der Geschäftsführende Landesvorstand über die Angelegenheit beraten. Doch offenbar will man sich zumindest nach außen nicht positionieren - schließlich ist die Kampagne das einzige große Wahlkampfpfund der Linken.
Auch von ver.di und der IG Metall gab es keine Antwort. Immerhin hat aber ein Mitglied des IG-Metall-Ortsvorstands innerhalb der Kampagne unmissverständlich eingefordert, dass man grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien akzeptiert, da dies die Voraussetzung für ein derartiges Bündnis und dessen Erfolg wäre. Aber das stößt dort auf wenig Resonanz.
Klare Worte vom Berliner Mieterverein
Geäußert hat sich allerdings Rainer Wild, der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, und das in gebotener Deutlichkeit. "Aus Sicht des Mietervereins ist selbstverständlich, dass es bei einem Vorwurf einer Straftat nicht an uns ist, dies zu bewerten. Dafür gibt es die rechtsstaatlichen Verfahren. Insoweit gilt die Unschuldsvermutung. Dazu kann es auch keine Alternative in einer politischen Initiative geben (...) Für den Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung, bis der Vorfall von den zuständigen Strafverfolgungsbehörden aufgeklärt ist". Man werde daher "weitere Gespräche mit Vertreter/innen der Initiative führen, um für den og. Umgang mit dem Vorfall zu werben. Ob sich weitere Konsequenzen daraus ergeben, wird sich zeigen".
Zwar könne man "keine Aussage darüber machen, wie und welchem Umfang ggf. Personen bei der Initiative mitwirken, die rechtsstaatliche Grundprinzipien missachten (…) Allerdings wird zu diskutieren sein, inwieweit innerorganisatorische Strukturen die durch den Vorfall entstandenen Konflikte begünstigten". Wild fordert die Initiative auf, "die Voraussetzungen für ein weiterhin gemeinsames Engagement für Hunderte von Aktiven zu schaffen (…) um das politische Ziel nicht zu gefährden".
Eine linke Existenzfrage
Den Protagonisten der Inquisition innerhalb der Kampagne dürften diese Aussagen ziemlich laut in den Ohren klingeln. Aber wird sie das beeindrucken? Zwar werden "Fehler" eingestanden, etwa im Umgang mit dem Büroteam der Kampagne, das rüde gecancelt wurde, weil es sich dieser Linie nicht unterwerfen wollte und von einigen deshalb als "Täterschützer*innen" diffamiert wurde.
Und es zirkulieren intern auch Papiere, in denen das "Definitionsmacht-Konzept" und der Umgang mit dem Beschuldigten deutlich kritisiert werden. Ganz zu schweigen von den vielen "einfachen" Unterstützern in den Stadtteilen, die vor Ort die Kärrnerarbeit machen, aber in akademisch geprägten Debatten um "Awareness" und radikalfeministische Konzepte keinen Platz finden und keine Stimme haben. Aber die Strippenzieher wollen ihren Kurs unbedingt durchhalten, und die Konflikte möglichst auf die Zeit nach dem Volksentscheid vertagen.
Das ist wohl keine gute Idee. Im Gegenteil. Die Kampagne steht stellvertretend für die in vielen linken Zusammenhängen grassierende Ablehnung rechtsstaatlicher Prinzipien und das Pochen auf die eigene "Definitionsmacht" und eine extralegale Urteilsbefugnis, besonders bei behaupteten sexuellen Übergriffen und rassistischen Diskriminierungen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Der Kampf gegen diese zutiefst reaktionären Strömungen muss jetzt geführt werden. Sie haben in linken, demokratischen und emanzipatorischen Bewegungen nichts zu suchen und könnten zu deren Totengräbern werden.
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