Rechtsfreier Raum Fernsehen
9Live klagt gegen die vom Sender selbst mitgestalteten Minimalregeln
Dass das Internet im Vergleich zum Fernsehen zumindest in einigen Bereichen "extrem überreguliert" ist, sah man unter anderem im Fall Callactive gegen Stefan Niggemeier: Während Call-TV-Produzenten mit ihren Zuschauern jahrelang ungestraft geschäftlich ausgesprochen interessante Dinge treiben durften, hagelte es für eine nur kurzfristig sichtbare in der Wortwahl nicht ganz angemessene Analyse eines Lesers in einem Forum sofort eine Abmahnung.
Dafür, dass so ein relativ "rechtsfreier Raum" entstehen konnte, wie ihn Gewinnspielsender nutzen, sorgten die Landesmedienanstalten - allem voran die bayerische, die BLM, die Lizenzen besonders freigiebig erteilte. Dabei gab es bereits seit mehr als fünf Jahren klare Hinweise darauf, dass solche Sender ihren Profit auf eine Weise erwirtschaften, die in anderen Bereichen möglicherweise sehr schnell massive rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Als die Zustände im Frühjahr 2007 durch die "Lauenstein-Affäre" schließlich mehr und mehr in Kritik an der Medienaufsicht mündeten, erarbeitete die BLM in enger Zusammenarbeit mit den Sendern eine "Gewinnspielsatzung". In einer Pressemitteilung vom 3. Mai 2007 bezeichnete der damalige 9Live-Geschäftsführer Marcus Wolter seinen Sender als "Vorreiter für transparentes, chancengleiches und faires Call TV", der "alle Maßnahmen für nachhaltig anwendbare Richtlinien" unterstützen würde. Ein gutes Jahr später verlautbarte man, dass die geplanten Maßnahmen "zum Großteil" schon jetzt praktiziert würden, weshalb man von der Vorschrift "keine wesentlichen Auswirkungen" erwarte. Im November 2008 stellte der Wolter-Nachfolger Ralf Bartoleit 9Live mit einer ähnlichen Begründung als "Treiber und Befürworter" der neuen Satzung dar und Sylker Zeidler, die Pressesprecherin des Senders, meinte noch am 10. Februar dieses Jahres, dass 9Live "maßgeblich" an der Erarbeitung der neuen Gewinnspielregeln beteiligt gewesen sei.
Dafür, diese "maßgebliche Beteiligung" anzuzweifeln, gibt es keine Anhaltspunkte: Schließlich waren die Regeln großzügig genug gestaltet. Unter anderem sieht die Satzung vor, dass die "Spielregeln" lediglich einmal in der Stunde "bildschirmfüllend" und "klar lesbar" sichtbar gemacht werden sollen. Allerdings beschwerten sich Zuschauer sehr bald bei der Landesmedienanstalt, dass sich 9Live nicht einmal an diese Minimalregeln halte und die Spielmodi über weniger als die Hälfte des Bildschirms in auf normalen Fernsehgeräten unleserlicher Schrift eingeblendet würde.
Nun wurde bekannt, dass der Sender beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eine Normenkontrollklage gegen die Satzung eingereicht hat. Hintergrund ist ein signifikanter Rückgang der Zuschaueranrufe, den ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling gegenüber DWDL auf die "juristischen Begrenzungen" zurückführte, welche nun für seinen Gewinnspielsender gälten.
Allerdings konnte Ebeling keine weiteren Belege dafür vorlegen, dass es tatsächlich die wenigen Regeln waren, die Zuschauer vor einer Teilnahme warnten. Genauso gut möglich scheint, dass mittlerweile einfach eine beträchtliche Anzahl potentieller Kunden durch Schaden klug oder für geschäftsunfähig erklärt wurde. Auch andere Geschäftsmodelle, bei denen eine gewisse Unterinformiertheit eines Vertragspartners eine wichtige Rolle spielt, lassen sich oft nur zeitlich begrenzt durchführen - dann muss beispielsweise der Hütchenspieler an eine andere Straßenecke umziehen. Ob ein Gewinnspielsender mit einem Wechsel des Programmplatzes einen ähnlichen Effekt erzielen könnte, ist eher fraglich: Schließlich dürften die zappenden Zuschauer beziehungsweise Nicht-Zuschauer weitgehend die selben bleiben.
BLM-Chef Ring unter Beschuss
Die BLM, die 9Live weiter den Sendebetrieb ermöglicht, steht währenddessen nicht nur institutionell, sondern immer stärker auch personell in der Kritik: Nachdem herauskam, dass BLM-Präsident Wolf-Dieter Ring durch jahrelanges Schweigen dafür sorgte, dass eine mögliche Vorteilsnahme des ehemaligen Medienratsvorsitzenden Klaus Kopka mittlerweile verjährt ist, scheint auch die Unterstützung durch die Bayerische Staatsregierung nicht mehr ganz so unumstößlich wie früher. Als die Opposition im Landtag den Rücktritt Rings und des ebenfalls belasteten aktuelle BLM-Medienratsvorsitzenden Erich Jooß forderte, kam auch FDP-Minister Wolfgang Heubisch nicht an einer öffentlichen Rüge vorbei.
Ein möglicher Grund für Rings Schweigen könnte gewesen sein, dass Kopka den BLM-Präsidenten 1993 beigesprungen war, als ihm der CSU-Politiker Peter Gauweiler - so die Süddeutsche Zeitung "ans Leder wollte". An dieser Stützungsaktion beteiligt war angeblich auch der Medienunternehmer Ralph Burkei, von dem Kopka zwischen 1994 und 2000 jene ungewöhlich günstigen Darlehen erhielt, über die Ring bis zum Ende der Verjährungsfrist schwieg. Pikant an diesen Geschäften ist unter anderem, dass der ehemalige CSU-Landtagsabgeordnete, der als einer der "Väter" des bayerischen Privatmedienaufsichtssystems gilt, zu dieser Zeit über Schleichwerbefälle zu entscheiden hatte. Kritiker warfen der BLM damals vor, gegen die Burkei-Firma Camp TV trotz zahlreicher Werbeverstöße nicht einmal geringfügige Sanktionen zu verhängen.