Regierungsbündnis verliert absolute Mehrheit

Nach den Parlamentswahl in Estland ziehen zwei neue Parteien in den Riigikogu ein

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Bei den gestrigen Parlamentswahlen in Estland blieb die regierende wirtschaftsliberale Reformierakond ("Reformpartei") stärkste Kraft, verlor aber drei ihrer bislang 33 Mandate im insgesamt 101 Sitze zählenden Riigikogu. Um ein Mandat von 26 auf 27 Sitze zulegen konnte dagegen die wichtigste Oppositionsgruppierung - die sozialliberale Keskerakond ("Zentrumspartei"), die vom Tallinner Bürgermeister Edgar Savisaar angeführt und traditionell von der Mehrheit der ethnischen Russen in Estland gewählt wird.

Nachdem auch der Koalitionspartner der Reformpartei, die Sotsiaaldemokraatlik Erakond (SDE), vier Sitze abgeben musste und jetzt statt über 19 nur mehr über 15 verfügt, hat das bisherige Regierungsbündnis keine absolute Mandatsmehrheit mehr. Auf die käme Ministerpräsident Taavi Rõivas von der RE auch dann nicht, wenn er die Sozialdemokraten durch das konservative Wahlbündnis Isamaa ja Res Publica Liit (IRL) ersetzt. Das verlor nämlich neun seiner bislang 23 Sitze.

Theoretisch möglich wäre eine Koalition aus Rõivas Reformpartei und Savisaars Zentrumspartei. Solch einem Bündnis stehen allerdings Positionsunterschiede in der Russlandpolitik entgegen: Während Rõivas Russland im Ukrainekonflikt als Aggressor und allgemein als Gefahr sieht, propagiert Savisaar eine Verbesserung der Beziehungen zum direkten östlichen Nachbarn. Weil sie in der Russlandfrage grundsätzlich anderer Meinung als Savisaar sind, haben im Vorfeld auch die Führer der Sozialdemokraten und der Konservativen eine Koalition mit der Zentrumspartei ausgeschlossen.

Rõivas bekräftigte nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse noch einmal explizit, dass er keine Koalition mit dem Zentrum bilden werde. Deshalb wird es wahrscheinlich zu einer Dreierkoalition unter Einbeziehung einer der beiden Parteien kommen, die am Sonntag die Fünf-Prozent-Hürde übersprangen und nun neu den Riigikogu einziehen:

Die Konservatiivne Rahvaerakond ("Konservative Volkspartei"), die gestern auf acht Sitze kam, entstand vor drei Jahren aus der Fusion der Agrarpartei "Estnische Volksunion" (die bereits in den 1990er und Nuller Jahren im Parlament saß) und der sowohl EU- als auch russlandkritischen "Patriotischen Bewegung". Im Wahlkampf propagierte die Rahvaerakond Volksabstimmungen nach schweizerischem Vorbild und die Gründung einer Bank in Bürgerhand. Außerdem warnte die Partei vor einer Übertragung weiterer Souveränitätsrechte nach Brüssel und sprach sich gegen die Aufgabe alter Gebietsansprüche an Russland aus.

Für Rõivas umgänglicher wäre möglicherweise die Vabaerakond ("Freie Partei"), die zukünftig sieben Sitze besetzt. Sie wird vom ehemaligen IRL-Abgeordneten Andres Herkel angeführt, der von 2004 - 2007 Fraktionsführer der Konservativen war und sich erst in der letzten Legislaturperiode mit ihnen zerstritt.

Ethnische Russen in Estland. Grafik: Abarmot. Lizenz: Public Domain.

Estland zählt geographisch zu den baltischen Staaten. Das Staatsvolk spricht jedoch (anders als - in Lettland und Litauen) keine baltische, sondern eine finno-ugrische Sprache, die dem Finnischen so ähnlich ist, dass viele Bürger das finnische Fernsehen recht gut verstehen. Das Gebiet wurde im 13. und 14. Jahrhundert von Dänen und deutschen Ordensrittern christianisiert. Mehrere Städte gehörten damals zur Hanse.

1561 und 1629 fiel das Land an Schweden; 1710 und 1721 eroberte es Zar Peter der Große. Nach einem zwei Jahre lang andauernden Krieg akzeptierte Sowjetrussland 1920 die Unabhängigkeit Estlands, die durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1940 bis 1991 unterbrochen wurde. In dieser Zeit siedelten sich vor allem im Osten des Landes zahlreiche Russen an, die heute etwa ein Viertel der insgesamt 1,3 Millionen Einwohner stellen. 2004 trat Estland der EU und der NATO bei, 2011 übernahm es den Euro als Landeswährung.

Wirtschaftlich entwickelte sich die nördlichste Baltenrepublik unter anderem durch eine gute Internetversorgung besser als andere europäische Länder. In den Jahren zwischen 1993 und 2007 konnten die Regierungen sogar Haushaltsüberschüsse verbuchen.

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