Reich werden mit Amazon

Durch diese Methode erzielt der Autor die dreifache Anzahl an gelesenen Seiten. Es werden einfach die vorher veröffentlichten Bücher vor das eigentliche Buch kopiert. Bild: Schreibfair

Seit der Einführung des Leihsystems Kindle Unlimited haben die Betrügereien eine Dimension angenommen, die alles Vorangegangene sprengt

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Bestseller kommen schon längst nicht mehr nur aus Verlagshäusern. Seit der Einführung von Kindle Direct Publishing (2011) haben viele Autoren die Möglichkeit genutzt, ihre Werke direkt über Amazons Webshop an den Leser zu bringen. Schon bald wurde diese Plattform dazu missbraucht, Fließbandbücher zu erstellen - lieblos zusammenkopierte Texte, die man sich aus den zahlreichen Quellen im Web "besorgte". Seit der Einführung des Leihsystems Kindle Unlimited1 haben die Betrügereien jedoch eine Dimension angenommen, die alles Vorangegangene sprengt und dies direkt unter den Augen des Internet-Giganten.

Was war geschehen? Um das zu erklären, muss man sich das sogenannte Select-Programm von Amazon anschauen.

Damit ein Buch an diesem Programm teilnehmen darf, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Für den Autor, der sein Buch den Lesern über deren Unlimited-Flatrate zur Verfügung stellen möchte, ist die wichtigste Voraussetzung die der Exklusivität. Der Autor verpflichtet sich, das betreffende Buch drei Monate lang exklusiv nur auf Amazon anzubieten.

Ihm entgehen dabei die Einnahmen von Verkäufen auf anderen E-Book-Plattformen, jedoch kommt er in den Genuss verschiedener Vorteile. Dazu zählen beispielsweise die Aufnahme in die Kindle-Unlimited-(KU-)Leihbücherei und seit Oktober 2014 der Amazon Allstar-Bonus, der für die 150 meistgelesenen Autoren vergeben wird. Erreicht ein einzelnes Buch eine gewisse Anzahl an gelesenen Seiten in der KU-Bücherei, vergibt Amazon zusätzlich noch einen Buchbonus, aber hier ist die gezahlte Prämie deutlich weniger attraktiv.

In mehreren Sprachen werden kopierte Rezepte aus dem Internet bei KDP hochgeladen. So tummeln sich Anbieter mit über 300 E-Books auf der Verkaufsplattform und sahnen kräftig ab. Bild: Schreibfair

Bis Juni 2015 bekam jeder Autor pro Leihvorgang eine bestimmte Summe ausgezahlt, die monatlich aus einem Gesamtfond neu errechnet wurde (zwischen 1,10 und 1,70 €).

Die Länge des Buches war für die Auszahlung irrelevant. In kürzester Zeit tauchten erste Nutznießer dieser lukrativen Einnahmequelle auf und luden zahlreiche Kurzgeschichten als "Fortsetzungsromane" über die Kindle-Plattform hoch. Amazon reagierte darauf, indem seit Juli 2015 bei Büchern der Leihbibliothek nach gelesenen Seiten abgerechnet wird. Ein sehr faires System, wie es auf den ersten Blick scheint, denn pro gelesener Seite schüttete Amazon im ersten Monat 0,56 Eurocent aus.

Der Allstar-Bonus blieb unverändert. Was sich jedoch Monat für Monat verschlechterte, war die Entlohnung pro gelesener Seite, die sich mittlerweile bei 0,33 Eurocent einzupendeln scheint. Gleichzeitig stieg die Anzahl der gelesenen Seiten, die nötig war, um einen Allstar zu erhalten bzw. die nächsthöhere Kategorie des Allstars zu erreichen. Diese Boni sind gestaffelt und die Summe steigt in festgelegten Stufen mit der Anzahl der gelesenen Seiten im Monat.

Wer nun meint, dies wären Beträge, über die es sich nicht lohnt zu reden, der irrt. Um die Relationen zu verdeutlichen, seien hier beispielhaft die Zahlen von Mai 2016 angeführt:

Ein Autor, dessen Bücher es in diesem Monat auf knapp 700.000 gelesene Seiten brachten, bekam immerhin 1.500 Euro Bonus. Für 2.500 Euro Bonus waren 1,25 Millionen gelesene Seiten notwendig - für die höchste Allstar-Stufe von 7.500 Euro musste ein Autor mit seinen Büchern auf etwa 3,8 Millionen gelesene Seiten kommen. Zu diesen Summen addierten sich dann die Tantiemen für die gelesenen Seiten und natürlich die Verkäufe, wobei Letztere bei den KU-Betrügern kaum Relevanz haben. Selbst bei dem kleinsten Allstar Bonus, der bei 500 Euro liegt, kommt ein Autor auf ein Monatseinkommen von 2.000 Euro - allein durch die Leihbibliothek.

"Luftbuch": Mit vielen Leerzeilen und 24 Pkt. Schrift lassen sich ganz einfach gelesene Seite generieren. Bild: Schreibfair

Leichtverdientes Geld weckt Begehrlichkeiten

Innerhalb weniger Monate sank die Entlohnung pro gelesener Seite und gleichzeitig stiegen die Anforderungen, um den Allstar-Bonus zu erhalten. Während im Juli 2015 1,99 Mrd. Seiten gelesen wurden, sind es im Mai dieses Jahres schon knapp 4,1 Mrd. Seiten.

Ist Kindle Unlimited also ein Renner in Deutschland? Es scheint so. Aber auch das neue Abrechnungssystem hat Schwächen, und diese blieben nicht lange unentdeckt. Wurden vorher zahlreiche Einzeltitel hochgeladen, um abzukassieren, so haben sich die Trickbetrüger jetzt erfolgreich Gedanken gemacht, wie man ein E-Book "aufblasen" und damit in der Leihbibliothek zum Goldesel wandeln kann.

Seit Herbst 2015 (!) wird Amazon mit Trickbüchern geflutet, die einzig zu dem Zweck erstellt wurden, gelesene Seiten zu generieren. Die gewählten Mittel sind vielfältig:

  • Sprungmarken, die den Leser zum Klicken animieren und ihn zum Ende eines mehrere 1000 Seiten langen "Textes" hüpfen lassen, der aus zusammenkopiertem Füllmaterial besteht.
  • E-Books, die mehr Leerzeilen als Text haben etc.2

Zahllose "Anleitungsvideos" auf YouTube zeigten den Weg zum schnellen Geld, immer mehr "Autoren" springen auf den rasenden Zug auf und verwässern dabei das Angebot für zahlende Kunden von Kindle Unlimited.

Wie kann so etwas passieren, fragen sich Autoren und Leser in Deutschland und den USA. Gibt es keine Prüfinstanz? Offensichtlich nicht.

Nachdem einzelne Autoren und Leser diese Trickbücher immer wieder bei Amazon gemeldet hatten, fanden sich im Februar einige Selfpublisher, die in einem Kraftakt die meisten dieser Betrugsbücher zusammentrugen und in hoher Frequenz an Amazon meldeten. Gleichzeitig entstand die Vereinigung SchreibFair. Außerdem tauchten Blogbeiträge empörter Autoren auf. Und Amazon wurde endlich tätig. Es wurden neue Regelungen erlassen: Pro Buch und pro Leser sollten nur noch 3.000 Seiten honoriert werden und ein Inhaltsverzeichnis wurde Pflicht. Diverse Betrugsbücher wurden gelöscht und ergaunerte Boni nicht ausgezahlt.

Ende gut, alles gut? Leider nicht. Es geht munter weiter. In den USA wurden bereits im April die Gratis-Charts manipuliert und auch in Deutschland tauchten mehrere dubiose Bücher auf vorderen Ranking-Plätzen auf. Die "alten Bekannten" mit ihren Trickbüchern sind immer noch aktiv, denn Amazon sah anscheinend anhand der AGB keine Handhabe, die Konten zu schließen.

Alles zulasten der Autoren - und natürlich auch der Leser. Denn immer mehr Midlist-Autoren verlassen mit ihren Büchern das Select-Programm. "Warum soll ich meine Bücher weiter exklusiv auf Amazon anbieten?", schrieb eine frustrierte Autorin kürzlich auf Facebook. "Ich habe dreimal in Folge den Allstar-Bonus um wenige zehntausend gelesene Seiten verpasst, weil Amazon diesen Betrug nicht unterbindet."

Amazon reagiert zwar, aber nicht schnell und nicht konsequent genug. Um gegen die Trickser anzugehen, werden Titel gelöscht, Algorithmen überarbeitet, geändert, erneuert und angepasst. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Die Betrüger machen einfach weiter und sind den Amazon-Technikern immer um eine Nasenlänge voraus.

Doch wie genau schaffen es diese Betrüger, dass ihre Bücher ausgeliehen werden? Es müsste doch jede Menge schlechte Bewertungen hageln.

Durch diese Methode erzielt der Autor die dreifache Anzahl an gelesenen Seiten. Es werden einfach die vorher veröffentlichten Bücher vor das eigentliche Buch kopiert. Bild: Schreibfair

"Kampf gegen Windmühlen"

Das Geheimnis der Abzocker: Sie wollen und brauchen keine echten Leser, denn sie sorgen selbst dafür, dass jemand ihre Bücher ausleiht und "durchblättert". Ein Zauberwort heißt Paid4-Seiten, das andere Indien. In Indien bekommt man Kindle Unlimited für 2,99 Dollar pro Monat. Für einen eifrigen Seitenklicker ist diese Investition schnell wieder drin. Schließlich gibt es genügend "Autoren", denen man so gegen ein nettes Honorar zum Allstar-Bonus verhelfen kann. Doch auch im Kleinen wird getrickst. "Hilfsbereite" Selfpublisher finden sich auf Facebook in Geheimgruppen, und in konzertierten Kauf- und Ausleihaktionen werden neue Titel in die Top 100 gepusht. Alles auf Kosten der Autoren, die keine krummen Wege gehen, sondern auf ein faires System vertrauen.

Laut eigener Aussage hat die SchreibFair-Gruppe in den vergangenen Monaten unzählige dieser Trick-Bücher ausfindig gemacht. Sprungmarkenbücher, Google-Übersetzungen, Plagiate aus diversen Foren usw.

Einer der Admins sagt: "Wir verlieren langsam die Lust. Es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen. Allein im Juli haben wir knapp 600 Fakebücher und Plagiate sorgfältig geprüft, die Beweise dokumentiert und die Verstöße direkt an unseren zuständigen Ansprechpartner bei Amazon gemeldet. Wir müssen aber davon ausgehen, dass etliche dieser Betrüger erneut einen Allstar-Bonus erhalten werden."

Und auch das Ergaunern der hochdotierten Boni geht munter weiter. SchreibFair hat nach eigenen Angaben monatlich auf Anhieb zehn Autoren gefunden, die den Allstar ungerechtfertigt erhalten haben, geht aber davon aus, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher ist. "Andere Autoren, die den Allstar knapp verpasst haben, werden betrogen, weil die Allstar-Vergabe rein nach Datenlage erfolgt und nicht geschaut wird, wie es angehen kann, dass ein Kochbuch in keltischer Sprache plötzlich so beliebt ist."

Wer sich die Liste der Allstar-Bücher vom Juni ansieht, wird feststellen, dass von 2.400 Titeln mindestens ein Drittel aus zehnseitiger Einhandliteratur und aus Trickbüchern besteht.

Doch nicht nur im Erotik- und im Ratgebergenre tummeln sich die Betrüger. SchreibFair berichtet von einem aktuellen Fall, bei dem es um Comics aus dem beliebten Spiel Minecraft geht. Bei den betreffenden Titeln fällt - neben diversen Urheberrechtsverletzungen - deren enorme Länge auf. Allerdings sind die Bücher nicht wirklich so umfangreich. Stattdessen wurden immer wieder dieselben Texte aneinanderkopiert. Darüber hinaus strotzen die Geschichten von Tippfehlern, die ein Lesen unmöglich machen.

Diese Qualitätsmängel wurden wohl von enttäuschten Lesern an Amazon gemeldet, mit dem Ergebnis, dass sich eines der Bücher nunmehr in der Prüfung befindet und gelöscht werden wird. Für Amazon ist das jedoch anscheinend kein Grund, näher hinzusehen. Immerhin befinden sich noch weitere 45 Titel des betreffenden Autors im Shop. Und den Allstar-Bonus gab es auch für mindestens drei der vergangenen Monate.

Es werden nicht nur die Autoren betrogen, sondern auch die Leser

Noch lohnt sich Kindle Unlimited für Leser und Autoren, aber immer mehr Autoren überlegen es sich mittlerweile, ob sie an diesem Programm mit ihren Büchern überhaupt noch teilnehmen möchten. Während ein Roman geschrieben wird, können tausende Trickbücher hochgeladen werden. Diesen verhängnisvollen Umstand kann nur Amazon beenden, aber das geschieht nicht oder viel zu langsam.

Die seriösen Autoren, "jene mit den echten Lesern", räumen das Feld und überlassen es den Massenuploadern - und eines nicht mehr allzu fernen Tages wird der Allstar keine Auszeichnung mehr für erfolgreiche Autoren sein, sondern wird unter denen aufgeteilt, die am schnellsten die meisten Titel und Seiten auf die Plattform laden. Die ehemals großartige Idee einer flexiblen Bibliothek im Internet abseits vom Verlagswesen stirbt Amazon gerade unter den Händen weg.

Noch merkt der Leser und Nutzer der Amazon E-Book-Flatrate vielleicht wenig von dieser Entwicklung. Und kann ihm das nicht egal sein? Mit den Tantiemen der Autoren hat er schließlich nichts zu tun.

Aber der Tag wird kommen, an dem manch einer keine Lust mehr hat, knapp 10 Euro monatlich für eine Flatrate auszugeben, für deren lohnende Nutzung er in einem Meer von Erotik-E-Books und Büchern mit geklauten Kochrezepten mühsam nach Buchperlen fischen muss.

Die Seite SchreibFair berichtet, dass zudem falsche Signale an die Betrüger gesendet werden. Während an amazon.co.uk gemeldete und nachgewiesene Plagiate zu einer Sperrung des Kindle Direct Publishing-Kontos führen, sieht Amazon das in Deutschland gelassener. Einer mehrfach überführten Plagiatorin wurde sogar noch ein Kindle Deal seitens Amazon angeboten, der dem Autor eine Sonderwerbeaktion ermöglicht, was zusätzliche Einnahmen bedeutet.

Plagiatoren in Deutschland müssen bisher keine Angst vor Konsequenzen haben, was die KDP-Plattform betrifft. SchreibFair weist außerdem darauf hin, dass die Rechteinhaber, also die Verlage, die den vom Plagiat betroffenen Titel vertreiben, meist zu lasch oder gar nicht reagieren.

Dazu kommt, dass die Betrugsmeldungen an Amazon von Einzelpersonen und aus Facebook-Gruppen oft nur mit einer automatisch generierten E-Mail beantwortet werden und dass keine sichtbare Aktion folgt.

Der größte Onlinebuchhandel, der Pionier in Sachen Selfpublishing, wird immer mehr zur goldenen Gans für Betrüger und Plagiatoren. Und das wird so weitergehen, wenn Amazon nicht umfassend und sofort einschreitet.