Reisen ist Arbeit

Über einen bemerkenswert langlebigen Brauch

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Bahnfahren ist, wie nicht erst seit gestern bekannt, unbequem, rechtlich risikoreich und mit Problemen wie langen Wartezeiten, überfüllten Abteilen, überteuerten Verpflegungsangeboten sowie Auskunfts- und Anschlusschaos verbunden. Allerdings lassen auch die Transportalternativen viel zu wünschen übrig: Alleine auf den europäischen Flughäfen verschwinden pro Tag 10.000 Gepäckstücke, weltweit sind es nach konservativen Schätzungen sogar fast 90.000. Die dadurch Geschädigten müssen nicht nur am Reiseziel wichtige Gegenstände nachkaufen oder ohne sie auskommen - viele Fluggesellschaften schicken sie auch durch bürokratische Hürdenläufe, mit denen versucht wird, die Reisenden selbst oder andere Unternehmen für den Verlust verantwortlich zu machen.

Zudem "überbuchen" Fluggesellschaften regelmäßig ihre Flugzeuge, weshalb Kunden immer wieder viele Stunden gepäckbeladen auf Ersatzmaschinen warten müssen. Dafür bittet man die Fluggäste wegen der Sicherheitsprozeduren mindestens eine Stunde früher ans Terminal, wo nicht selten Überraschungen wie Mitnahmeverbote oder Zuschläge auf sie warten. Außerdem demütigende Kontrollprozeduren und thromboseerzeugende Platzverhältnisse. Der Stress, Anschlussflüge zu erreichen, ist gegenüber dem Umsteigeaufwand bei der Bahn teilweise sogar noch größer.

Foto: Mattes

Auch beim Automobil fällt die Bilanz nicht unbedingt positiv aus: Es bietet oft noch weniger Beinfreiheit als Flugzeuge, dafür aber zusätzliche gesundheitliche Risiken durch Personen, die während der Fahrt beispielsweise via SMS kommunizieren, was das Unfallrisiko nach einer Studie der Virginia Tech um das 23-fache erhöht. Auch die rechtlichen Risiken sind dank teilweise byzantinischer Verkehrregulierung vor allem in unbekannten Gegenden kein unbeträchtliches Wagnis. Und die Orientierung in fremden Städten ist trotz Fortschritten bei Navigationssystemen immer noch alles andere als stressfrei.

Das Reisen bietet darüber hinaus noch zahlreiche fortbewegungssystemunabhängige Unannehmlichkeiten: Bürokratische Prozeduren bei Grenzüberschreitungen und ein häufig deutlich erhöhtes Ansteckungsrisiko für sehr unangenehme Krankheiten. Fremde Städte und Länder sind obendrein alleine schon deshalb meistens teurer, weil man sie nicht kennt und nichts darüber weiß, wo die Konsumbedürfnisse am günstigsten gestillt werden können. Der vor allem vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beliebte Urlaubertopos, dass man durch privaten Währungsumtausch im Ausland "billiger leben könne als daheim" entpuppt sich heute zumindest bei genauerem Hinsehen als sehr selten wirklich haltbar.

Eigentlich ist es ein großes Rätsel, warum trotz all dieser Widrigkeiten immer noch freiwillig gereist wird. Als in den 1990er Jahren die Möglichkeiten der neuen elektronischen Kommunikationsmittel bekannt wurden, da entwickelte nicht nur Bruce Sterling Theorien, nach denen das Verkehrsaufkommen deutlich sinken sollte. Ein großer Teil der Verantwortung für das Nichteintreten solcher Voraussagen geht auf das Konto der Telearbeit, die bis jetzt ein Randbereich blieb - unter anderem wegen der Schwerfälligkeit von Unternehmensbürokratien.

Auch ein beträchtlicher Teil der Geschäftsreisen resultiert aus geistiger Unbeweglichkeit, die - so paradox es klingt - physische Beweglichkeit erzwingt. Sehr viele Tagungen, "Meetings", Besprechungen, Sitzungen, et cetera ließen sich relativ problemlos auch mit Skype durchführen. Allerdings wurde der Spardruck in Unternehmen bisher eher in andere Bereiche kanalisiert, als in Kostenreduzierung beim Hin- und Herbewegen von Mitarbeitern. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass Geschäftsreisen trotz aller Unbequemlichkeiten als etwas gelten, das nur bedingt als "Arbeit" wahrgenommen wird.

Früher war das Reisen sehr viel öfter unvermeidlich als heute. Vor allem aus zwei Gründen: Man musste Forschungsreisen unternehmen, um an Informationen zu kommen und Handelsreisen, um Güter zu erwerben, die es in der Heimat nicht gab. Heute sind diese Gründe durch elektronische Kommunikationsmöglichkeiten und die Globalisierung weitgehend entfallen. In einer dritten Kategorie sind Reisen dagegen auch heute noch relativ schwer ersetzbar: Zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen, für die vor allem zwei Gründe denkbar sind: Zum einen Kosten- oder Qualitätsvorteile (etwa bei der Anpassung von Zahnersatz), zum anderen das Bewegen in Bereichen, die in der Umgebung des Reisenden mit sozialen Tabus verbunden sind. Hier kommt es allerdings weniger darauf an, dass der Tourist an einem bestimmten Ort kommt, sondern mehr, dass seine gewohnte soziale Umgebung nicht dort ist - etwa bei Saufgelagen oder beim Sextourismus

Trotzdem reisen bei weitem nicht nur Säufer, Freier und Kranke. Tatsächlich scheint sich ein großer Teil der Bevölkerung geradezu an eine sozialen Reisepflicht gebunden zu fühlen, deren Wurzeln ins 19. Jahrhundert zurückreichen, als das Bürgertum in den heißen Monaten die damals noch beträchtlich stinkenden Städte verließ und in den kühleren Bergen oder in Seebädern die "Sommerfrische" suchte. Wie bei anderen Bräuchen folgten auch hier die unteren Schichten einem von Pierre Bourdieu in La Distinction beschriebenem Mechanismus und versuchten, es diesen Schichten gleichzutun. Bereits 1873 schrieb der damals als Dienstmädchenliterat verschriene Theodor Fontane, dass das "Massenreisen" eine der "Eigentümlichkeiten" seiner Zeit sei: "Sonst reisten bevorzugte Individuen, jetzt reist jeder und jede".

Seit der Erfindung von Abwasserbeseitigung und Klimaanlage ist der Nutzen von Sommerreisen nur mehr sehr begrenzt. Trotzdem hielt sich der Brauch hartnäckig, ja, er weitete sich sogar aus. Dazu trugen nicht zuletzt neue Transportmittel wie das Flugzeug bei, die das Reisen - wie geschildert - jedoch nur relativ angenehmer machten. Im Grunde gilt immer noch der alte Etymologenaphorismus, dass das englische travel (Reisen) und das französische travailler (Arbeiten) nicht ohne Grund die gleiche Wurzel haben. Bruce Sterlings Viridianismus, der sich bis jetzt nicht durchsetzen konnte, wäre also keineswegs ein altruistischer Dienst an der Umwelt, sondern vielmehr ein aus kulturellem Rationalismus erwachsender Hedonismus.