Religiöse Vorschrift oder historisches Produkt der Männerherrschaft?

Seite 2: "Junge Frauen sollen sich ohne Kopftuch nackt fühlen"

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: Sie geben an, dass die islamischen Gemeinden hierzulande über ein ganzes Arsenal von Repressionsmaßnahmen für nicht kopftuchtragende Frauen verfügen. Welche Maßnahmen sind das?

Abdel-Hakim Ourghi:: Die männliche Herrschaft in der islamischen Kultur erweist sich als überlebensfähig, weil sie wirksame Anpassungsfähigkeiten besitzt. Bei nicht verschleierten Mädchen und Frauen sollen Schuld- und Schamgefühle ausgelöst werden, und jeder Verstoß und jedes Aufbegehren gegen das Kopftuchgebot werden geahndet und sanktioniert. Dies geschieht auf der Ebene der emotionalen Verbalerpressung, da sich kein Mädchen, im Kindergarten oder in der Grundschule freiwillig für das Kopftuch entscheiden würde.

So müssten zum Beispiel Mädchen rechtgleitet werden, weil sie sich ohne Verschleierung sich im Irrtum befänden. Sie seien dem Zorn Gottes verfallen. Die jungen Frauen sollen sich ohne Kopftuch nackt fühlen. Sie sollen sich für ihren unverschleierten Körper schämen und durch diese verbalen Ausgrenzungen gedemütigt werden. Wie gesagt, kein Mädchen vor der Pubertät kommt auf die Idee, dass es seinen Körper verschleiern oder seine Haare mit einem Tuch bedecken sollte.

Weitere Maßnahme ist das Überwachen als ständige Kontrolle. Neben der Figur des Vaters als der mächtigsten Person in der Familie kontrollieren auch die bereits unterworfenen Mütter ihre eigenen Töchter auf Schritt und Tritt. Ohne Kopftuch dürfen diese nur in Begleitung ausgehen. Oder kann man von der von der Isolation der betroffenen Frauen innerhalb der eigenen Familie und Gemeinde.

Diese Isolation ist eine Entlassung in die Einsamkeit. Diese Disziplinarmaßnahme ersetzt die Kommunikation in der Familie oder Gemeinde durch Schweigen. Die Ausgrenzung der eigenen Töchter wird unter Umständen noch durch öffentliche Denunziation intensiviert. Eine weitere Strafe ist die Verbannung der Töchter ins Ausland. Die Töchter werden in die Heimat der Eltern verbannt.

Die männliche Obrigkeit erklärt den Körper der Frau zum Gegenstand ihrer Besorgnis und macht ihn dadurch zur Chefsache. Genauer gesagt: Ihr Köper gehört ihr nicht, denn sie ist nur eine Frau, die unbedingt zu schützen ist.

"Hidjab bedeutet im Koran überhaupt nicht Kopftuch"

Gibt es im Koran selbst Hinweise auf ein Kopftuchgebot?

Abdel-Hakim Ourghi: Nein. Das Kopftuch ist keine religiöse Vorschrift, sondern eine historisches Produkt der männlichen Herrschaft. Der Terminus Kopftuch (hidjab) bedeutet im Koran überhaupt nicht Kopftuch, sondern eher Vorhang und Trennwand. In Sure 33, Vers 59 ist die Rede von einem - nicht näher definierten - Kleidungsstück, das sich eine Muslimin über ihren Oberkörper legen soll, sodass sie als Gläubige erkannt und nicht in der Dunkelheit von Männern belästigt wird. Sie sollten ihr Gewand über die Brust herunter ziehen, damit sie als freie Frauen von den Sklavinnen unterscheidbar waren und die Männer sie erkennen konnten.

In Sure 24, Vers 31 ist die Rede nicht von einer Haar- bzw. Kopfbedeckung, sondern von der Brust im Sinne von Dekolleté. Der Koran spricht deutlich von der Brust als Körperteil, das zu bedecken ist, und weder vom Kopf noch vom Rest des Körpers ist die Rede. Somit ist das Kopftuch tatsächlich keine koranische Vorschrift.

Können Sie eine Einschätzung abgegeben, wie viele Frauen weltweit wegen dem Nichttragen eines Kopftuchs getötet werden?

Abdel-Hakim Ourghi: Genaue Statistiken liegen uns nicht vor. Aber ein Beispiel kann hier erwähnt werden: Allein im Jahre 1994 wurden laut offizieller Statistik 512 Frauen Opfer von islamistischer Gewalt und kaltblütig hingerichtet. Sie wurden geköpft, erschossen oder ihnen wurden die Kehle durchgeschnitten. Viele von ihnen trugen sogar einen Schleier.

: Sie schreiben, dass die Mehrheit der hier lebenden Muslime zu stillschweigenden Partnern der konservativen Dachverbände geworden ist, die das Aufkommen eines liberalen Islam verhindern. Warum ist das so?

Abdel-Hakim Ourghi: Selbstverständlich sollen Muslime von Theologen in die eigene Religion eingeführt werden. Die schweigende Mehrheit der Muslime betrachtet aber den Islam als eine private Sache, die mit der Politik nichts zu tun hat. Das bedeutet, dass die persönliche Beziehung des Individuums zu seinem Gott immer im Mittelpunkt stehen muss.

Sie sind auch der Überzeugung, dass kein bestimmter Muslim oder keine muslimische Gruppe das Deutungsmonopol über den Koran und die Tradition des Propheten besitzt. Dies bedeutet auch, dass jede Muslimin und jeder Muslim das absolute Recht hat, den Koran gemäß ihrer oder seiner Lebenswelt zu interpretieren. Jedoch bevollmächtigen sich Gelehrte als vermittelnde Instanz zwischen Gott und den Menschen.

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