Rentenreformen und Babyboomer-Renten sind finanzierbar

Seite 3: Ist das alles bezahlbar?

Das ist vor allem eine gesellschaftspolitisch zu beantwortende Frage und erst in zweiter Linie eine ökonomische. Für Beamt:innen, Politiker:innen und berufsständisch Versicherte ist die Frage überflüssig. Sie haben ein Versorgungsniveau, das weit über dem oben Dargestellten liegt.

Zu den Zahlen:

Die zusätzlichen Rentenausgaben für die oben skizzierte Rentenreform und die geburtenstarken Jahrgänge würden sich auf insgesamt ca. 210 Milliarden Euro im Jahre 2040 belaufen. Das wäre eine Ausgabensteigerung von 70 Prozent gegenüber dem Stand heute. Zusammen würden dann im Jahr ca. 15 Prozent (mit der heutigen Beamtenversorgung 16,5 Prozent) des Bruttoinlandprodukts für die Altersversorgung ausgegeben. Heute sind das 8,5 Prozent (10,3 Prozent).

Mit welchen Finanzierungsquellen könnten die 210 Milliarden Euro gedeckt werden?

1. Als erstes müsste der Staat die nicht beitragsgedeckten Rentenleistungen, die von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) quasi verauslagt werden, vollständig bezahlen. Das passiert aber nur teilweise und gegenwärtig beträgt die Deckungslücke gewaltige 37 Milliarden Euro. Bei einer Steigerung um 70 Prozent steigt die Summe auf 63 Milliarden Euro.

2. Als zweites müsste der Staat die Förderung der privaten Altersvorsorge einstellen und die Fördergelder der gesetzlichen Rentenversicherung zur Verfügung stellen. Die Förderung beträgt gegenwärtig 4 Milliarden Euro pro Jahr. Politische Absicht des Gesetzgebers war 2001, dass alle abhängig Beschäftigten privat vorsorgen. Wäre das geschehen, müsste der Staat etwa 16 Milliarden ausgeben. Diese Summe sollte er in Zukunft für die Förderung der öffentlichen Rentenversicherung auf die Konten der DRV lenken.

3. Als dritte, und bedeutendste Quelle, müssten die Rentenversicherungsbeiträge steigen. Eine Beitragserhöhung um einen Prozentpunkt bringt der DRV 16,4 Milliarden Euro. Würde der Beitrag um 6 Prozent auf 24,6 Prozent steigen, brächte das eine Mehreinnahme von 99 Milliarden Euro (6 ( Prozent) x 16,4 Mrd. €). Wie diese Beitragssteigerung geleistet werden kann, ohne dass die jüngeren Generationen spürbar verzichten müssten, erklärt sich aus der Produktivitätsentwicklung (siehe weiter unten).

4. Als viertes müsste dann der Staat die bleibende Finanzierungslücke aus Steuermitteln schließen. Das wäre nach den Beträgen unter 1. bis 3. Eine Summe von 32 Milliarden Euro.

Über diese Finanzquellen hinaus gibt es noch drei wesentliche Faktoren, die politisch beeinflussbar sind. Zum einen höhere Beschäftigungsquoten durch Einbeziehung von mehr Frauen, Migrant:innen und Arbeitslose. Zum anderen höhere Beitragsquoten durch Beseitigung der Niedriglohnbereiche und die Beseitigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse (siehe Anmerkung). Und schließlich dann die Einführung einer Erwerbstätigenversicherung, in die alle Erwerbstätigen einzahlen, vor allem auch die mit höheren Einkommen.

Der Faktor, der diese gewaltigen Summen beherrschbar macht, ist die Zeit. Der Mehraufwand von 210 Milliarden Euro müsste über 19 Jahre erbracht werden. Bei gleichmäßiger Verteilung wäre das eine Steigerung von 11 Milliarden Euro pro Jahr. Die versicherungsfremden Leistungen und die umgeleitete Riesterförderung sollten natürlich so schnell wie möglich wirksam werden. Damit könnte dann die Rentenreform in einem relativ kurzen Zeitraum umgesetzt werden, möglicherweise in weniger als 10 Jahren.

Die Produktivitätsentwicklung – Quelle der Verteilungsspielräume

Die Produktivitätsentwicklung findet in den heutigen Rentendebatten keine Beachtung. Dabei ist sie von fundamentaler Bedeutung. Sie wirft die "Unbezahlbarkeits"-Argumente auf den Fakten-Müllhaufen der Geschichte.

Im Jahre 1900 kamen 10,4 Personen im erwerbfähigen Alter auf einen über 65-jährigen. 100 Jahre später, im Jahre 2000, war das Verhältnis auf 3,7 Erwerbsfähige zu einem über 65-jährigen gesunken. Dennoch konnte die soziale Absicherung der Alten ständig verbessert werden und der Lebensstandard für alle stieg bemerkenswert an. Das war nur möglich durch die bisherige Produktivitätsentwicklung.

Aussagkräftiger als der oben dargestellte Altenquotient ist das Verhältnis der tatsächlich Erwerbstätigen, also der Beitragszahler, zu den Alten-Jahrgängen. Noch genauer ist das Verhältnis Standardbeitragszahler zu Standardrentnern (siehe Anmerkung).

Steigende Produktivität ist die Quelle für Umverteilungsspielräume. Einzige Bedingung dazu ist, dass sie in realen Lohnerhöhungen an die abhängig Beschäftigten weitergegeben werden. Die mittelfristigen Schätzungen der Bundesregierung gehen von 1,5 Prozent Produktivitätssteigerung je Erwerbstätigenstunde aus. Steigen die Löhne entsprechend, könnten ohne spürbare Einschränkungen 0,2 Prozent für die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge weitergegeben werden.

Die Reallöhne würden dann um 1,3 Prozent ansteigen und die 0,2 Prozent würden zur Finanzierung der Altenversorgung beitragen. Passiert das fortlaufend die nächsten 19 Jahre, würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung auf 26 Prozent steigen und brächten dort 120 Milliarden Euro an Mehreinnahmen. Das reale Einkommen der Beitragszahler:innen würde trotz der höheren Beiträge um 27 Prozent steigen.2

Also alles ganz easy, oder eine Schönrechnung für das Rentenwunderland Deutschland?Ein Blick über den Tellerrand mit Beispielen:

Österreich - Nettorentenniveau für Neurentner:innen 90 Prozent. Der Beitragssatz: 22,8 Prozent (Anteile Arbeitgeber/Arbeitnehmer:innen: 55 Prozent/45 Prozent). Das Sicherungsziel wird durch Zuschüsse aus dem Staatshaushalt garantiert. Anteil der Altersversorgung am BIP: 13,3 Prozent, 2040 erwartet: 15,1 Prozent.

Frankreich - Nettorentenniveau 75 Prozent. Der Beitragssatz: 27 Prozent (Anteil AG/AN: 60 Prozent/40 Prozent) Anteil der Altersversorgung am BIP: 14,8 Prozent, 2040 erwartet 15,2 Prozent.

Italien – Nettorentenniveau 92 Prozent. Der Beitragssatz 33 Prozent (AG/AN: 67 Prozent/33 Prozent). Anteil der Altersversorgung am BIP: 15,4 Prozent, 2040 erwartet 17,3 Prozent.

Von derartigen Verhältnissen erfährt man in Deutschland nichts. Um so mehr sehr schräge Berichte über die aktienbasierte schwedische Prämienrente. Die wird von den Parteien als Vorbild genommen und seit zwei Jahren in einer Unzahl von Medienbeiträgen über den grünen Klee gelobt. Da bleibt tunlichst unerwähnt, dass die Prämienrente nach 20 Jahren gerade einmal 2 Prozent der gesamten Rentenzahlungen ausmachen. Auch das in den ersten 10 Jahren die Rentenfonds hektische Sprünge zwischen minus 8 Prozent und plus 8 Prozent machten wird verschwiegen (siehe auch: Der schwedische Renten-Wunder-Weg – entzaubert).

Durchbrechen lässt sich die vorherrschende Propaganda für die neoliberalen Projekte nur durch starke soziale Bewegungen. Die brauchen nicht nur einen kräftigen Widerstandswillen, sondern auch klare Ziele, für die es zu kämpfen lohnt.

Anmerkung

Die Modellrechnungen in diesem Artikel gehen immer von den finanziellen Werten von 2021 aus. Die Inflation wird für den betrachteten Zeitraum mit 0 Prozent unterstellt um eine Vergleichbarkeit auf Basis gleicher Kaufkraftverhältnisse zu haben.

Eine gründliche Analyse findet man hier: Demografischer Wandel und gesetzliche Rente: Die Rolle des Arbeitsmarktes (Camille Logeay, Florian Blank, Erik Türk, Josef Wöss & Rudolf Zwiener), Nomos, 2020.

Die Erwerbstätigenquote ist in den letzten 20 Jahren erheblich gestiegen. Allerdings relativiert sich die Bedeutung des Anstiegs durch die zunehmenden Niedriglohnbereiche als Folge der Agenda 2010-Gesetze. Eine weitere Erhöhung der Quote, und damit der Rentenversicherungsbeitragszahler, kann durch politische Massnahmen erreicht werden (Erhöhung des Frauenanteils etwa durch bessere und kostenlose Kinderbetreuung; bessere Integration/Ausbildung und Beseitigung bürokratischer Hindernisse für Migrant:innen; bessere Förderung und Ausbildung von Arbeitslosen).

Noch Aussagekräftiger als Altenquotient und Erwerbstätigenquote ist die Heranziehung des "Rentnerquotienten". In ihm werden abgebildet, wieviel Standardbeitragszahler auf wieviel Standardrentner kommen. Die Daten der Deutschen Rentenversicherung zeigen ein seit 1975 erstaunlich stabiles Verhältnis.

Die Prognose für den Zeitraum von 2021 bis 2045 geht von der Basis jetziger Verhältnisse aus. Diese Verhältnisse können/müssen aber durch politische Maßnahmen verändert werden (Erhöhung der Erwerbstätigenquote; Beseitigung der prekären Beschäftigungsverhältnisse mit deutlichen Einkommenssteigerungen; Einbeziehung der gut bezahlten Beschäftigten in das gesetzliche Rentensystem).