Reportage, Reportage, Reportage
Der Spiegel ist doch kein Nachrichtenmagazin mehr
Es ist allerhöchste Zeit, ein- für allemal mit einer in den Köpfen festsitzenden Legenden Deutschlands aufzuräumen: Der Mär nämlich, "Der Spiegel" (Print) sei ein Nachrichtenmagazin. Das ist er schon seit vielen Jahren nicht mehr. Doch die Zeiten sind schon seit Langem vorbei.
Heute beginnt eine typische "Spiegel"-Story wie jetzt in Nr. 16 vom 11.4.2020 mit ebenso haltlosem wie gefühligem Geschwafel: "Ostern ist ein wechselhaftes Fest, zumindest was seine Position im Kalender angeht. Mal liegt es Ende März, mal Anfang April, manchmal noch später. An diesem Wochenende ist es wieder so weit, und diesmal wartet ein ganzes Land auf Ostern." Was Klein-Fritzchen so einfällt, wenn er einen Aufsatz über die Osterzeit einleiten soll.
Man mag sich gar nicht ausdenken, was dem "Spiegel"-Fritzchen so durch den Kopf schießt, wenn es über die Sommerszeit berichtet. Ob ihm wohl einfällt, dass es sich dabei um eine etwas wärmere Jahreszeit handeln könnte? Wärmer jedenfalls als der Winter? Wer weiß?
Mal ernsthaft gefragt. Wer will das wissen? Wer überhaupt will solch einen hanebüchenen Quatsch wirklich lesen? Und was will der hohe Künstler der Journalistik damit mitteilen? Will er überhaupt etwas mitteilen?
Nein, das will er nicht. Er schreibt nämlich eine Reportage über ein Land, das zu Ostern durch eine Epidemie hindurchgeht.
Schwafelige Reportagen
Und das ist schon seit vielen Jahren stets dasselbe beim "Spiegel". Dort schreiben Reportagekünstler langatmige Reportagen und seit Langem keine Nachrichten mehr. Nachrichten gibt es noch im Fernsehen, im Radio, im Internet und in Tageszeitungen, aber nicht im "Spiegel".
Jeder aktuelle "Spiegel" ist voll von schwafeligen Reportagen. Wenn man bei denen die ersten fünf oder mehr Absätze gelesen hat, weiß man oft noch immer nicht recht, von was der Artikel handelt oder ob der "richtige" Teil schon angefangen hat oder ob der Autor sich noch immer mit dem schwadronierenden Vorgeplänkel aufhält. Das ist für Leute, die einem "Nachrichtenmagazin" vor allem Nachrichten zu entnehmen versuchen, sehr strapaziös. Die nämlich wollen das endlose Reportage-Geschwafel nicht wirklich lesen. Ab und zu vielleicht, aber doch nicht ein ganzes Heft von mehr als 130 Druckseiten.
Denn das Schlimme ist ja geradezu, dass jeder "Spiegel"-Autor sich die größte Mühe gibt, seiner Reportage eine noch größere reportagieuse Stimmigkeit zu verleihen als sein Kollege. Und das nervt die Leserinnen und Leser über alle Maßen.
Auf sechs Seiten breiten sechs "Spiegel"-Autoren küchenpsychologische Befunde über die "Psychologie der Angst" aus mit "Erkenntnissen" wie diesen: "Der Junge ist keine zehn Jahre alt und kennt 'Hells Bells' von den Spielen des FC St. Pauli, wo es beim Gegner Angst und Schrecken verbreiten soll. Er wird sich nicht viel dabei gedacht haben, außer dass AC/DC besser ist als Beethoven. Glocken der Hölle. Cool. Bäng. Bäng. Bäng."
Und so geht das ohne Pause weiter. Doch dann kommt die große, absolut bahnbrechende, noch nie zuvor irgendwo formulierte Erkenntnis: "In zwei Dingen sind sich fast alle einig: Was gerade geschehe, sei einzigartig. Und es wird die Welt so verändern, dass sein Zurück zu Vor-Corona-Zeiten schwer vorstellbar scheint."
O, sancta simplicitas.
So ähnlich steht das doch fast jeden Tag in jeder Dorfzeitung zwischen Alaska und Tasmanien. Nur die Schwafeler vom "Spiegel" haben das in ihrer selbstverliebten Reportage-Selbstversessenheit noch nicht gemerkt.
Während Nachrichten Distanz wahren, geht die Reportage nah heran
Der Begriff der Reportage steht für einen dramaturgisch aufbereiteten Hintergrundbericht, der einen Sachverhalt anhand von konkreten Beispielen, Einzelpersonen oder deren individuellen Schicksalen anschaulich macht. Während Nachrichten Distanz wahren, geht die Reportage nah heran. Genau das tut der moderne "Spiegel" so gut wie nur noch. Ein Bericht über Wuhan im Zeichen von Corona fängt so an:
Frau Yang geht in ihr Frosch-Restaurant, macht die Fenster auf, schließt ihr E-Bike ans Stromnetz an und kratzt die Notiz von der Scheibe, auf der sie vor dem chinesischen Neujahrsfest Ende Januar angekündigt hatte, das Lokal sei vorübergehend geschlossen. Yang Xue, 55, trägt einen Mundschutz im Gesicht, sie hebt die Zeitungen vom Boden auf, die der Bote unter dem Türspalt durchgeschoben hat. Nur sieben Ausgaben der ‚Hubei Daily‘ sind ausgeliefert worden, seit die Stadt Wuhan dichtmachte. Ganz unten liegt die inzwischen vergilbte Ausgabe vom 23. Januar, dem Tag des Lockdowns.
Der Spiegel
Und so geht das noch viele Absätze endlos weiter. Doch wer in einem Nachrichtenmagazin Nachrichten und nicht Reportagen lesen will, wird im ganzen Blatt nur vor den Kopf gestoßen. Weiter geht’s mit Frau Yang oder auch mit Herrn Zhang oder - in anderen Zusammenhängen - mit Mr. Greg Turner aus Alameda aus Kalifornien.
Wem jedoch noch so erschütternde Einzelschicksale von völlig unbekannten Einzelpersonen völlig am Rücken vorbeigehen, der wird im aktuellen "Spiegel" kaum etwas finden, was ihn interessiert. Nachrichtlich findet der "Spiegel" kaum noch statt. Er ist zur Reportage-Kitsch-Postille verkommen.
Als "Der Spiegel" 1947 zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg erschien, war er tatsächlich ein lupenreines Nachrichtenmagazin - ein wöchentlich erscheinendes Magazin, das vorwiegend aktuelle Nachrichten enthielt und deshalb für viele Menschen der Mühe wert schien, es zu lesen.
Natürlich hat sich "Der Spiegel" im Laufe der vielen Jahrzehnte und Jahre seither stark verändert. Doch lange blieb es dabei: "Der Spiegel" blieb lange ein Nachrichtenmagazin. Inhaltlich und formal war "Der Spiegel" im Wesentlichen nachrichtlich aufgezogen.
Was würde ein Nachrichtenmagazin auszeichnen?
Als "Nachrichtenmagazin" gilt in der Mediaforschung eine textlastige, vorwiegend politische, allgemeine und sonstige Nachrichten verbreitende, wöchentlich erscheinende, aktuelle Publikumszeitschrift. Wichtig in dieser Definition sind die Elemente
- wöchentliche Erscheinungsweise, um Monatsblätter oder gar Vierteljahresschriften auszuschließen,
- politische, allgemeine und sonstige Nachrichten, um Nachrichtenmagazine deutlich von Wirtschaftsmagazinen zu unterscheiden,
- Textlastigkeit, um den Unterschied zwischen Nachrichtenmagazinen und aktuellen Illustrierten zu betonen,
- Nachrichten, um klarzumachen, dass es sich um eine aktualitätsorientierte Zeitschrift handelt und nicht um ein Meinungsblatt,
- Zeitschrift, um Nachrichtenmagazine von Wochenzeitungen zu unterscheiden,
- Publikumspresse, um eine deutliche Trennungslinie zu eher sektiererischen Mitteilungsblättern mit wöchentlicher Erscheinungsweise zu ziehen.
Entscheidend ist, dass im "Spiegel" überhaupt nur noch spärlich Nachrichten veröffentlicht werden. Es kommt vereinzelt vor, aber sie stellen nicht mehr das gattungsprägende Element dar. Im thematischen und inhaltlichen Schwerpunkt veröffentlicht "Der Spiegel" nur noch Reportagen. Und das tut er schon seit vielen Jahren.
Man könnte genauer auch sagen, langatmige Reportagen, die das Gegenteil von Nachrichten sind. Viele dieser gefühlsseligen Reportagen sind so wortreich gestaltet, dass man sich auch, nachdem man mehr als eine halbe Seite davon gelesen hat, ratlos fragt, wann der Artikel denn endlich zum Thema kommt? Und was denn überhaupt das Thema des Textes mit dem langen Atem sein mag? Im günstigsten Fall haben die Leserinnen und Leser im Verlaufe der Lektüre längst vergessen.
Statt Nachrichtenmagazin sollte Der Spiegel ein Reportagemagazin genannt werden
Jemand, der noch immer erwartet, dass Deutschlands führendes "Nachrichtenmagazin" ihm vorwiegend Nachrichten oder nachrichtlich orientierte Informationen darbietet, wird Woche für Woche bitter enttäuscht.
Man sollte die Medienkategorie daher auch in der deutschen Medienwissenschaft als Reportagemagazin bezeichnen. "Der Spiegel" hat sich eindeutig und ohne jeden Zweifel in diese Richtung entwickelt. Von einem Nachrichtenmagazin kann bei ihm seit Langem keine Rede mehr sein.
Der Etikettenschwindel gehört ein- für allemal abgeschafft. Es kann nicht länger angehen, dass ein Periodikum heute noch mit einem inhaltlich falschen Etikett versehen wird, nur weil es dieses Etikett vor einem Dreivierteljahrhundert mit voller Berechtigung trug. Jetzt tut es das nicht mehr.
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