Resistanbul: Die türkische Zivilgesellschaft wehrt sich
Türkeiweit gehen die Menschen auf die Straßen und protestieren gegen die Regierung. Was steckt dahinter, worum geht es? Und wohin?
Seit die Polizei am 31. Mai einen Protestcamp im Istanbuler Gezi Park gewaltsam auflöste, kommt es in der ganzen Türkei zu Massenprotesten gegen die Politik der AKP-Regierung. Die türkische Polizei reagiert brutal, bislang gibt es mindestens zwei Todesopfer und allein in Istanbul über 1.700 Verletzte. Die türkische Presse beugt sich der Regierungslinie und übt Selbstzensur, außer im winzigen Sender Halk TV sind die Demonstrationen in rund 70 Städten in den türkischen Medien quasi nicht vorhanden. Über die sozialen Medien tauschen sich die Menschen aus, organisieren sich, stellen Videos online. Doch worum geht es hier eigentlich?
Es dauerte allein mehrere Tage, bis die internationale Medienlandschaft begriff, dass es nicht um einen Istanbuler Park geht, dass das hier kein Protest einiger "Baumschützer" ist, und auch das "Wutbürger"-Label, das deutsche Medien so gern anbringen, ist völlig fehl am Platz. Die Räumung des Gezi-Parks war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Unter der Oberfläche schwelt es schon lange. Fehlende Mitspracherechte und Meinungsfreiheit, tiefe Eingriffe in das Alltagsleben der Menschen und weitreichende politische Entscheidungen, die über die Köpfe der Bevölkerung hinweg gefällt werden, haben in den letzten Jahren den Unmut der Menschen anwachsen lassen. Die türkische Demokratie beschränkt sich weitestgehend darauf, dass man am Wahltag ein Kreuzchen machen darf. In kaum einem Land sitzen so viele Journalisten im Gefängnis wie in der Türkei, kritische Medien gibt es fast nicht, Schriftsteller und Intellektuelle, die sich kritisch äußern, werden regelmäßig vor Gericht gezerrt.
Aktuellstes Beispiel ist der in Köln lebende Autor und Menschenrechtler Dogan Akhanli, der nach einem langen Schauprozess im Winter 2012 freigesprochen wurde; erst im April wurde der Freispruch von der Istanbuler Staatsanwaltschaft kassiert, Ende Juni soll der Prozess neu aufgerollt werden, es wird lebenslange Haft gefordert. Offiziell geht es um ein Gewaltverbrechen, das fast dreißig Jahre zurückliegt, sämtliche Vorwürfe gegen Akhanli konnten längst entkräftet werden. Er ist ohne Zweifel unschuldig. Inoffiziell geht es darum, dass Akhanli nicht müde wird, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, und dass er als erster türkischer Autor überhaupt in seinem Roman "Die Richter des Jüngsten Gerichts" den Genozid an den Armeniern thematisierte.
Akhanlis Fall ist nur eins von vielen Beispielen für einen Staat, der sich nach außen einen demokratischen Anstrich gibt, nach innen aber keine Widerrede duldet. Zwar ist es Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in den letzten zehn Jahren gelungen, aus der Türkei eine ernstzunehmende Wirtschaftsmacht zu formen, das Wohlstandsniveau anzuheben und die internationale Position des Landes zu stärken.
Erdogan geht es um Machtbündelung
Zugleich rüttelt er aber auch kräftig an den Grundfesten jener Republik, die 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde. So hebelte er im September 2010 per Plebiszit mit massiver Unterstützung der Medien das verfassungsmäßige Recht des Militärs aus, gegen die Regierung zu putschen, sollte sie sich zu weit von den kemalistischen Idealen zu entfernen; fast zeitgleich wurden zahlreiche ranghohe Militärs verhaftet. Auch hier war Istanbul das Widerstandszentrum, das fast geschlossen gegen die Verfassungsänderung votierte, die im Ausland überwiegend als positiver Schritt in Richtung mehr Demokratie fehlgedeutet wurde.
Tatsächlich ging und geht es Erdogan um Machtbündelung. Er darf 2014 nicht mehr wiedergewählt werden und schielt daher auf den Posten des Staatspräsidenten, den derzeit sein AKP-Kollege Abdullah Gül innehat, will den Posten aber vorher mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen ausstatten. Würde ihm das gelingen, wäre seine Machtposition mit der Putins in Russland vergleichbar; mit Demokratie hätte das nichts mehr zu tun.
Erstaunlicherweise war es in den letzten Tagen Gül, der sich gegen den Ministerpräsidenten wendete, bei der Polizei zaghaft intervenierte und sagte, Demokratie sei mehr als Wahlen alle paar Jahre. Beobachter gehen davon aus, dass Erdogan dem Staat bis spätestens zum Jubiläumsjahr der Republikgründung 2023 seinen ganz eigenen Stempel aufdrücken will, seine Verachtung für Atatürk bringt er immer wieder mehr oder minder offen zum Ausdruck. Dazu gehört auch der Plan, den zentralen Taksim-Platz massiv umzubauen, das Atatürk-Kulturzentrum, erbaut 1969, abzureißen und eine Moschee zu errichten; im nahegelegenen Gezi-Park soll ein riesiges Einkaufszentrum entstehen. Zur Zeit ist Taksim das pulsierende Herz des europäischen Teils der Stadt, zugleich das Partyzentrum, in dem bis in die Morgenstunden das Leben tobt, und Hauptverkehrsumschlagplatz. Es ist die Spitze des Eisbergs aberwitziger Bauprojekte.
Gentrifizierung auf die harte Tour
Schon länger geht der Abriss des Armenviertels Tarlabasi, das unweit des Taksim liegt, voran. Die historischen Häuser sollen modernen Malls und Einkaufstraßen weichen, die Bewohner werden teilweise zwangsenteignet, ausländische Immoblilienhaie reiben sich längst die Hände.
Gentrifizierung auf die harte Tour ist es, was hier stattfindet. Während der unlängst begonnene Bau der dritten Bosporusbrücke und die Planung des weltgrößten Flughafens die Menschen spaltet, gilt das Vorhaben, einen zweiten Bosporus graben zu lassen, als Ausdruck absoluten Größenwahns, Kritiker werfen dem Regierungschef vor, jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben.
"Erdogan verscherbelt das Land", sagt der in Berlin und Istanbul lebende Schauspieler und Übersetzer Recai Hallac:
Im Ausland wird vor allem das Positive wahrgenommen, das Wirtschaftswachstum, die sinkende Arbeitslosigkeit, solche Dinge. Zugleich hat Erdogan immer weiter ins Leben der Menschen eingegriffen und offen provoziert. Er ließ zum Beispiel ein Denkmal an der türkisch-armenischen Grenze abbauen, was eher zaghaften Protest auslöste. Er sagte, er wolle nicht, dass Jungs und Mädchen Hand in Hand gehen, wogegen die Menschen mit einer öffentlichen Kussaktion in Ankara demonstrierten. Dann kam kürzlich das Werbeverbot für Alkohol und das Verkaufsverbot zwischen 22 und 6 Uhr. Das mögen alles vergleichsweise kleine Dinge sein, aber sie summieren sich seit Jahren und sorgen dafür, dass auch die eigentlich unpolitischen Bürger unzufrieden sind.
Recai Hallac
"Vielleicht", so sagt Hallac weiter, "hätte es diese massiven Demonstrationen auch diesmal nicht gegeben, hätte die Polizei nicht gewaltsam das vergleichsweise kleine Protestcamp im Gezi-Park am frühe Freitagmorgen aufgelöst." Dort nahm der Protest, der sich längst auf das ganze Land ausgedehnt hat, seinen Anfang. Um fünf Uhr früh stürmte die Polizei mit Wasserwerfern den Park, verprügelte Demonstranten, verbrannte ihre Zelte. Es war der letzte Funke, den es noch gebraucht hatte, ausgerechnet hier, direkt am Taksim-Platz und nahe der Istiklal Caddesi (der Unabhängigkeitsstraße), wo regelmäßig alle paar Tage Demos stattfinden und auch traditionell die Demos zum ersten Mai - die es 2013 nicht gab, weil die Polizei die Innenstadt abriegelte und die Menschen daran hinderte, zum Taksim zu marschieren. Doch die jährlichen Maidemos sind ein laues Lüftchen im Vergleich zu dem, was jetzt passiert.
Exzessive Gewalt der Polizei
Im Laufe des Freitag sammelten sich erst tausende, dann zehntausende Menschen, marschierten aus der ganzen Stadt zum Taksim und skandierten "Tayyip istifa!" (Tayyip, trete zurück!). Die Polizei reagierte brutal, Hundertschaften marschierten mit Panzerwagen auf, griffen mit Wasserwerfern, Plastikgeschossen und Schlagstöcken die friedliche Menge an, dann kamen die Tränengasgranaten hinzu, die am Boden und von Hubschraubern aus in die Menge gefeuert wurden, teilweise wurde aus geringem Abstand auf die Menschen gezielt. Es gab die ersten Schwerverletzten, darunter eine junge Türkin aus Berlin, die von einer Gasgranate am Kopf getroffen wurde. Sie erlitt einen Schädelbruch und liegt seither im Koma.
Es waren solche Bilder und jene von Polizisten, die mit schweren Stiefeln auf am Boden liegende wehrlose Menschen eintraten, die binnen kurzer Zeit das ganze Land mobilisierten. Während die türkischen Medien das Thema totschwiegen, war in den sozialen Medien, auf Facebook, Twitter und YouTube, die Hölle los. Während CNN Turk eine Doku über Pinguine zeigte, sah man im Netz die Gewalt, die sich am Taksim und im Gezi-Park abspielte.
In einem ersten Statement am Samstag sagte Regierungschef Erdogan zwar, der Polizeieinsatz am Vortag sei zu hart gewesen und müsse untersucht werden, zugleich begann die Polizei im Stadtteil Besiktas, wo Erdogan im historischen Sultanspalast Dolmabahce ein Büro hat, erneut auf friedliche Demonstranten loszugehen, und mit Einbruch der Dunkelheit eskalierte die Gewalt auch in Ankara, Izmir und zahlreichen weiteren Städten. Er werde "Plünderern und Terroristen" nicht nachgeben, ließ Erdogan verlauten.
Offenbar auf Betreiben von Staatspräsident Gül zog sich die Polizei am späten Samstagabend vom Taksim zurück, andernorts aber ging die Gewalt weiter, während die Menschen am Taksim bereits ihren vermeintlichen Sieg feierten und an der Fassade des Atatürk-Kulturzentrums ein Banner entrollen auf dem stand: "Beugt euch nicht!".
Es sind schlimme Szenen, die sich seither Nacht für Nacht abspielen. Mindestens zwei Demonstranten wurden bislang getötet. In den sozialen Netzwerken ist von weiteren Todesopfern die Rede, doch offiziell bestätigt wurde das bislang nicht. Die Istanbuler Ärztevereinigung sprach am Dienstag von rund 1.700 Verletzten allein in Istanbul, darunter einige Schwerverletzte. Polizisten sprühen den Menschen aus nächster Nähe Tränengas ins Gesicht. Wie aus Berichten und Bildern hervorgeht, setzt die Polizei auch ein weiteres, orangfarbenes Gas ein, das heftige Reaktionen wie Erbrechen und Krämpfe hervorruft. Bislang weiß niemand, worum es sich handelt.
Geschäfte, Restaurants, Hotels und sogar Privatleute öffneten ihre Türen um den Demonstranten Unterschlupf zu bieten. Mancherorts reagierte die Polizei auf diese Solidarität, indem sie Scheiben einschlug und Gasgranaten in die Häuser warf, obwohl dort auch Frauen und Kinder Schutz suchten. Der Imam der Dolmabahce Moschee öffnete seine Türen und ließ Medizinstudenten ein provisorisches Notfallzentrum einrichten, und spätestens als die Polizei Sonntagnacht vergeblich versuchte, auch diese Moschee zu stürmen, dürfte es sich die Regierung mit Teilen der Muslime verscherzt haben, die eigentlich zu ihren Stammwählern gehört.
Solidarität der Bürger
Während die Behörden versuchten, die Demonstranten als Krawallmacher zu brandmarken, zeichneten sie selbst ein ganz anderes Bild. Sie kümmern sich nicht nur umeinander, sondern auch um die zahllosen Straßenhunde und Katzen, die unter den Ausschreitungen leiden und, so wird berichtet, am Tränengas sterben. Die Demonstranten waschen ihnen mit Wasser und Milch die Augen aus und versuchen, sie aus der Schusslinie zu bringen. Nach jeder Nacht, nach jedem neuen Angriff, räumen sie auf, sammeln Steine, Müll und leere Gaspatronen ein, räumen Barrikaden weg. Im Gezi-Park hat jemand eine kleine Bibliothek eröffnet, Apotheker aus der Gegend stellen kostenlos Medikamente zur Verfügung, Supermärkte schaffen Lebensmittel heran, andere bereiten Döner und Köfte zu und verteilen sie an die Menschen, Geld will niemand haben.
Je heftiger die Gewalt seitens der Polizei, desto größer wurde die Solidarität der Bürger untereinander, desto mehr strömten im ganzen Land auf die Straßen, um sich dem Protest anzuschließen, und es kam und kommt zu Verbrüderungen, die man noch vor einer Woche für unmöglich gehalten hätte. Kurden und Türken, Kommunisten und Nationalisten, Christen und Muslime, Fans rivalisierender Fußballclubs, alle stehen sie zusammen, Hand in Hand, helfen einander und begraben ihre Differenzen. Das ist die eigentliche Revolution, die jetzt schon spürbar ist.
Ausländische Medien beobachten sie nicht zu Unrecht mit Vorsicht. Wird das halten? Oder brechen die alten Konflikte wieder auf, wenn die Tage des Aufstands vorüber sind? Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Auf den Vorplatz des historischen Galataturms im Istanbuler Stadtteil Beyoglu haben die Demonstranten mit roter Farbe den Satz gesprüht: "Lasst uns die Türkei mit Türken und Kurden gemeinsam neu aufbauen!" Solche Szenen sind ein riesiger Schritt in Richtung einer türkischen Zivilgesellschaft, die zu politischem Bewusstsein abseits des Kleinklein der zahlreichen Splittergruppen erwacht.
"Am Taksim herrscht Feststimmung, es ist im Moment der schönste Ort der Türkei. Menschen aus dem ganzen Land kommen her, um das zu erleben", erzählt Erdogan Altindis, der in Istanbul sein Ferienwohnungs-Unternehmen Manzara Istanbul betreibt. Sein Büro ist am unteren Ende der Istiklal Caddesi, die zum Taksim führt. Er hat die Geschehnisse der letzten Tage ganz direkt erlebt, jetzt geht er jeden Tag zum Taksim, um mit den Menschen zu feiern. "Ich denke nicht, dass die türkische Politik jetzt einfach wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Die Frage ist jetzt auch, was passiert, wenn Erdogan zurückkehrt."
Lenkt die Regierung ein?
Der Regierungschef befindet sich derzeit auf einer Reise durch Marokko, Algerien und Tunesien. Das ist bezeichnend. Erst gestern rief er den syrischen Präsidenten Assad dazu auf, auf sein Volk zu hören. Als 2011 die Ägypter auf die Straße gingen und Mubarak aus dem Amt jagten, sagte Recep Tayyip Erdogan, eine Macht, die das eigene Volk unterdrücke, habe jede Legitimität verloren. Er wird sich bei seiner Rückkehr an seinen eigenen Worten messen müssen, dafür werden die türkischen Bürger sorgen. "Die Chance auf das Amt des Staatspräsidenten hat er verspielt", sagt Recai Hallac. Und auch die Umbaupläne für Taksim und Gezi wird der Regierungschef begraben müssen. Das lässt sich nach dem, was seit Ende Mai passiert ist, nicht mehr unbelastet realisieren.
Die Regierung hat die klare Botschaft bekommen, dass die Türken sich nicht mehr von Sultanen regieren lassen wollen und dass Demokratie mehr ist als ein Kreuz alle vier Jahre. Und, auch wenn es eine gewagte These ist: Ich glaube, dass die Wirtschaft begriffen hat, dass Erdogan als Regierungschef nicht mehr tragbar ist.
Recai Hallac
Der Schriftsteller Alper Canigüz aus Istanbul ist momentan in Deutschland und beobachtet die Ereignisse mit Sorge, aber auch mit Freude: "Diese Demonstrationen werden viel verändern", sagt er. "Die politischen Akteure müssen nun begreifen, dass sie nicht mehr über die Köpfe der Menschen hinwegregieren können. Diese Ära ist vorbei." Die junge Demonstrantin Sinem (Name geändert), die in Istanbul eine Kunstgalerie betreibt, hofft, dass aus der Protestbewegung "eine neue Partei entstehen wird, die demokratische Werte ernst nimmt, denn so etwas gibt es bislang nicht in der Türkei. Wie es weitergeht, hängt jetzt vor allem davon ab, ob die Regierung bereit ist, von ihrem eisernen Kurs abzuweichen."
Danach sieht es im Moment zumindest aus. Im Laufe des Mittwoch nahm die Gewalt ab, auch in der Hauptstadt Ankara scheint es ein Umdenken zu geben. Es heißt, die Polizei solle nun auf Dialog und Deeskalation setzen. Weiterhin sind im ganzen Land hunderttausende Menschen auf den Straßen. Eine Revolution ist das nicht, wird es wohl auch nicht werden, selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass Recep Tayyip Erdogan vor Ende seiner Amtszeit abdanken sollte. Aber es ist ein neues Bewusstsein erwacht, das die gesellschaftlichen Strukturen der Türkei tiefgreifend verändern kann, wenn es anhält. Die Menschen haben den ersten Schritt getan. Nun kommt es darauf an, wie die Politik reagiert.