Ri Tokko oder die Liebe zum Automaten
"Das Automatenzeitalter" des Jahres 2500
Ludwig II. von Bayern war nicht nur bekennender Anachronist, der Bilderbuch-Märchenwelten einer künstlichen Romantik ohne penible historische Provenienz beschwor. Zugleich war er der vielleicht größte Virtualist, der je auf einem Königsthron gesessen hat und sich in der "nature artificielle" für sein Leiden an der realen Politik entschädigte. Der vorgeblich versponnene "Kini" liebte den einsamen Aufenthalt in künstlichen Umräumen, die etwa durch ein "Tischlein-deck-dich" kommod wurden, ohne dass Menschen lästig fielen.
In der Münchener Residenz ließ er einen aufwändigen Wintergarten bauen, der in seiner Zeit als europäisches Wunder galt. Ludwig II. wollte am Fuße des Himalayas kampieren, selbstverständlich ohne dorthin beschwerlich reisen zu müssen. Seine Schlösser waren virtuelle Transitmaschinen in eine andere bessere Welt, in eine Welt artifizieller Schönheit und Perfektion jenseits der unvollkommenen Natur. Ludwigs Wintergarten war wie andere Umräume und Visionen auch - technisch betrachtet - state of the art. Das "Tischlein-deck-dich" (ent)führte in die Welt behüteter Märchen qua Technik: Per Aufzug wurden die Speisen aus der Küche hochgefahren, der Service war automatisch, Menschenhände überflüssig, um das königliche Mahl zu kredenzen.
Diese Arrangements mit avancierter Automatentechnik wollten das künstliche Szenario nicht nur als Bühne, sondern als sinnliches Totalerlebnis, ermöglicht durch willfährige Automaten. Romantik und Automaten gehen spätestens seit E.T.A. Hoffmann ein inniges Verhältnis ein. In Hoffmanns "Sandmann" wird das Unheimliche Wirklichkeit, in der es bei fortschreitender Perfektion der Technik nicht mehr sinnvoll ist, Automaten und Menschen zu unterscheiden.
Der Mensch hat gar keine Lust am In-der-Welt-Sein. Das, wozu er Lust hat, ist das Sich-Wohl-Befinden.
José Ortega y Gasset
Das Automatenzeitalter
Wie sähe eine Welt aus, die durch und durch von Automaten beherrscht wird? RiTokko ist wie Ludwig II. ein bekennender Automatenfreak. Sein "Tischlein-deck-dich" in avancierter Form ist allerdings nur einer von vielen Automaten in den "Wohnmaschinen oder Wohnautomaten", die der Smart-Philosophie einer servilen Umwelt folgen. Per Signal ordert ein "Homat" ("Menschautomat") die Speisen, die dann plötzlich wie in Cucania auf dem Tisch stehen. Nur noch kreative Wohlfühl-Zeit soll für den Menschen zählen, die Zeit der entfremdeten Arbeit ist vorbei. Keine dissipativen Zustände dürfen den Selbstgenuss im automatengenerierten Eden noch länger hindern. Energie darf nicht versickern, die Automatenstadt ist auch der Ort des perfekten Recycling. Für die "grün" durchwirkte Energiepolitik des Automatenzeitalters gilt der energetische Imperativ des Naturphilosophen und "Energetikers" Wilhelm Ostwalds (1853 - 1932): "Vergeude keine Energie, verwerte sie!"
Ri Tokko, 1891 in Nürnberg geboren, hieß mit bürgerlichem Namen Ludwig Dexheimer und wurde nach einer erfolgreichen Karriere als Chemie-Ingenieur 1929 wie viele andere arbeitslos. Seine Arbeitslosigkeit nutzte er 1930, um "Das Automatenzeitalter" des Jahres 2500 in einem gewaltigen Romanpanorama zu entfalten, das unzählige Maschinen und Gadgets beherbergt, die unermüdlich im Einsatz für den Mensch "arbeiten".
Das Pseudonym "Tokko" kommt vermutlich aus dem buddhistischen Sprachraum und bezeichnet ein Zauberinstrument, auch "Dokko" genannt, das der Priester Kukai (774-835) einsetzte, um einem Felsen warmes Wasser zur Heilung eines Kranken zu entlocken: Automatenherrschaft auch hier! Der legendäre Kukai war wie Dexheimer Ingenieur. Dexheimer vertraute allerdings weniger auf magische als auf wissenschaftliche Kräfte, die er in seinem einzigen Roman dem Leser pädagogisch mit vielen, auch heute noch aktuellen Kontexten präsentiert. Ralf Bülow vom Landesmuseum für Technik und Arbeit (LTA) in Mannheim hat das umfangreiche Opus 2004 neu ediert und die verdienstvolle Arbeit minutiös geleistet, die Erstfassung von 1930 um zahlreiche, bisher nicht veröffentlichte Passagen zu ergänzen. Eine echte Rezeptionsgeschichte gibt es nicht, die Nazis haben das Buch wegen seiner pazifistischen Tendenzen verboten und nach dem Krieg blieb es weitestgehend unentdeckt.
Technik als Subjekt
Das wahre Subjekt dieses Romans ist eine Technik, die das Instrumentelle auf den Höhepunkt getrieben hat. Die Protagonisten des Romans, allesamt auf Namen von ostasiatischen Ligaturen hörend, stören nicht allzu sehr, weil sie in der Logik Ri Tokkos nur die Anwendungsfälle des automatisierten Lebens sind. Lu und Mi, die beiden Liebenden, unternehmen Reisen über den ganzen Globus. Sie besichtigen vornehmlich mit dem "Aero", einem hochdynamischen Flugauto, die "an Wundern reiche Natur", die als globaler Freizeitpark und effizient beherrschter Rohstofflieferant alles bietet, was dem ästhetischen und praktischen Nutzen des Menschengeschlechts dient.
Ludwig Dexheimer glaubt an die Technik der ökologisch schonenden Naturbeherrschung, die Rationalität der Weltbetrachtung, die Ersetzung von Transzendenz in eine Immanenz des Quasi-Göttlichen, das der Mensch im Automatenpark erstrebt. Naturbeherrschung heißt, das Schöne der Natur zulassen, dem Sinnengenuss ohne Reue zu frönen. Die Widrigkeiten einer feindlichen äußeren (wie inneren) Natur verschwinden, von behebbaren Betriebsunfällen abgesehen, dagegen in der Automatenherrschaft. Das ist einer der Gründe, dass die Protagonisten dieses Romans, allesamt Unisex-Figuren wie die Figurinnen des Art Deco, fortwährend froh, spielerisch und ohne den Fluch von Geschlecht oder Rasse agieren dürfen. Es gibt in dieser Welt kein echtes Drama mehr, Automaten werden zum Garanten der von der Natur und Alltagssorgen befreiten Leisure Class.
Bis zum heutigen Tage warnt die Technikkritik vor diesen unheimlichen Begleitern. Nicht nur technikfeindliche Neo-Ludditen verdächtigten selbstläufige Maschinen, die ohnehin menschenfeindliche "rationale" Betriebsführung noch weiter zu verschärfen, um den modernen Arbeiter in der Stupidität seiner Bedienerfunktion vollends auf seine Funktion als Rädchen im Getriebe der "Modern Times" zu reduzieren. Bei Ri Tokko werden die Automaten dagegen zur wahren Einlösung der Versprechen der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ohne rassische Herkunft und Vorurteile, weil die technik-generierte Welt keine echten Ressentiments mehr aufkommen lässt.
Die eingeborene Bosheit der Menschen wird bei Ludwig Dexheimer auf harmlose Frotzeleien zwischen mehr oder minder gleich gepolten Geschöpfen heruntergefahren. Wenn alle Wildheit ausgetrieben ist, ist auch der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf. Rousseaus zivilisationsflüchtiges Motto "Zurück zur Natur" verwandelt sich in das euphorische "Hin zum Automaten", das mehr oder minder ab jetzt für alle sozialen und individuellen Seinsweisen zuständig wird. Gott ist längst tot und Automatenherrschaft heißt Schicksalsentsorgung, was übrigens die buddhistische Konnotation des selbst gewählten Pseudonyms "Ri Tokko" zusätzlich plausibel macht. Das Unheimliche früherer Zeiten ist eine Automatenfunktion, über die man verwundert sein mag, aber letztlich nur lachen wird, was die "Edelmenschen" der egalitären Automatengesellschaft eben bis zur literarischen Schmerzgrenze hin tun.
Eine wesentliche Zäsur der Technik-Evolution zur bisher organischen, d.h. kontingenten Entdeckungs- und Erfindungsgeschichte des Menschen stellt die "Fabrik der Erfindungen" dar. Bereits der literarische "Fantast" Paul Scheerbart erwähnt 1901 in "Rakkóx, der Billionär" eine "Erfindungsabteilung". In der Fabrik nach Dexheimers Design werden neue Erkenntnisse und Wahrheiten systematisch durch Kombination des angestammten Wissens produziert, ohne noch länger dem "trial and error" unvollkommener Zwischenstufen im Chaos-Lab der wechselvollen Erfindungsgeschichte folgen zu müssen. Auch der menschliche Fortschritt kann also in einer Theorie und Praxis des Neuen organisiert werden, um dann eine wirklich aufgeklärte Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, die so automatisch abläuft wie die von ihr ersonnenen Automaten. Der wissenschaftliche wie technische Fortschritt soll nicht länger eine Geschichte der zufälligen Funde und Paradigmen sein, sondern die rationale "Reißbrett-Konstruktion" einer sich selbst reflektierenden Wissenschaft.
Ri Tokko erinnert in dieser Vision ausdrücklich an den Mystiker Raimund Lullus (1232-1315), der mit seinen rotierenden Kombinationsscheiben begrifflich heuristische Fortschritte erzwingen wollte, sodass selbst die Heiden angesichts dieses stupenden, unhintergehbaren Wissens zum wahren Glauben bekehrt würden. Funktioniert hat es aber augenscheinlich bis auf den heutigen Tag nicht.
Homaten wie Du und Ich
Dieser Roman, der keiner ist und sich eher als vielschichtiges Kompendium einer realen und potentiellen Wissenschaftsgeschichte vorstellt, zielt mit seinen locker verknüpften Textsorten nicht auf eine geschlossene Form, sondern sucht immer neue Anlässe, seine Technikprospekte zu entfalten, die nahezu alles umklammern, was wir bisher in Science-Fiction-Welten erlebt und erlitten haben. Im Grunde ist diese Konstruktion nicht so weit von den heterogenen Textschichten entfernt, die James Joyce, Döblin und auch Thomas Mann zum Signum des modernen Romans aufgetürmt haben. Doch Dexheimer geht es weniger um die literarische Komplexität oder offenen Interpretationsräume seines disparaten Textgebirges als um die sinnlichen Verheißungen einer "postpostmodernen" Automatenwelt und die erträgliche Leichtigkeit ihrer Bewohner.
Das untergründige, maskierte Drama dieser fiktiven Welt sind die Homaten: Cyborgs, Androiden, Roboter, die auf Wink devot reagieren, um ihren menschlichen Herren zu dienen. Homaten gehorchen bereits den Asimovschen Robotergesetzen, die Ri Tokko zwar nicht explizit formuliert, die sich aber im Handeln der selbstlosen Maschinenwesen bis hin zum Einsatz ihres "Lebens" für Menschen erweisen. Nur der danach längst überfälligen Homaten-Ethik verweigert sich Dexheimer mit der hierarchischen Konstruktion von Edelmenschen und dienstbaren Kreaturen, die nicht empfindungsfähig seien. Doch wenn Gefühle für intelligentes Handeln notwendig wären, wie die zeitgenössische Intelligenz-Forschung immer wieder betont hat, wären die Homaten nicht nur die Unterjochten per Geburt. Schlimmer: sie könnten nicht funktionieren.
Ri Tokko gerät in seinen Diskursen über die Frage, was denn Gefühle sind, an eine im Roman nicht aufgeschlüsselte Grenze. Sind starke Gefühle wie Liebe und Hass nichts anderes als "die Polarität des Magneten, der anzieht oder abstößt nach Art seiner Wechselwirkung mit dem anderen Objekt"? Selbst die ewige Magie der Liebe wäre danach ein fossiler Irrtum, den die Edelmenschen von Automatenwelt mit Gefühlsverdrängung oder - in schlimmen Fällen - mit Hypnose behandeln:
Wir spielen auf den Saiten unserer Seele wie der Virtuose auf seiner Geige, und die Harmonien der Gefühle, die wir derselben entlocken, sind frei von Dissonanzen.
Doch sind das überhaupt noch Gefühle? Jean-Paul Sartre hat das Gefühl so gekennzeichnet, dass der Mensch in ihm in die Magie abtaucht, wenn die Welt anders nicht mehr aushaltbar ist: "Emotionen werden wir einen abrupten Sturz des Bewusstseins ins Magische nennen." Insofern ist die Gefühlsverdrängung Ri Tokkos, die die Magie gegen die Automatenrationalität bzw. die Katastrophen durch Technik ersetzt hat, eine in sich (psycho)logisch schlüssige Welt. Wenn alles durch das Automatenkalkül beherrschbar ist, hat die menschliche Flucht in überwältigende Gefühle keinen Platz mehr.
Das starke Gefühl hat nur noch eine historisch obsolete Bedeutung, die in der Erzählung von der "Bäreninsel" gleichsam reanimiert wird: Dort "wartet" ein verblichener Liebender in der Kühlkammer auf seine konservierte Geliebte. Dieses Bild einer den Tod tranzendierenden Liebe wird zum Spekulationsobjekt, ob und wie der Tod besiegt werden könnte. Das Klonen verwirft Dexheimer, weil es eben die Identität just um ihre Erfahrungen, sprich: Liebe, verfehlt. In der Frage, wie die unterschiedlich verfallenen Körper der beiden Liebenden revitalisiert werden können, entspannt sich ein Techno-Diskurs, der damit schließt, dass das, was von der Gegenwart nicht zu erwarten ist, von der Zukunft erhofft, ja erwartet werden kann. Das ist der kategorische Imperativ des Maschinenzeitalters, der auch unseren Techno-Glauben beflügelt.
Die unheimlichen Maschinen
Was aber ist ein Automat und wie sieht eine Welt aus, in der die Automaten, gut versteckt in ihrer Unterwürfigkeit, längst die eigentliche Herrschaft angetreten haben? Das anthropozentrische Leitmotiv des botmäßigen Automaten leuchtet schön in einer dialektischen Randbemerkung des Werks auf:
Es gilt die Regel, dass die Dinge zu uns kommen und nicht wir zu den Dingen.
Doch ist nicht diese Bewegung der Dinge auf den Menschen zu die imperiale, ihn vereinnahmende, beherrschende, aus der kein Weg zurückführt, weil diese Unterwerfung die schmeichelhafteste für das wahre Automaten-Subjekt, den Menschen, ist. In Fritz Langs Film "Metropolis", der Ludwig Dexheimer bekannt gewesen sein dürfte, erkennt Boris Groys den Hauptkonflikt des Dramas darin, "dass die Maschine der Manipulation die Menschen dazu anstiftet, die dienenden Maschinen zu zerstören." Letztlich siegen hier wie dort die scheinbar dienstbaren Maschinen, um die soziale Gemeinschaft von Menschen und Maschinen jenseits der unheimlichen Verführungen wieder zu etablieren. Doch ist das für radikale "Automaten-Denker" prognostisch plausibel, wenn doch gerade der Vorschein virtueller Welten uns viel mehr als nur den instrumentellen Charakter zukünftiger Kulturen verheißt und für jede Automatenfantasie Hegels Dialektik von Herr und Knecht gilt? Und ist der Mensch nicht selbst ein Automat?
Jedenfalls kommt es im ominösen Kapitel 53 zum "Aufstand der Homaten" und wer will danach noch behaupten, sie wären ohne Gefühl, denn zumindest ein wohl begründetes Ressentiment gegen die überheblichen, anthropozentrischen Menschen lässt sie rebellisch werden. Sind wir "im Grunde selbst nur Automaten", wagen die Menschen immerhin zu denken. Die Homaten sind selbstverständlich per definitionem Transhumanisten. Doch der wahre Schock kommt erst noch. Selbst Lu, der Freund der Titelheldin Mi, ist ein Homat und damit bricht die ganze Homatentheorie von der gefühllosen Sklavenkaste, denen nie Mitleid gelten könnte, zusammen.
Schon bei E.T.A. Hoffmann beschreibt Nathanael die Automatenliebe als die wahre: "...nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder." Ist "Lu", der Freund von Mi nur ein emotionsloses "Ding", das sich in die Menschenwelt mimetisch eingeschmuggelt hat. Halt, alles nur geträumt! So beruhigt uns Ri Tokko zum Ende des Kapitels, weil alles andere in dieser "Automatenwelt" furchtbar wäre, weil sie sonst ihre letzte Differenz, die zwischen Menschen und den Anderen, und damit ihr letztes Geheimnis verlöre.
Welt ohne Leiden
Ri Tokkos Welt ohne echte Katastrophen ist eine buddhistische Techno-Konstruktion wider das vormalige Prinzip, sich in und durch das Leiden der Kreatur als Mensch zu finden. Wenn der ursprüngliche Trieb des Menschen das "Zerstören" ist, wie es eine Psychologin im Roman verkündet, dürfte die selbstgefällige Erklärung der Automatengesellschaft kaum reichen, darin nurmehr einen historischen "Schandfleck auf dem Gewissen der Menschheit" zu sehen.
Ri Tokko hat auch als Pazifist die Flucht vor der beklemmenden Gegenwart der zwanziger und dreißiger Jahre angetreten, die schon bald ihre Kriegsbereitschaft unter Beweis stellt. Diese Welt ohne Widerstände und echte Verführung zum Transhumanen wird so zum letzten Automatenrestaurant vor der Auffahrt "Nirwana", in der lukullische Genüsse existenzielle Fragen ersetzen. Selbst ein gefährlicher Ausflug der Helden in eine der letzten verbliebenen unwirtlichen Umräume bleibt folgenlos. Aber was wäre dieser intrauterine Glückseligkeitszustand wert, den Ri Tokko ähnlich wie Aldous Huxley (Brave New World, 1932) in psychedelischen Erlebnissen beschreibt, wenn er schließlich das Bewusstsein vornehmlich als Lustzentrum des Menschen beschreibt?
Das von uns vorangestellte ketzerische Motto von Ortega y Gasset zielt nicht auf die Existenz, ob nun in der Weise Heideggers oder Sartres und schon gar nicht in der schwermütigen Weise Kierkegaards, sondern eben auf Wellness-Zustände schwebender Existenzen. Martin Heidegger hatte drei Jahre vor Dexheimers Roman mit der Veröffentlichung von "Sein und Zeit" die tradierte kulturpessimistische Kritik gegenüber der Technik noch weiter radikalisiert. Der alte Verdacht gegenüber der Technik manifestiert sich im Vorwurf der "Seinsvergessenheit" der immer stärker in die Lebensbezüge des Daseins einschneidenden Technik. Heidegger bescheinigte dem zeitgenössischen, unreflektierten Technikverständnis, ihr Wesen und damit das Dasein völlig zu verfehlen, wenn die Technik nur in ihrer Funktion wahrgenommen wird und die Technisierung schließlich alle menschlichen Seinsweisen beherrscht.
Paradiesische Konditionen auf Knopfdruck ent-sorgen bei Ri Tokko dagegen die uns bekannte Existenz im mehrfachen Wortsinne, weil alle menschliche Bedrängnis einschließlich des größten Betriebssystemfehlers, des Todes, ein wenigstens tendenziell reparabler Irrtum der Natur ist: "Schicksal, ich zwinge dich!" Wie der Mensch danach noch zu definieren wäre, entzieht sich Ri Tokko allerdings ähnlich wie jenen gottsuchenden Heilsbringern, die zwar die Hölle zu schildern wissen, aber wie Dante eher blass vom Paradies künden. Deswegen prägt den Roman nicht lediglich eine literarische Unsicherheit, echte Charaktere zu schildern, sondern eine immanente philosophische Ratlosigkeit. Auch jenseits der Existenzphilosophie, die im Widerstand zu den aufkommenden Automaten und ihrer Seelenlosigkeit erstarkte, können wir den Menschen nicht nur als technisches oder biologisches Mängelwesen ansehen, das lediglich aufzurüsten ist und darin glücklich wird, sondern als die fragile, ständig überlastete Schnittstelle der Evolution. Findet die Evolution bessere Lösungen, gibt es auch keine Menschen mehr.
"Das Automatenzeitalter" wirft zwar die drängende Frage auf, ob nicht der Vollzug dieser imperialen Technik daher den Menschen überflüssig macht. Doch diese tradierte Sollbruchstelle zwischen Natur und Bewusstsein will Ri Tokko nicht aufgeben. So bleibt die Frage an den Automaten-Prognostiker, was denn die emphatisch beschworene "Höherentwicklung" des Menschen noch sein könnte, wenn das angenehme Wohlgefallen an sich selbst und anderen vollendet wäre. "Wir haben so eine bessere Ausnützung der begrenzten Frist erreicht, die wir im Lichte der Sonne wandeln, und können dank dem Überfluss an verfügbarer Zeit unser Leben mit mehr lustbetontem Inhalt erfüllen", antworten Ri Tokkos moderat libidinös gepolte Protagonisten. Gewiss, denn "alle Lust will Ewigkeit - will tiefe, tiefe Ewigkeit!" souffliert hier Zarathustra, der jedoch diesen leidensfreien Wohlfühl-Menschen für keine anthropologische Wünschbarkeit hielt.
In dem jenseits dieser philosophischen Fragilitäten aufregenden Diskurs durch die Technikgeschichte und reichen Ausblicken auf eine zumindest in vielen Erscheinungen nicht unwahrscheinliche Technik-Evolution wird nicht weiter extrapoliert, dass der Homat der wahre Nachfolger des Menschen sein könnte, dass der Automat die menschlichen Funktionen so überflüssig werden lässt wie das durch Automaten geschaffene Paradies vor Glückseligkeiten überzufließen scheint.
Immerhin konzediert Ludwig Dexheimer die Grenzen des prognostischen Wissens, an dem ein "Heros" erscheinen mag, ein Mensch oder ein Gott, der über die Zukunft entscheidet. Hier berührt der Autor die noch wesentlich radikalere Technik-Fortschreibung Frank J. Tiplers: Die Omega-Phase des absoluten Wissens und der Gottähnlichkeit, in dem sich die Wiederauferstehung aller Kreaturen im virtuellen Paradies vollzieht. In dem 1910 von Rudolf Hawel vorgestellten Roman Im Reiche der Homunkuliden heißt es bereits von diesen, den Homaten vergleichbaren Wesen sehr apodiktisch:
Unsere Homunkuliden sind weit besser daran als die Menschen von einst, und ich glaube kaum, dass es einen Homunkuliden gibt, der sein Dasein mit dem eines Weibgeborenen tauschen würde!
Hawels Szenario ist den Ausblicken Dexheimers auch in anderer Hinsicht verwandt, auch hier gibt es "Öko-Energie" bis hin zu den "Aeoronauten", die bei Ri Tokko "Aeros" heißen. Dexheimer hält aber an den "Weibgeborenen" fest, während sich bei Hawel das Schöpfungsprinzip künstlicher Wesen fast ausnahmslos gegen die selbst uns noch geläufige Technik der Fortpflanzung durchsetzt.
Für die bei Dexheimer ständig scherzenden, neckenden, von starken Gefühlen erlösten Menschen wäre in dieser stringent finalisierten Automatenwelt vielleicht nicht mehr viel zu lachen, denn jenes Codewort aus dem Traum der Heldin "Mi", um die Homatenrebellion zu stoppen, existiert nicht wirklich. Auch wir kennen das Codewort nicht...aber wir müssen in diesem Traum, der Wirklichkeit heißt, weiter leben, welche Wendung er auch immer nehmen wird.
Ri Tokko, Das Automatenzeitalter - Ein prognostischer Roman, Shayol-Verlag. 792 Seiten. EUR 59,00