Ringen um Sichtbarkeit
Die Stunde der Migranten - Aufmerksamkeitskämpfe zwischen Straße, Kino und Galerie
Der Sommer kommt und in der Werbung werden immer häufiger Versprechen auf Mexikanisch gemacht. Alles soll schön würzig, peppig, na ja und eben auch scharf sein. „Pimp My Drink With Sierra“ schreit es da beispielsweise im Pseudo-Chicano-Stil in einer Tequila-Werbung. Motto: „Aufmotzen auf Mexikanisch“. Und während uns Alkoholfabrikanten, Touristik-Unternehmen und Nahrungsmittelhersteller in einen typisch mexikanischen Taumel texten, verschaffen sich Mexikaner auf der anderen Seite des Atlantiks Gehör. Dort, wo sie unter besonders prekären Bedingungen leben, haben ihre Aktionen eine andere Art des „Aufmotzens“ zum Ziel.
Der größte Anteil einer Minderheit, die es geschafft hat, aus der Peripherie in das Zentrum des US-Imperiums vorzudringen, rekrutiert sich aus Protagonisten der spanischsprachigen Welt, allen voran Mexikanern. Wie der Schriftsteller Carlos Fuentes in seinem aktuellen Artikel „No somos invisibles“ („Wir sind nicht unsichtbar“) zu verstehen gibt, wären die USA ohne die mexikanischen Einwanderer eine amputierte Wirtschaftsmacht. Immerhin verrichteten sie Arbeit, die sonst niemand übernehmen würde. Das Ausmaß ihres Einsatzes zeigte sich in der letzten Aprilwoche, als Millionen von Einwanderern ihrem Arbeitsplatz fernblieben und stattdessen auf die Straße gingen. Die Proteste kreisten um das neue Gesetz H. R. 4437 und wurden begleitet von hitzigen Diskussionen über das rassistische Flash-Spiel „Border Patrol“ ("Lasst sie nicht rein …") – selbst Fuentes lässt es sich nicht nehmen, auf dieses Spiel einzugehen.
Migranten zwischen Kino und Galerie
In diesem Klima ist auch einiges von künstlerischen Projekten zu hören. Berichte über den spanischsprachigen Film gibt es hier und da zu lesen. Ein Artikel von Juan Manuel Badillo, der im Umfeld des migrantischen Protests in den USA erschien, weiß jedenfalls, dass das mexikanische Kino dieses Thema nicht erst gestern entdeckt hat. Badillo nennt etwa „El mil usos“ von Roberto G. Rivera - der Film wurde bereits 1981 produziert. Und ihm fallen einige aktuelle Beispiele ein, wie „Bienvenido paisano“ von Rafael Villaseñor Kuri. Darüber hinaus macht er eine interessante Beobachtung:
Im Unterschied zu dem, was in den Filmen passiert, in denen die Realität die Fiktion inspiriert, wurden mit den Aktionen des 1. Mais die Verhältnisse auf den Kopf gestellt.
Bei diesen Zeilen hat er einen Film von Sergio Arau im Hinterkopf: „Un día sin mexicanos“. Darin verschwinden Arbeiter mit migrantischem Hintergrund – einer nach dem anderen von seinem Arbeitsplatz: Gärtner, Tankstellenwärter, etc. Als der Film vor zwei Jahren in den Kinos anlief, hätte wohl kaum jemand für möglich gehalten, dass dies einmal Wirklichkeit werde. Geschweige denn der Regisseur selbst. Spätestens am ersten Mai haben die Proteste das Kino jedoch eines besseren belehrt und Arau stand mit seinem Kamerateam auf der Straße – die zugleich abwesenden und überaus sichtbaren Arbeiter filmend.
Parallel dazu startete auch eine spektakuläre Aktion in der New Yorker Kunstwelt. Wie bei dem Reality-TV-Format „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ wurden in der Galerie White Box ein paar Menschen gefangen gehalten; wie bei Big Brother standen sie unter permanenter Beobachtung der Öffentlichkeit. Unter ihnen befanden sich Ilana Bessler aus Brasilien, Valeria Cordero aus Venezuela, Maria Camila Sanjines aus Kolumbien und Antonio Perez Rubio aus Mexiko. Die anderen sechs kamen aus Deutschland, Japan, Nigeria, Polen, Serbien-Montenegro und der Ukraine. Während der fünftägigen Ausstellung mussten sie eine künstlerische Arbeit produzieren – mit den ihnen dort zur Verfügung stehenden Mitteln. Die Arbeit wurde am Ende von den Besuchern der Galerie begutachtet. Wer letzten Endes am meisten Zustimmung bekommen hat, steht noch aus. Der oder diejenige darf jedenfalls auf ein Visum für die USA hoffen. Kategorie O-1: “Special Talent Artist Visa”. Entsprechend heißt die von Wooloo Productions initiierte Aktion „Asylum NYC“.
Die Grenze ist verschwunden
Die Musiker Argenis Brito und Pier Bucci liefern einen passenden Soundtrack zu diesen Kunstaktionen. Mit ihrem gemeinsamen Projekt Mambotur haben sie letztes Jahr auf multiColor das Album „Al Frente“ veröffentlicht. Die Tracks erschallen mit weichen, treibenden Elektronikwellen... das wohlklingende Ergebnis eines Ping Pongs, den die beiden Komponisten mit dem Lokalkolorit ibero-amerikanischer Sounds eingespielt haben. Auf dem Cover ist diese Kartografie des Klangs mit einer Grafik verbildlicht worden. Lateinamerika findet sich dort aus geometrischen Farbflächen neu zusammengesetzt.
Die politische Ordnung ist zugunsten eines bunten Mosaiks suspendiert worden. Einzelne Bausteine der neuen Konstellation funktionieren wie Op-Art. Ob es eine Sinnestäuschung ist, dass Mexiko auf dieser Karte „out of place“ ist? Dass das Land schlichtweg fehlt. Möglicherweise ein Verweis auf die weltweit am strengsten bewachte Grenze, die zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten liegt. Die Perversionen des imperialen Haushalts – der Tortilla Curtain ist Drogensumpf, Armutslandschaft und Migrationsstaugebiet – sind suspendiert worden. Ebenso wie die von dem interaktiven Projekt Enter Frontier mit feiner Ironie dokumentierte Grenze, die den Strom von Migranten reguliert. Alles ist hier nun ein fließendes Kontinuum. Das dieser Tage viel thematisierte Thema der Unsichtbarkeit ist gewissermaßen ins Positive gewendet worden.