Rudolf Steiner: Quacksalber oder Visionär?
- Rudolf Steiner: Quacksalber oder Visionär?
- Steiner und Wissenschaftlichkeit – Kritische Fragen
- Steiner – ein Rassist?
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Ein Teil der Querdenker-Bewegung beruft sich auf den Anthroposophen. Doch wer war der Mann, dessen Ruf von einem pseudowissenschaftlichen Guru und Rassisten bis hin zum Vorbild reicht?
Die von Rudolf Steiner (1861-1925) begründete Anthroposophie wird derzeit als eine der geistigen Grundlagen für die "Querdenken"-Bewegung ausgemacht. Es heißt dann etwa:
Rassismus und Antisemitismus sind in der Lehre von Rudolf Steiners tief verwurzelt. Und eine Nähe zum Nazismus ist bis heute nicht wirklich aufgearbeitet...
"Romantisches Denken ist verknüpft mit dem Anliegen, das Affekt- und Gefühlvolle dem Verstandesmäßigen, dem 'rationalistischen Denkstil', nicht länger unterzuordnen"...
Das Ablehnen von Impfungen gehört zu den Grundlagen anthroposophischer Medizin.
"Corona-Proteste: Schnittmengen zwischen den beteiligten Milieus" in Telepolis 26.12.21
Ich bin kein Steinerianer, aber die zitierten Urteile über Steiner bedürfen der Korrektur. Sie entsprechen einem gängigen Steiner-Bild, decken sich aber nicht mit seinen Schriften und Äußerungen.
Steiners Erkenntnisweg – Rationales Denken und hellseherische Schau
Steiner baut auf den Naturwissenschaften auf, will sie aber durch seine Art von Schau ergänzen. Auch rationales "Denken" spielt für ihn eine zentrale Rolle1:
Unseren Verstand, unsere Vernunft anzustrengen, unseren Wahrheitssinn genügend anzustrengen, ist uns vielleicht unbequem, aber wir müssen uns dieser Unbequemlichkeit aussetzen.
Die "Erkenntnis höherer Welten" ergänzt das rationale Denken durch Imagination, Intuition, Inspiration und Vision. Das sind eher religiöse und künstlerische "Erkenntnisweisen" als naturwissenschaftliche. Sie dürften aber bei genialen Naturwissenschaftlern auch eine Rolle gespielt haben.
Mit seinen Einblicken in die "geistige Welt" will Steiner den Materialismus der naturwissenschaftlichen Weltsicht überwinden und naturwissenschaftliche Erkenntnisse bereichern. Steiners Erkenntnistheorie ist reflektiert, auch wenn man den etwas abrupt wirkenden Sprung in jenseitige Sphären nicht nachvollziehen möchte. Ein Steiner-Zitat2:
Gewiß ist unendlich Bedeutungsvolles geschaffen worden im Laufe der letzten drei, vier, fünf Jahrhunderte gerade auf naturwissenschaftlichem Gebiet, und unsere Freunde wissen, wie oft ich die große Bedeutung der naturwissenschaftlichen Errungenschaften betone, wie ich sogar das, was die Geisteswissenschaft [so nennt er sein Gesamtkonzept] für die Gegenwart und Zukunft zu leisten hat, mit dem, was Naturwissenschaft im Laufe der letzten, besonders des neunzehnten Jahrhunderts heraufgebracht hat, vergleiche…
"Geisteswissenschaft" und Schulmedizin – Gegensätze?
Der Ergänzungsweg gilt auch für die Medizin.
In vieler Beziehung sind diejenigen Dinge bewundernswert, welche von der Schulmedizin in der letzten Zeit geleistet worden sind... [Aber:] ...unser Organismus [nicht] durch kleinliche Mittel zur Gesundung gebracht, sondern die Geisteswissenschaft selbst ist das große Heilmittel zur Gesundung...Klare, helle Gedanken, umfassende Gedanken, wie sie nur durch eine umfassende, auf das Ganze der Welt, also auch auf das Übersinnliche gehende Weltanschauung hervorgerufen werden können, sind Voraussetzung für die Gesundheit.
Rudolf Steiner (GA 57, S. 95, 211/212)
Hier mag die Berufung auf das "Übersinnliche" stören. Es ist aber so, dass Steiner auf seinem Weg nicht nur abseitige, irrationale oder esoterische Gedankengänge findet, sondern auch plausible, evidente Erfahrungen oder Einsichten. Richtig gesehen hat er, dass Krankheit eine Störung des körperlichen-seelischen-mentalen Gleichgewichts und Heilung ein ganzheitlicher, Leib-Seele-Geist umfassender Prozess ist.
Ausgangspunkt der gesundheitlichen Vorsorge und Heilung ist für ihn immer die Betrachtung des ganzen, individuellen Menschen. Auch sein Hinweis auf "Furcht-Imaginationen", die bei der Ansteckung von infektiösen Krankheiten begünstigend wirken können, ist ebenso evident wie die krankheitsverhindernde und heilungsfördernede Wirkung von positiven Imaginationen.
Steiners "Einsicht", Krankheiten würden mit Fehlhaltungen in früheren Inkarnationen zusammenhängen und seien auszuleben, werden nur Anhänger der "Karma"-Lehre nachvollziehen können. Es steckt aber auch in dieser Ansicht ein beachtenswerter Kern: Krankheiten können sehr wohl ein Hinweis auf alte, krankheitsförderne Gewohnheiten bzw. Einstellungen sein und eine Chance für gesunde Lebensänderungen bieten.
Der Gedanke, dass Krankheiten und Seuchen ein Anstoß zur "Erziehung" (Verhaltensänderung) von Individuen und Gesellschaften sein könnte oder sollte, ist ja in Hinsicht auf den Corona-Ausbruch nicht abwegig.
Steiner und Epidemien – Selbstheilungskräfte der alleinige Weg?
Steiner hatte Ähnliches wie wir vor Augen – den Ausbruch der "Spanischen Grippe" – und das macht seine Ausführungen dazu aktuell. So muss auch gefragt werden, ob die heutigen Maßnahmenkritiker sich mit Recht auf ihn berufen können.
Angesichts der Spanischen Grippe bestreitet Steiner nicht die krankmachende Wirkung von "Bazillen" (Viren kannte er noch nicht), er weist aber mit Recht darauf hin, dass zur Entfaltung der Erreger immer die körperliche und geistige Disposition von Individuen und Kollektiven gehört. Er wendet sich gegen übertriebene Bazillenfurcht, hält aber "Hygienemaßnahmen" – gerade in Epidemiezeiten – für angebracht3:
Nun soll ja … selbstverständlich nicht gesagt werden, daß die Bazillen durchaus gepflegt werden sollen, und daß es etwas Gutes ist, recht viel sozusagen mit Bazillen zusammenzuleben …
Wen erinnert das nicht an die Parole, man müsse "mit dem Virus leben"? Hygienemaßnahmen – so meint er – seien nicht nur eine individuelle Angelegenheit, sondern eine "soziale Frage": Sie müssten aus dem "Intellektualismus" und Spezialismus der Fachleute in die Gesellschaft gebracht, also "demokratisiert" werden, wie er wörtlich sagt. Steiner wendet sich nicht unbedingt gegen das "Parieren" bei notwendigen Maßnahmen in einer Epidemie – etwa Kontaktbeschränkugen –, aber wichtiger als Vorschriften ist für ihn4:
Wenn Sie in die menschliche Sozietät hineinbringen ein Laienpublikum, das ... mit Menschenverständnis dem aufklärend für Prophylaxe wirkenden Arzte gegenübersteht ...
Er hält also verständliche und einsehbare Kommunikation der Maßnahmen für wichtig – ein Gesichtspunkt, den sich Corona-Wissenschaft und -Politik "hinter die Ohren schreiben" sollten.
Steiner erwartet viel von nicht materialistisch verstandenen, individuellen Selbstheilungskräften, aber egoistischen Rückzug darauf findet er nicht heilsam5:
Nehmen wir an, wir leben in einer Epidemie drinnen oder in einer Seuche. Selbstverständlich muß da einer für den anderen stehen ...Wenn sich ausbreitet eine edle Gesinnung, so daß die egoistische Furcht zurücktritt, und das liebende Helfen unter den Menschen wirkt, [würde man erfahren,] was die Ausbreitung einer solchen Gesinnung auf das Beendigen von Epidemien wirken könnte, wenn man sich danach benehmen würde.
Steiner – ein Impfgegner?
Ob Steiner sich gegen die Corona-Impfungen aussprechen würde, lässt sich nicht mit Gewissheit im Nachhinein entscheiden. Steiner sah Impfungen als problematisch an (er hatte die Pockenimpfung vor Augen). Er wendet sich aber gegen Fanatismus in dieser Frage – wie überhaupt gegen jeden "Dogmatismus" in Heilmethoden6:
Sehen Sie, wenn man jemand impft, und man hat den Betreffenden als Anthroposophen und erzieht ihn anthroposophisch, so schadet es nichts...
Wo die anthroposophische Einsicht und Erziehung fehlt, empfiehlt er7:
Da muß man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde. Die fanatische Stellungnahme gegen diese Dinge ist nicht das, was wir anstreben, sondern wir wollen durch Einsicht die Dinge im Großen anders machen.
Ich vermute, bei seiner Wertschätzung der Naturwissenschaften würde Steiner wohl die Impfung als "Notlösung" empfehlen, zumal die Impfstoffe ja auch nach dem Prinzip "Gleiches mit Gleichem bekämpfen" wirken, wenn auch nicht in homöopathischen Dosen.
Hier – bei der Unterscheidung von Anthroposophen und "gewöhnlichem" Volk – wird bemerkbar, dass Steiner sich zwar mit allgemeinverständlichen Einführungen auch an ein nicht anthroposophisches Publikum wandte, tiefere esoterischen Einblicke aber an "Wissende" und "Eingeweihte" weitergab. Seine Erkenntnismethode und seine zentralen "Erkenntnisse", sind nicht allen zugänglich, sollen aber allen bekannt gemacht werden.
Von den jetzt schon "Wissenden" und der weiteren Entwicklung der Menschheit erwartet Steiner eine Durchdringung des allgemeinen Bewusstseins im Sinne der "geisteswissenschaftlichen" Einsichten. Auch hier wieder der Doppelcharakter, die Ambivalenz seines Konzeptes. Es ist anscheinend für Interpreten und Anhänger schwer, den Doppel- und Ergänzungscharakter seines medizinischen und weltanschaulichen Entwurfs zu durchschauen. Dies führt zu einseitigen Interpretationen und Bewertungen.