Rudolf Steiner: Quacksalber oder Visionär?

Seite 2: Steiner und Wissenschaftlichkeit – Kritische Fragen

Auch, wenn man das differenziert sieht, bleiben kritische Fragen. Soweit er naturwissenschaftliche Erkenntnisse ins Spiel bringt – die natürlich zeitgebunden sind – wird man ihm Wissenschaftsorientierung attestieren können. So z.B. in seiner frühen Schrift: "Haeckel und seine Gegner" (1900). Steiner übernimmt naturwissenschaftlichen Grundlagen Haeckels (wie die "Evolutionsidee"), nicht aber dessen Folgerungen für die Religion.

Steiner will die innere Welt mit der äußeren, Wissen und Glauben versöhnen, nicht auf dem Weg mystischer Subjektivität und auch nicht mit der bloßen Registrierung "objektiver" Tatsachen, sondern auf dem Weg der an der Sachlichkeit der Naturwissenschaft geschulten "Sehkraft des Geistes". Sie soll die von Haeckel nur auf der materiellen Ebenen gelösten "Welträtsel" durch Einblick in die geistigen Ebenen "vertiefen"8:

Unsere moderne naturwissenschaftliche Denkweise ist zwar im eminentesten Sinne wissenschaftlich … aber sie hat so, wie sie ist, alle Möglichkeit verloren, über das Innenleben, über den Geist mitzusprechen. – Und wir müssen, meine ich, wenn wir die "Zeichen der Zeit" richtig deuten, vor einer Epoche einer Vertiefung in den Geist stehen. Das nächste Zeitalter wird Augustinismus und Haeckelismus als "aufgehobene Momente" in sich enthalten.

Steiner beansprucht für seine Geisteserforschung Objektivität, Evidenz und damit Wissenschaftlichkeit. Er meinte9:

Jeder geistig normal entwickelte Mensch hat das Vermögen, in jene Tiefen [des Geistes] bis zu einem gewissen Punkte hinunterzusteigen. Aber die Bequemlichkeit des Denkens verhindert viele daran.

Abgesehen davon, dass sich Steiner in seinem Entwicklungsoptimismus getäuscht hat – es kam nicht Menschheitsaufschwung, sondern die Barbarei zweier Weltkriege – er überschätzt auch die Validität seiner "Forschungsmethode". Die Überzeugung, dass jeder aufgeschlossene und vernünftige Mensch seine "übersinnlichen" Erkenntnisse teilen könnte, ist eine Täuschung. Dieser Bereich seiner Lehre ist nicht Wissenschaft, sondern Glaubenssystem.

Zur Wissenschaftlichkeit gehört Nachprüfbarkeit und Intersubjektivität. Doch wie soll man mit einer Lehre wissenschaftlich kommunizieren, die sich zwar als "Wissenschaft" versteht, aber sich herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden gegenüber überlegen fühlt? Steiners Einsichten beruhen auf seiner persönlichen Sichtweise und erhalten ihre Geltung in der Anthroposophie aufgrund seiner Autorität in dieser Gemeinschaft – dies, obwohl er Autoritätshörigkeit vehement ablehnt und "freies Denken" befürwortet. Seine hellseherische Einblicke in die "geistige Welt" lassen sich nicht intersubjektiv nachprüfen.

So muss man auch fragen, ob sich seine Erkenntniswege und Einsichten "demokratisieren" lassen – wie er meint. Resultiert aus seinen Sonder-Offenbarungen nicht auch eine Haltung, die sich tendenziell demokratischen Gegebenheiten von Gesellschaften und "Main-Stream"-Orientierungen überlegen fühlt? Ist es diese Haltung, die möglicherweise zur Teilnahme zahlreicher Anthroposophen bei den "Querdenken"-Demonstrationen mit ihren "Wir blicken es, ihr nicht"-Kundgaben beiträgt?

Steiner empfand sich wohl als eine Art philosophischer Agent des "Weltgeistes" und war von einem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein erfüllt. Das hat sich auf Teile seiner Jüngerschaft übertragen. Das Eintauchen in und die Beharrung in seiner Sonderwelt ist gesellschaftlich problematisch und kann durch ihren religiösen Charakter dissoziale Wirkungen entfalten.

Dazu gehören kommunikative Störungen wie Verhärtung gegen andere Sichtweisen oder Fanatismus. Auf Steiner selbst trifft dies nicht zu, ist aber eine Gefahr unter seinen Anhängern. Als einer, der beruflich mit Waldorf-Schulen zu tun hatte, habe ich aufgeschlossene, liberale Steinerianer erlebt und auch engstirnige, verbohrte. Doch das findet man bei allen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen.

Gesundheitskonzept – vielfältiger Ansätze

Noch ein Wort zu Steiner als angeblichen Vertreter der Homöopathie: Steiner hat zwar einiges aus der Homöopathie übernommen, aber die klassische Homöopathie Hahnemanns lehnt er als irrational ab. Seine kritische Haltung belegt folgende Aussage – aus der sich auch ergibt, dass er die Vergabe allopathischer Mittel nicht rundweg ablehnt10:

Ja, meine Herren, homöopathisch kann man eben nicht alle Krankheiten kurieren; manche muß man eben allopathisch kurieren.

Steiners Gesundheitskonzept besteht aus weit mehr als den von ihm empfohlenen Rezepturen, dazu gehören naturkundliche Heilverfahren, z.B. die Misteltherapie, harmonisierende Körperübungen wie die Eurythmie und die Beachtung individueller, kollektiver, ökonomischer, ökologischer, spiritueller und kosmischer Faktoren.