Rückblick: Afghanistan zwischen Moderne und Nationalstaat
Wie viele andere Länder der Welt wurde Afghanistan am Ende des 19. Jahrhunderts von der Idee des Nationalstaates erfasst
Zeitgleich war Europa mit der teils schwierigen Geburt vieler Staaten beschäftigt. Der australische Historiker Christopher Clark schreibt etwa von einem Preußen, in dem sich unter den vielen Menschen damals fast keine Gemeinsamkeiten finden ließen.
Viele Bevölkerungen mussten zum Wohl der nationalstaatlichen Idee assimiliert werden, um überhaupt erst eine gemeinsame Identität zu kreieren. Ähnlich erging es zahlreichen anderen Ländern in Europa. Afghanistans politische Eliten standen vor demselben Dilemma.
Es war nur allzu verständlich, dass viele Stämme und Bevölkerungsgruppen, allen voran jene, die in der Peripherie lebten, nicht viel von Kabul wissen wollten und teils auch eher dazu neigten, ausländische Mächte - allen voran Russen und Briten - in irgendeiner Art und Weise zu unterstützen oder sich indirekt von ebenjenen instrumentalisieren lassen. Ein Beispiel hierfür waren etwa die Tadschiken im Wakhan-Korridor im Norden des Landes, die wenig von den paschtunischen Eliten in Kabul hielten.
Wer die Region kennt, weiß, dass sich daran bis heute teils nicht viel geändert hat. Wakhan, heute ein Geheimtipp unter westliche Hikern, liegt isoliert und abgeschottet. Die Menschen, die dort leben - hauptsächlich Nomaden und Bergvölker - haben mit dem Alltag der Kabulis wenig bis gar nichts gemein.
Vor mehr als einem Jahrhundert war vor allem Abdur Rahman Khan prägend, der "eiserne Emir", der in Kabul dank britischer Unterstützung regierte und auch den verheerenden Vertrag von Durand 1893 absegnete. Der Vertrag, benannt nach den britischen Diplomaten Sir Mortimer Durand, sorgte dafür, dass die Grenze zwischen Afghanistan und dem Imperium strikt definiert wurde.
Eine Folge davon war die Tatsache, dass zahlreiche paschtunische Stämme entlang der Grenzregion voneinander getrennt wurden und sich im Laufe der Zeit entfremdeten. Auch diese Thematik könnte nicht aktueller sein, wenn man bedenkt, wie politisch geladen das Thema Durand-Linie im heutigen Afghanistan und Pakistan ist. Innerhalb von Afghanistan sind es vor allem paschtunische Nationalisten, die die koloniale Linie ablehnen, während andere Bevölkerungsgruppen, etwa obengenannte Tadschiken aus dem Norden, entweder gar kein Interesse an der Thematik zeigen oder sich gegen den paschtunischen Nationalismus positionieren.
Es war auch der "eiserne Emir", der vieles, vor allem viele Menschen, in Bewegung brachte, um "seinen" Nationalstaat mit roher Gewalt aus dem Boden zu stampfen. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist das Schicksal der schiitischen Hazara, die systematisch verfolgt und ethnisch gesäubert wurden, und zwar aus rein konfessionellen und rassistischen Motiven. Ein Resultat davon war, dass viele Hazara Afghanistan verlassen mussten und sich in den Regionen des britischen Imperiums, allen voran in der Region um Quetta, wiederfanden und dort nicht nur in der kolonialen Industrie, etwa im Eisenbahnbau, Arbeit fanden, sondern auch im Militär.
Abdur Rahman Khan wollte einen afghanischen Staat schaffen, doch für die Hazara sah er in diesen keinen Platz. Im besten Fall würden die Hazara als Sklaven herhalten, was jene, die übrig blieben, in den darauffolgenden Jahren auch taten.
Gleichzeitig sollte man nicht vergessen, dass viele andere Afghanen ebenfalls unter der Politik des Emirs litten und oftmals verfolgt und vertrieben wurden. Dies betrifft sowohl Individuen wie den nationalistischen Modernisten Mahmoud Tarzi, der ins Osmanische Reich zog, oder ganze Kollektive wie den paschtunischen Ghilzai-Stamm, der von Khan zersplittert und ethnisch gesäubert wurde.
Mit den Köpfen getöteter Stammesführer der Ghilzai errichtete Khan ganze Säulen, und oftmals köpfte er diese Männer persönlich, wie mir vor Kurzem ein Kollege aus Kandahar, dessen Urgroßvater einst gegen den Emir revoltierte, bis ihn dasselbe Schicksal ereilte, erzählte. Aufgrund der Festlegung der Durand-Linie, die der Emir aufgrund persönlicher Interessen durchsetzte, fanden sich zahlreiche paschtunische Stämme plötzlich auf der britischen Seite der Grenze wieder und wurden en masse zwangsrekrutiert.
Betroffen waren hiervon vor allem die Mitglieder der paschtunischen Afridi-Stammes, und auch in diesem Kontext lassen sich heutige Auswirkungen feststellen. Es sind nämlich in erster Linie ebenjene Afridi sowie die Mitglieder einiger andere Stämme in der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa, die als besonders "Pakistan-loyal" gelten und von afghanisch-paschtunischen Nationalisten sowie paschtunischen und belutschischen Separatisten in Pakistan wenig halten.
Zeitgleich machte die Ära Abdur Rahman Khans deutlich, wie kosmopolitisch viele Afghanen bereits vor mehr als einhundert Jahren gewesen sind. Man fand sie in vielen Teilen der Welt, etwa in Südafrika, Australien, Nord- und Südamerika sowie in Europa. In seinem Buch "Afghan Modern" beschreibt der Historiker Robert Crews die Begegnung Mahatma Gandhis mit afghanischen Klienten in Südafrika und macht in diesem Kontext auch deutlich, dass jene "südafrikanischen" Afghanen damals Teil einer antirassistischen Bewegung geworden sind.
Denn selbst den afghanischen Diplomaten im Ausland fiel im Laufe der Zeit auf, dass eben nicht alle gleich, sondern manche wortwörtlich "gleicher" waren - vor allem die europäischen Kolonialisten. Dem jungen Gandhi sind die Afghanen aus Südafrika gewiss in Erinnerung geblieben. Er sprach im Laufe seiner politischen Laufbahn nicht nur positiv von ihnen, sondern schloss später auch ein Bündnis mit den gewaltlosen Khudai Khitmatgar (KK) des Paschtunen Khan Abdul Ghaffar Khan. Die KK entwickelten sich entlang der Durand-Linie (heutige pakistanische Stammesgebiete) zu einer effektiven, anti-kolonialen Bewegung.
Eine weiteres schönes Beispiel des afghanischen Kosmopolitismus waren jene Pilger, die jährlich nach Mekka reisten, um dort ihrer muslimischen Pflicht nachzukommen. Die Reise nach Mekka war etwas Besonderes und zum damaligen Zeitpunkt trug sie umso mehr dazu bei, dass verschiedene Völker sich kennenlernten und Zeit miteinander verbrachten. Dies war auch bei den Afghanen der Fall, die über den Hafen von Karatschi mit zahlreichen anderen Völkern gen Mekka reisten.
Interessanterweise wurde im Laufe der Zeit selbst diese Praxis, die Massen von Menschen in Bewegung setzte und sich demnach als lukratives Geschäft erwies, zum Teil des "Great Games". So versuchten sowohl die Russen als auch die Briten, afghanische Pilger mit billigen Reiserouten für sich zu gewinnen. Gleichzeitig wurden aufgrund der vielen Pilger Mekka und Medina immer interessanter für die herrschenden Eliten in Kabul, weshalb man sich darum bemühte, in den heiligen Stätten Immobilien für Afghanen zu erwerben.
Im Laufe der Amtszeit Abdur Rahman Khans schränkte sich allerdings auch in dieser Hinsicht die Bewegungsfreiheit ein. Da der Emir immer paranoider wurde und infolgedessen einen massiven Überwachungsapparat errichte, wurde die Ausreise immer schwieriger.
Dies änderte sich erst mit der Machtübernahme Habibullah Khans, Abdur Rahmans Sohn, der nicht nur viele Exilanten wie den erwähnten Tarzi wieder ins Land holte, sondern auch dafür sorgte, dass zahlreiche westliche Experten nach Afghanistan reisten, um dort in den verschiedensten Bereichen (Medizin, Pharmazie, Ingenieurwesen usw.) tätig zu werden.