"Rücktritt von der nuklearen Schwelle"

"Ivy Mike", Test einer US-Atombombe im Kalten Krieg, 1952. Bild: National Nuclear Security Administration / Nevada Site Office/gemeinfrei

Geheimer Brief an den Verteidigungsminister

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Air Force-General Benton Luke Davis (1928-2012) war eher ein heißer als ein kalter Krieger. Allein in Vietnam flog er 142 Einsätze. Gegen Ende seines aktiven Dienstes leitete er das für die Ausführung des Nuklearkriegs zuständige Strategic Air Command und war verantwortlich für die Ausarbeitung der Zielauswahl.

Seit 1960 arbeiteten Militärs an dem sogenannten Single Integrated Operational Plan (SIOP), ursprünglich ein Aufrüstungsprogramm für einen nuklearen Vernichtungsschlag. Vieles ist noch immer geheim, bekannt gewordene Details wie die Vernichtung pharmazeutischer Fabriken sowie nachträgliche Schläge gegen wiederaufgebaute wirtschaftliche Ziele lassen erahnen, warum (Atombomben auf Ost-Berlin).

1984, kurz vor seiner Pensionierung, schrieb Davis als höchster militärischer Nuklearstratege an Ronald Reagans Verteidigungsminister Caspar Weinberger einen geheimen Brief, der nunmehr von den USA freigegeben wurde. Davis waren wie anderen Insidern Diskrepanzen zwischen den Weisungen des kriegslüsternden Präsidenten und der militärischen Realität aufgefallen. Reagan unterlag damals dem Einfluss etwa des pensionierten Generals Lyman Louis Lemnitzer, dessen erster SIOP für 1962 einen anlasslosen Überraschungsschlag gegen die Sowjetunion und China vorsah.

Die Sowjets hatten jedoch durchaus einen Überblick über Absichten und Fähigkeiten des US-Militärs. 1983 war im Moskauer Politbüro ein Mann Zeuge einer lange im Westen unbekannten Krise geworden, die "um Haaresbreite" zum von John F. Kennedy stets befürchteten "Atomkrieg aus Versehen" geführt hätte. Während Reagan 1984 seine Rhetorik hochfuhr und in Westdeutschland die Pershing II-Raketen stationieren ließ, sandte jener damals noch in der zweiten Reihe stehende Russe andere Signale: Michael Gorbatschow.

Der Wind dreht sich

Auch in den USA hatte sich der Wind gedreht. Prominente Wissenschaftler wie Carl Sagan hatten eine breiten Öffentlichkeit vor dem Nuklearen Winter gewarnt, den man inzwischen nach einem Atomkrieg erwartete. Auch die suggestiven Bilder des Ende 1983 gesendeten Antikriegsfilm The Day After verfehlten ihre Wirkung nicht.

Davis war der Stimmungsumschwung nicht entgangen, ebenso wenig die Zweitschlagskapazität der Sowjets. Die Abhängigkeit des US-Militärs von der Bombe erkannte Davis als Schwäche und schlug vor, die propagierte Bedrohung aus Moskau auch durch nicht-nukleare Waffensysteme abzuwehren. So warb er bei Weinberger für das Potential neuer Technologie wie Langstreckenraketen und Cruise Missiles, die ihre tödliche Fracht durch GPS-Navigation ins Ziel brächten.

Insbesondere Langstreckenbomber sah der General als flexible Plattform für eine Bombenkampagne. Seine Überlegungen hielt er nicht so geheim, wie es das entsprechend gestempelte Papier vermuten lässt, sondern äußerte sie im Prinzip auch im Air Force Magazin.

Das Ausweichen auf konventionelle Sprengstoffe war allerdings nicht vollständig durchdacht. Während die massive retaliation - das nukleare Gleichgewicht des Schreckens - zu Stabilität führte, machte die flexible response Kriege wahrscheinlicher, da man einen Krieg, den man überleben kann, eher beginnen wird als einen verlängerten Selbstmord. Keine Antwort hatte der General auf die Frage, wie denn die Sowjets einer anfliegenden Bombe ansehen sollten, ob diese nur konventionellen oder nuklearen Sprengstoff enthält.

Die Lösung des Dilemmas verriet der ebenfalls 1983 gedrehte Spielfilm War Games: The only winning move is not to play.