Rückzug auf den Kern der Stadt
Wie sich schrumpfende Städte verändern und was an die Stelle der Leere treten kann, zeigt die Internationale Bauausstellung Stadtumbau 2010
Mit neuen Konzepten in alten Mauern kann es kleinen und mittelgroßen Kommunen in Sachsen Anhalt gelingen, attraktiver nicht nur für die eigenen Einwohner zu werden, sondern auch Touristen anzulocken. Wenn dafür die Stadtmitte zuungunsten der Ränder weiterentwickelt wird, kann Urbanität im Kleinen erhalten bleiben. Vielleicht wird sogar neben Martin Luthers Erbe einmal die Leere von Dessau-Roßlau museal.
Die Peripherie sieht doch überall gleich aus. Grün dominiert, ob als Wiese oder dichte Wälder aus Fichten, durch die die Bundesstraße nach Wittenberg führt. Am Ortseingang Einfamilienhäuser links und rechts, eine Tankstelle, Aldi und andere Märkte in quadratischen Hallenbauten. Die Bilder auf dieser Fahrt in einige Städte zu Projekten der Internationalen Bauausstellung Stadtumbau 2010 ähneln sich immer wieder, wie wir sie alle kennen von den Rändern kleiner und mittlerer Kommunen. Wittenberg bildet da trotz seiner weltgeschichtlichen Bedeutung keine Ausnahme. Nach einigen Kilometern geht es links ins Zentrum, wo die "Altstadt als "Freilichtmuseum" ( Unesco) beginnt, Schau- und Bauplatz der IBA in der Lutherstadt.
Die Reformationsgeschichte und ihre Protagonisten sind natürlich überall präsent. In diesem Jahr kam mit einer "Himmelstreppe" an der Schlosskirche eine weitere Attraktion hinzu, eine 3,90 Meter hohe stählerne Plattform mit Informationen über die Bauausstellung. Der Ausblick endet an den dicht an dicht stehenden Fassaden hinter einem weißen Pavillon mit Flachdach. 20 Minuten reichen, um von hier bis zu Martin Luthers Wohnhaus zu gelangen entlang eines Baches, der hier offen in einem Kanal fließt. Tatsächlich ist die Innenstadt alles andere als ein Museum, sondern eine belebte Einkaufsmeile, in der große Einzelhändler neben kleineren Anbietern zu finden sind. Eine Bilderbuchstadt mit Häusern aller Bauepochen angefangen von der Renaissance, in der aber auffällig viele Häuser noch immer leer stehen und nicht saniert sind. Für viele Ladengeschäfte wird ein Mieter gesucht. Hier wurden vermutlich über den Bedarf hinaus Gewerbeflächen geplant. Denn statt zu wachsen schrumpfte Wittenberg in den letzten 20 Jahren wie alle 18 anderen Städte auch, die sich an der IBA 2010 beteiligen.
Mit Bildungsangeboten locken
In Wittenberg sank die Einwohnerzahl um ein Fünftel seit 1990, wo letztes Jahr noch rund 50.000 Menschen lebten. Und die Stadt schrumpft weiter. Daran wird auch die Bauausstellung nicht viel ändern können. Es gab und gibt in Sachsen-Anhalt, das seit 1989 17 Prozent seiner Bevölkerung unter anderem durch Abwanderung verlor, "zu viel Stadt für zu wenig Bevölkerung" (Omar Akbar, ehemaliger Bauhausdirektor). Deshalb wurden in den letzten acht Jahren "kreative" Antworten gesucht, um den demografischen Wandel unter den Bedingungen begrenzter finanzieller Mittel der öffentlichen Hand zu gestalten.
Im Fokus stehen bei dieser IBA die Klein- und Mittelstädte, in denen die meisten Menschen leben. Städte von mehreren zehntausend Einwohnern, die mit ihren kleinteiligen Strukturen und den kurzen Wegen Geselligkeit wie in einem Dorf ermöglichen und doch mit ihrer Funktion als Kultur- und Wirtschaftszentren ein urbanes Flair entfalten können, das sich aber mit der Schrumpfung zu verflüchtigen droht.
"Stadtentwicklungspolitik in kleinen Städten muss nicht provinziell sein. Gerade hier können - mit engagierten Verwaltungen und Bürgern - innovative Konzepte erarbeitet werden", schreibt Carsten Benke im IBA-Katalog. Die drei Beispiele in diesem Text belegen das. Auch wenn die Schrumpfung sich nicht stoppen lässt, kann die städtische Lebensqualität erhalten bleiben durch die Konzentration auf einige wenige Punkte in der Stadt. So wird das Ortszentrum folgerichtig in vielen Projekten zum Bauplatz für die Zukunft. In Dessau zum Beispiel bereichert um einen Gemüsegarten oder eine BMX-Strecke, in Wittenberg um neue Bildungseinrichtungen und in Köthen um eine homöopathische Bibliothek.
Berühmte Persönlichkeiten stiften Identität
In Wittenberg soll dieses Jahr die Sanierung des Wilhelm-Weber-Haus, einem noch hinter einer Plane verborgenen Renaissance-Bau aus dem 16. Jahrhundert, abgeschlossen sein und das Wissenschaftszentrum Sachsen-Anhalt dort einziehen. Eine von mehren geplanten Einrichtungen des Campus Wittenberg, einem Netzwerk aus verschiedenen Bildungsinstitutionen der Stadt. 20 Millionen sind dafür in Bauprojekte im Altstadtkern geflossen. Moderne und dynamische Bildungsstrukturen sollen entstehen, was auch immer das genau heißt. Einstweilen besteht das Angebot überwiegend aus Sprachkursen für ausländische Studenten.
Merkwürdigerweise holt man in Wittenberg für die Campus-Idee ganz weit aus, gründet wortreich auf die jahrhundertealte längst untergegangene universitäre Tradition, um Bildungsinteressierte aus dem In- und Ausland als "temporäre Bewohner" für die Stadt zu gewinnen.
Die Rückbesinnung auf die Geschichte ist dabei wie in vielen der IBA-Städten in Sachsen-Anhalt Teil der Konstruktion einer "städtischen Identität", die an "bessere Zeiten" anzuknüpfen versucht.
1502 wurde in Wittenberg die Universität Leucorea gegründet, die großes internationales Renommee erlangte... Wittenberg wurde zum Bildungszentrum der Reformation - zwischenzeitlich lernten hier insgesamt mehr als 40.000 Studenten. 1813 ließ Napoleon die Universität schließen.
(IBA Katalog)
Bildung ist ja heutzutage fast schon zu einem magischen Wort geworden, das die Lösung wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Probleme verspricht. Wenn es in Wittenberg dann Lernende oder Besucher tatsächlich in das 1855 erbaute Zeughaus zieht, das als Ausstellungshaus ausgebaut wird, könnte sich auch jener Innenstadtbereich rund um die Juristenstraße neu beleben, der nur wenige Meter abseits der Touristenpfade brach liegt. Trostlos sieht es hier aus, wenn auch längst nicht mehr so grau und düster wie Mitte der 90er Jahre. Ruinen neben Neubauten und vernachlässigten alten Bürgerhäusern. Nach 1990 war der Sanierungsbedarf in den in der DDR zugunsten der Neubausiedlungen vernachlässigten alten Kernen so groß, dass längst nicht alles erneuert werden konnte oder heute eben gar kein Bedarf dafür besteht.
Wittenberg hat Glück mit Luther, dem 500. Reformationsjubiläum 2017. Die weltweite Aufmerksamkeit wird helfen, den Campus bekannt zu machen. Köthen hat Samuel Hahnemann - und bringt nun die Entwicklungskraft der Homöopathie in die Stadtentwicklung ein. Dem Begründer alternativer Heilmethoden, seinerzeit ein Querdenker, hätte das vermutlich gefallen. 1755 in Meißen geboren, fand Hahnemann in Köthen einen Freiraum für seine Experimente, um seine Lehre weiter zu entwickeln. Damals war die IBA-Stadt - wie heute auch im Altstadtkern wieder - ein beschaulicher Ort.
Coethener Methode: Homöopathische Prinzipien in der Stadtentwicklung
Nach Schließung der riesigen Fabrikanlagen am Ortsrand, über die langsam das Grün kriecht, schrumpfte auch Köthen. Ein Prozess, der in Statistiken gut dokumentiert ist, aber selbst an einem Werktag augenscheinlich in der Innenstadt kaum wahrnehmbar ist. Von der "Himmelstreppe" blickt man auf den Marktplatz voller Menschen. Aus den naheliegenden Altenheimen, von denen es hier auffällig viele im Zentrum gibt, finden sich Senioren und Pflegepersonal am Brunnen ein. Gab und gibt es hier etwas für die IBA zu tun? Manches Baudenkmal wie die Ruine eines Hospitals von 1829, wäre vielleicht eh gerettet worden. Während der zahlreichen Diskussionen, die die IBA mit Bürgern, Planern und Politikern führte, entschloss sich der Deutsche Zentralverein für homöopathische Ärzte in dem klassizistischen Gebäude die Europäischen Bibliothek für Homöopathie einzurichten.
Für den neuen Masterstudiengang der Alternativmediziner an der Magdeburger Universität soll der Bau ein "lebhaftes Zentrum" werden in Nachbarschaft zum Wohnhaus von Samuel Hahnemann. An dessen einer Wand eröffnet ein Zitat des Heilpraktikers den Homöopathiepfad. Weitere seiner Gedanken und Reflexionen folgen an anderen Ecken der Stadt, die Touristen auf einen für viele bisher unbekannten Aspekt des Ortes aufmerksam machen, der für sich auch als Karnevalshochburg und mit Bach und anderen Gelehrten wirbt. 2009 zählte man 29.466 Einwohner. 1990 waren es noch fast 34.000. Für 2020 prognostiziert das statistische Landesamt etwas mehr als 24.000 Einwohner. Das sind die Zahlen der Schrumpfung. Und dass gehandelt werden muss, versteht jeder spätestens bei der schrill-lauten Präsentation der Bauausstellung im Hospital, auch wenn vor lauter bunten Kreisen, die wie aufgeblasene mikroskopierte Partikel aussehen, kaum zu verstehen ist, worum es eigentlich geht.
"Kann man kleiner, aber besser werden? Ist man krank, wenn man schrumpft?", lautet eine wohl provozierend gemeinte Frage auf einer der bunten Tafeln. Die Stadt ist ein Patient, der mit sanften Methoden "operiert" wird. So viel ist klar. Das liest sich freundlicher und kaschiert zugleich den Abriss als ein unvermeidliches "grausames" Instrument, um den Wohnungsmarkt im Zuge der Schrumpfung dem tatsächlichen Bedarf anzupassen. Solche und andere Label wie dem von der Entwicklungskraft der Homöopathie funktionieren vor allem als Marketing im Ranking der 19 IBA Städte untereinander, wenn es darum geht, Alleinstellungsmerkmale zu kreieren, die eine Stadt interessant für Investoren, Touristen und natürlich politische Institutionen machen, die über Fördermittel entscheiden.
Ob die "Coethener Methode" tatsächlich über ihre lokale Ausstrahlung hinaus sinnvoll in der Stadtplanung angewendet werden kann, muss vorerst eine offene Frage bleiben. Natürliche Arzneimittel mögen die Selbstheilungskräfte eines Körpers aktivieren. Analog der kleinen Medikamentendosen wird nun in Köthen punktuell abgerissen, um Quartiere "zu heilen". So oder so ähnlich ließe sich der Stadtumbau aber auch ohne das homöopathische Vokabular gestalten und moderieren. Welche Gestaltungsmöglichkeiten aber haben Mieter in ihrer Stadt tatsächlich, wenn sie einmal wie in Köthen eingeladen werden, mit zu diskutieren? Hausbesitzer und weite Teile der Einwohner eines Stadtteils in Planungsprozesse einzubeziehen durch Gespräche, vergleichbar einer Anamnese wie beim Heilpraktiker, das gibt es doch jetzt schon. Die Einflussmöglichkeiten aber finden immer wieder ihre Grenzen an politischen wie wirtschaftlichen Entscheidungen.
Vielversprechender scheint folgende Aktion gewesen zu sein. In der Ludwigstraße wurden Häuser, manche noch aus der Gründerzeit, nachts angeleuchtet, um so Lücken eines möglichen Abrisses auf dramatische Weise deutlich zu machen. "Die teilweise heftigen Reaktionen der Betroffenen zeigten, dass mit dem Mut, eine Krise bewusst zu provozieren, durchaus unerwartete Energien aktiviert und daraus überraschende Lösungsansätze gemeinsam entwickelt werden können. Aus Betroffenen wurden Beteiligte, aus deren Ideen werden schrittweise Planungsziele definiert. Wie in der Homöopathie wird der "Genesungsprozess" kontinuierlich begleitet und gesteuert, die Planer agieren als Moderatoren eines möglichst lange ergebnisoffenen Prozesses." (IBA-Katalog) Provokationen wie die Lichtaktion setzen Phantasie frei, können aufrütteln und in mitunter quälend langatmigen Diskussionen und Planungsprozessen nicht nur in der Stadtplanung neue Perspektiven aufzeigen und Entscheidungen beschleunigen.
Inzwischen ist es ruhig geworden in der Ludwigstraße. Christian Nulsch, der Besucher der IBA durch Köthen führt, erinnert sich an vergangene Zeiten so: "Da ist man früher schnell durch, weil die Häuser grau in grau waren. Viele standen leer". Arbeitslosigkeit, Kleinkriminalität und Apathie bestimmten das Leben in dem sozialen Brennpunkt. Heute ist erstmal ein bisschen mehr Farbe an einigen Fassaden hinzugekommen. Immerhin - in eine frühere Fleischerei zog ein Kostümverleih.
Unweit der Köthener Fußgängerzone gelingt es in dem etwas abseits liegenden Areal vielleicht am originellsten und auf einfachste Weise einmal tatsächlich die Vielschichtigkeit der Prozesse der letzten Jahre zu vermitteln. "Denn die Mauern werden fallen", kündigen rote Buchstaben an. Ein Zitat, das nach Zeilen von Bertolt Brecht klingt. Vier Häuser wurden abgerissen. Das Raumvolumen eines geplanten Neubaus markieren Balken. Daran hängen Comics von Dirk Schwieger. Szenen, die etwas von den Diskussionen der letzten Jahre widerspiegeln. Auf das Stichwort "Erstverschlimmerung" folgen die Sprechblasen "Akademischer Quacksalber" oder "Betrüger". Hier kochten die Emotionen also hoch, als die Planungen diskutiert wurden. Und: "Die Ludwigstraße ist auf alle Fälle wieder lichter und heller geworden." Wie das gelang, zeigen auch eine Fülle von Dokumenten in einem Container daneben. Es gab Gesprächswerkstätten, ein Planungspicknick. Schüler erforschten die Geschichte der Straße. Es braucht wohl schon eine IBA, bevor einige Bürger so umfangreich einmal die Chance bekommen und auch nutzen, sich auseinandersetzen und einmischen zu können in ihrer Stadt.
Die Leere als Ausflugsziel
Im Unterschied zu früheren Internationalen Bauausstellungen - 1987 in Berlin oder 1989 Emscher Park im Ruhrgebiet - habe sich der Stadtumbau 2010 mit seinem finanziellen Rahmen an die Möglichkeiten der schrumpfenden Städte angepasst, meint Omar Akbar. Insgesamt 206,9 Millionen Euro Investitionsgelder standen zur Verfügung. Darin enthalten sind auch 121,9 Millionen Euro aus Mitteln des Stadtumbau Ost für die Aufwertung von Quartieren (Bund und Landesanteil). 19,4 Millionen Euro kamen aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung 2007 - 2013 (EFRE). Weitere 40,6 Millionen. Euro wurden aus den Kassen der Städte "aktiviert" , wie es in einer Pressemitteilung der IBA heißt. Rund 25 Millionen Euro stellten private Investoren bereit.
Eine Menge Geld floss jedenfalls in Ausstellungsarchitekturen in Köthen wie in den anderen 19 Städten und nicht zuletzt in die zentrale Präsentation im Bauhaus Dessau, die mit ihrem verwirrenden Aufbau zumindest die Komplexität des gesamten Umbauprozesses verdeutlicht. Dafür gelingt es aber in Dessau-Roßlau, wie die einstige Industriestadt seit 2007 nach einer Gemeindereform heißt, den Ort selbst zu einer Ausstellung zu machen, in dem der Prozess der Schrumpfung und Neugestaltung am deutlichsten nachvollzogen und erlebt werden kann. Ein roter Faden auf den Straßen markiert eine Route entlang der Projekte.
Die ganze Stadt scheint eine Brache zu sein. Je weiter man sich vom Zentrum um den Bahnhof herum entfernt, um so mehr Grünflächen und wilde Wiesen gibt es. Die Plattenbauten am Kastanienhof stehen buchstäblich auf dem Feld. Die Gleise der Straßenbahnlinie bilden die Grenze zum Niemandsland. Einsame und menschenleere Gegenden, in denen am anderen Ende der Stadt sogar ein Golfplatz entstehen konnte auf einem ehemaligen Kasernengelände. Ab diesem Jahr kann da gespielt werden.
An Grün mangelt es also nach wie vor nicht in Dessau-Roßlau, wie schon ein Blick von der Himmelstreppe am Bahnhof zeigt. Ein paar Jugendliche sitzen auf dem weiten Rasenfeld. Ist der entstehende Landschaftszug mitten durch die Stadt, der die urbanen Kerne verbinden soll, mehr als eine Verlegenheitslösung? Urbane Kerne, das sind Inseln mit den verbliebenen Häusern, verdichtete Quartiere, in denen das soziale Miteinander gestärkt werden soll. Landschaftliche Zonen entstehen außerdem als pflegeleichte Areale (Wildwuchs statt Rasen und Blumenbeeten), die den Haushalt der Stadt nicht belasten und von Bürgern gestaltet und beackert werden können. Ob das Engagement der Dessauer reicht, ist eine von vielen offenen Fragen der vielen ergebnisoffenen Prozesse der IBA, die in dem Katalog von 900 Seiten, der schwer ist wie ein Ziegelstein, von Experten ideenreich diskutiert werden.
Nach 1989 sank die Einwohnerzahl in Dessau von rund 100.000 auf 76.000 und zählt nach der Fusion mit Roßlau 88.000 Menschen. Statt mit einem Masterplan die Neugestaltung anzugehen, treffen sich alle Akteure und interessierten Bürger in einer Planungswerkstatt, in der die Projekte diskutiert werden.
Ein sich selbst überlassenes Gelände aber, auf dem sich nach und nach eine neue Pflanzen- und Tierwelt ausbreitet, dieser Wildwuchs in der Stadt hat etwas Gespenstisches, wirkt unwirtlich und abweisend. Es ist natürlich noch zu früh, um die Wirkung und Auswirkungen der wilden Wiesen oder der "Aufwertungen" von Abrissflächen zu beurteilen. Dessau braucht Zeit für einen Prozess, der wenigstens eine Generation beschäftigen wird. In der Neuendorf- und Viethtstraße wurden Plattenbauten abgerissen, an deren Stelle nun Stroh liegt. Die "StadtteilAG" legte dort einen "Erdbeerclaim" an.
"Wo Häuser fallen, entstehen neue Freiräume"
Heike Brückner, Stadtplanerin IBA 2010
100 Meter weiter steht noch ein Plattenbau. "Der Landschaftszug wächst" steht auf einem Informationsschild davor, wie sie entlang des roten Fadens an jeder Station stehen. Auf einen winzigen Hügel führt ein Betonband. Von dem Aussichtspunkt geht der Blick hinüber ins Gartenreich Dessau-Wörlitz. Seit 2004 ist hier der "Rückbau", wie der Abriss leer stehender Wohnung offiziell bezeichnet wird, im Gang. 400 Wohnungen verschwanden. Drüben steht ein Plattenbau leer, der auch noch abgerissen wird, wie eine alte Dame zu berichten weiß. Mit einer rollenden Einkaufstasche kommt sie von einem nahegelegenen Supermarkt und erkundigt sich, ob hier noch Bänke geplant seien, die sie hier vermisst. Das Erdbeerfeld findet die 71-Jährige gut. 28 Jahre lebt die Frau schon in dieser Ecke in einer bis heute nicht sanierten Wohnung. Dennoch möchte sie nicht wegziehen, auch wenn ein Aufzug im Haus fehle. "Ich bin damals sehr froh gewesen, die Wohnung zu finden und heute werden die einfach abgerissen". Plattenbau, das bedeutete vor 30 Jahren eben auch mehr Wohnkomfort mit einem Bad und Balkon. Und sie ist nicht die einzige Bewohnerin in den Großsiedlungen, die sich dort wohlfühlt. Auch deshalb wurden in der Innenstadt schlecht ausgestattete Altbauwohnungen abgerissen.
Wo Häuser verschwunden sind, gibt es jetzt Apothekergärten, einen Schutt- und Gesteinsgarten, einen Imker-Claim oder eine BMX-Strecke - die schrumpfende Stadt scheint grenzenlosen Raum auch für unkonventionelle Ideen zu bieten. Die identitätsstiftende Funktion für den Stadtumbau an der Elbe kam dem nahegelegenem Gartenreich Dessau-Wörlitz zu, als dessen Neudefinition der Landschaftszug verstanden werden kann. Als eine zeitgemäße Form der Entwicklung von Grünflächen, die nicht mehr in den Händen eines genialen Gartenarchitekten liegt, sondern nach eigenen Vorstellungen gestaltet werden kann. Einzig Eichen werden als verbindendes Element gepflanzt, die in dem historischen Park zum Landschaftsbild gehören.
Was Besucher aber in Zukunft vielleicht mehr reizen wird als unter Eichen vor sanierten Plattenbauten zu sitzen, ist die Stadt als Ausstellung selbst, die Besichtigung der Leere von den unterschiedlichsten Aussichtspunkten entlang des roten Fadens. Die ein Rundblick vom Räucherturm unweit des Hauptbahnhofs in ihren Bann schlägt, der einmal zu einer 2004 geschlossenen Fleischerei gehörte. Nun blickt man von dort auf Bahngleise, die BMX-Strecke und auf ein weites dröges Feld. Hinten ein paar Hochhäuser und ein letzter (oder neu errichteter?) Schornstein.
Ein paar hundert Meter weiter steht auf einem Hügel eine neue Bank aus Beton vor einer Landschaft, wie sie kein Architekt erfinden kann, wie sie erst aus vielen historischen Schichten der letzten 150 Jahre entstehen konnte und deren Fundament sogar aus der Eiszeit gründet. Mit einem Gewerbehof nebenan, verkümmerten Baumstämmen und der Ruine einer Fabrikantenvilla. Ein Areal, das aus Vernachlässigung entstand, das sich selbst überlassen blieb und wieder überformt wurde. Die wertvollen Gehölze in dem ohne Pflege entstandenen Dickicht erkennt vermutlich kaum einer. Aber statt eines Investors, der die Villa wieder aufbaut, sollte lieber ein Sponsor gesucht werden, der diese Insel, in der nichts den Blick in eine Bahn zwingt und kein Gärtner Beschaulichkeit inszeniert, erhält. Als eine erste gelungene Ecke des neuen Landschaftszuges, in der sich die Stadt nicht einfach in grünen Brachen auflöst oder in der Weite verliert.