Russisches Kriegsrecht und ukrainische Offensive
Auf beiden Seiten mehren sich Zeichen, dass eine neue Runde schwerer Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg unmittelbar bevorsteht. In den den vier von Russland annektieren Gebieten gilt offiziell Kriegsrecht.
In der Region Cherson kontrolliert die russische Armee fast seit Kriegsbeginn einen schmalen Streifen Land am rechten Ufer des großen Stroms Dnjepr, in dem sich auch die Gebietshauptstadt Cherson selbst befindet. Cherson wurde von Russland kürzlich annektiert. Im September scheiterte eine erste Offensive der Ukrainer weitgehend, das Gebiet zumindest bis zum Dnjepr zurückzuerobern und man errang nur kleinere Gebietsgewinne. Das soll sich nun offensichtlich ändern.
Russen erwarten ukrainische Offensive bei Cherson
Hier steht nach Auffassung der russischen Gegner ein neuer und größerer Offensivversuch der ukrainischen Armee bevor. Die prorussischen Kollaborationsbehörden versprachen zwar eine Verteidigung des Gebietes, evakuierten aber ihre Stützpunkte bis zum Flusslauf. Per SMS empfahlen sie den Einwohnern dieser Teilregion, ihre Heimat zu verlassen, wegen zu erwartendem "Beschuss von Wohngebieten".
Die kollaborierende Verwaltung rechnet selbst mit etwa 50.000 bis 60.000 Einwohnern, die den durch die erwarteten Kämpfe gefährdeten Gebietsstreifen verlassen werden. Es dürfte sich hier vor allem um dorthin abgeordnete Russen und mit ihnen zusammenarbeitende Ukrainer handeln, die nach einer Rückeroberung eine Verhaftung fürchten. Wer nach Russland flüchtet, dem wurde von der russischen Regierung eine Wohnung zugesagt.
Unter den russischen Besatzern in Cherson ist durch alle Verlautbarungen eine große Unsicherheit spürbar. In Cherson selbst kam es heute zu einer Schießerei zwischen russischen Soldaten und Beamten des Inlandsgeheimdienstes FSB, bei der es drei Tote gegeben haben soll. Die ukrainische Seite kommentierte die Berichte über die Offensive nicht, ähnlich wie bei dem bereits vorausgehenden Vormarsch zur Eroberung des Gebiets Charkow im nördlichen Kampfgebiet.
Kriegsrecht und Vorstufen davon in Südwestrussland
Cherson gehört auch zu den vier nach russischem Verständnis russischen Regionen, in denen Putin am Mittwoch per Dekret das Kriegsrecht in vollem Umfang verhängt hat, was sofort die notwendige Zustimmung des Föderationsrates, dem Oberhaus des russischen Parlaments erhielt. Völkerrechtlich gehören sie zur Ukraine. Durch das Kriegsrecht werden die Rechte der dort lebenden und sich aufhaltenden Personen eingeschränkt, etwa Reise- und Aufenthaltsrechte sowie das Fernmeldegeheimnis. Zudem gelten Arbeitspflichten und ein Ausreiseverbot aus den betroffenen Regionen.
Eine Vorstufe zum Kriegsrecht wurde in einigen südrussischen Nachbarregionen der Ukraine verhängt, sowie auf der Halbinsel Krim. Eine Art Bereitschaft, ebenfalls zu einem derartigen Regime überzugehen, gilt neu in weiten Teilen Südwestrusslands bis hin nach Moskau.
Hier spürt man die Auswirkungen der heutigen Entscheidung noch nicht unmittelbar - die örtlichen Behörden können jedoch schnell zum vollen Kriegsrecht übergehen, ohne hierzu auf zentrale Anweisungen aus Moskau zu warten. Etwa auf der Krim planen die Behörden zum aktuellen Zeitpunkt noch keine Ausgangssperren und kein Verbot der Ausreise. Das könnte sich etwa schnell ändern, wenn die Ukrainer bei ihrem Vorstoß im benachbarten Cherson nahe an die Grenze zur Halbinsel vorrücken.