Russland: Ein geplanter Kirchenneubau in Jekaterinburg führt zu heftigen Protesten
In der Großstadt Jekaterinburg gibt es seit drei Tagen nichtgenehmigte Proteste. Wladimir Putin fordert, den Konflikt mit einer Umfrage in der Bevölkerung zu entschärfen
Junge Polizisten, Mitarbeiter der Spezialeinheit OMON und der Rosgwardia standen am Mittwoch Tausenden von jungen Bürgern der Stadt Jekaterinburg Auge in Auge gegenüber. Die Sicherheitskräfte in der zwei Flugstunden östlich von Moskau gelegenen Stadt schützten in einem Park am Dramatischen Theater einen am Montag überraschend errichteten Zaun (Fotos), hinter dem die 1930 gesprengte Kirche der Heiligen Jekaterina wieder aufgebaut werden soll.
Zwei Großunternehmen wollen den Kirchenbau finanzieren
Finanzieren wollen den Bau der Kirche zwei große Unternehmen aus der Region, die "Russische Kupfergesellschaft" und die "Ural Bergbau-Metallurgie Gesellschaft". Letzteres Unternehmen vereinigt 50 Betriebe mit insgesamt 70.000 Beschäftigten. Die Muttergesellschaft der Ural Bergbau-Metallurgie Gesellschaft ist, vermutlich aus steuerlichen Gründen, auf Zypern registriert. Der Gouverneur von Jekaterinburg, Jewgeni Kuiwaschewa, unterstützt den Kirchenbau.
Der Park vor dem Dramatischen Theater in Jekaterinburg, auf dem die Kirche wieder aufgebaut werden soll, ist ein beliebter Jugendtreffpunkt und einer der wenigen Parks im Stadtzentrum. Hier wird in den kurzen sibirischen Sommern Salsa getanzt. Hier gehen Jugendliche spazieren und singen Lieder zur Gitarre. Die protestierenden Jugendlichen verstehen nicht, dass der Park einer Kirche weichen soll. Es gäbe nicht viel Grün, aber schon einige Kirchen in der Innenstadt von Jekaterinburg. Die Stadt hat 1,5 Millionen Einwohner.
Seit Montag gibt es vor dem Bauzaun jeden Tag Proteste und zunehmend auch Auseinandersetzung mit der Polizei (Fotos). Am Montag wurden von der Polizei 21 Menschen festgenommen, am Dienstag 26 und am Mittwoch nach Angaben des örtlichen Internetportals znak.com schon 67 Personen. Die Haftzeit für "leichten Hooliganismus" beträgt zwischen drei und zehn Tagen.
Putin schaltet sich ein
Es gab in Russland in den letzten Jahren schon öfter Bürgerproteste, vor allem gegen überquellende und stinkende Müllhalden rund um Moskau. Als die Moskauer Gebietsregierung im Oktober letzten Jahres beschloss, dass der Müll aus dem Moskauer Gebiet zu Briketts verarbeitet und zur Endlagerung in das im Norden Russlands gelegene Gebiet Archangelsk transportiert werden soll, gab es auch in Archangelsk heftige Proteste (Video Protestaktion 7. April). Den Müll aus Moskau will man im hohen Norden nicht haben.
Putin erklärte am Donnerstag, die Müllentsorgung in Archangelsk müsse im Einklang mit der dortigen Bevölkerung geregelt werden. Bereits am 15. Mai hatte die Wirtschaftszeitung Vedomosti unter Berufung auf Quellen in der Präsidialverwaltung berichtet, dass der Bau einer neuen Müllhalde im Gebiet Archangelsk "eingefroren" werden soll. Wohin der Moskauer Müll nun soll, ist unklar.
Wladimir Putin sieht offenbar die Gefahr, dass sich nach unüberlegten Entscheidungen von hohen Beamten innenpolitische Konflikte entwickeln, welche Aleksej Navalny und andere harte System-Oppositionelle für sich ausnutzen.
Ebenfalls am Donnerstag machte Putin einen Kompromissvorschlag für Jekaterinburg. Der russische Präsident schlug vor, über den Bau der Kirche in Jekaterinburg eine "Befragung" in der Stadt durchzuführen. "Die Minderheit muss sich der Mehrheit fügen", sagt der Kreml-Chef. "Darin besteht das Prinzip der Demokratie. Natürlich müssen die Meinung der Minderheit und die Interessen der Minderheit berücksichtigt werden." Putin erklärte, ein Kirchenbau müsse "die Menschen vereinen und nicht spalten". Darum brauche es von beiden Seiten Schritte, um die Frage "im Interesse aller Menschen zu klären, die dort (in Jekaterinburg, U.H.) real leben." Es gäbe nämlich auch Protestler aus Moskau, die versuchten, den Konflikt in Jekaterinburg "für ihre Interessen zu nutzen", erklärte der russische Präsident.
Regierungsnahe "Komsomolskaja Prawda" ist besorgt
Die regierungsnahe Zeitung "Komsomolskaja Prawda" hatte am Donnerstag überraschend zurückhaltend über den Konflikt in Jekaterinburg berichtet. Das Blatt veröffentlichte ein Interview mit Oleg Kaschin, einem bekannten liberalen Journalisten, welcher die Art, wie der Kirchenneubau durchgezogen wird, kritisierte. Der Journalist erklärte, Grund der Proteste sei, dass man die Menschen nicht gefragt und sie "vor vollendete Tatsachen gestellt" habe. Eine öffentliche Anhörung, bei der es eine Mehrheit von 3.000 Bürgern für - bei 200 Gegenstimmen - den Kirchenneubau gegeben haben soll, bezeichnet der Journalist als Vertrag, wo der Käufer "das Kleingedruckte nicht gelesen hat". Die Bauherren hätten von Anfang an gewusst, dass es Probleme geben wird. Wenn man "einen heiligen Akt", den Neubau einer Kirche, "mit Fäusten durchsetzt", sei das schon "keine heilige Sache mehr". Der Kirche schade diese Art des Vorgehens.
Der Journalist Kaschin vermutet, der Kirchenneubau sei ein abgekartetes Spiel mit örtlichen Großunternehmen. "Indem du für die Oligarchen eine Kirche baust, machst Du Dir selbst und dem Gouverneur ein Geschenk."
Zweiter Protesttag in Jekaterinburg
Um die Dynamik des Konflikts in Jekaterinburg zu verstehen, im Folgenden ein Überblick über das, was am zweiten und dritten Protesttag passierte.
Am Dienstagmorgen trafen sich der Gouverneur der Stadt mit jeweils acht Vertretern der streitenden Seiten. Doch das zweieinhalbstündige Gespräch endete ohne konkretes Ergebnis. Der Gouverneur erklärte, der Bau werde nicht eingestellt.
Am Abend versuchten die Protestierer erneut auf den eingezäunten Platz zu kommen, um "spazieren zu gehen", wie sie sagten. Wie schon am Montag waren die Proteste nicht angemeldet und genehmigt worden. Die Polizei und die Rosgwardia wehrten Versuche ab, den Zaun, der aus leichtem Drahtgeflecht bestand, einzureißen. Doch den Demonstranten gelang es, Teile des Zaunes einzureißen. Unter Rufen "Unser Park!" wurden Zaunteile weggeschleift.
Dritter Protesttag - Flaschenwürfe gegen den Zaun
Am Mittwoch begannen Bauarbeiter in großer Eile den eingerissenen Zaun aus leichtem Drahtgeflecht durch einen soliden Zaun aus großflächigen Platten mit fester Verankerung zu ersetzen.
Die Aktionen im Park begannen am Abend des dritten Protesttages friedlich. "Einige Stunden lang lief die Aktion ruhig und erinnerte an ein Rockfestival", schreibt das örtliche Internetportal znak.com. Es gab Musik aus Verstärkern und ohne Verstärker. Anonyme Spender lieferten Pizzas, Kaffee, Wasser und stellten eine schnurlose Auflade-Einrichtung für Handys zur Verfügung.
Wie schon am Vorabend kamen Priester der russisch-orthodoxen Kirche. Sie versuchten den Jugendlichen die Notwendigkeit des Kirchenbaus zu erklären. Die Jugendlichen trugen ihrerseits ihre Forderungen nach dem Erhalt des Parks vor. Der Streit sei bis auf einige Ausnahmen "korrekt verlaufen", berichtet des Internetportals znak.com.
Am Mittwochabend um 21: 30 begann die Aktion "Schalte das Licht ein" (Video der Aktion). Hunderte hielten ihr Handy mit eingeschaltetem Licht hoch. Durch den Park schallten die Rufe "Nieder mit der Mauer", "Der Platz wird sein", "Das ist unsere Stadt", "Wir brauchen keine Kirche", "Ein anderer Platz für die Kirche", "Wir gehen hier nicht weg", "Keine Provokationen".
Nach Angaben des örtlichen Internetportals znak.com nahmen am Mittwoch zwischen 3000 und 5000 Personen an der Protestaktion (Fotos) gegen den Kirchenbau teil. Es seien mehr Teilnehmer gewesen als an den Vortagen, schreibt das Portal.
Zu späterer Stunde begannen am Zaun Auseinandersetzungen mit der Spezialeinheit OMON. Anlass waren Flaschenwürfe auf den Zaun. Das Internetportal znak.com berichtete, unter den Protestierenden hätten sich "Provokateure" befunden. Bis nachts um 1:30 hätten OMON-Polizisten den Platz vollständig von Aktivisten "gesäubert". Am Donnerstag wurde der Zaun um das Baugelände weiter verstärkt (Fotos).
Schon lange ringen die hohen Beamten und die Bevölkerung um den Kirchenneubau
Die Kirche der Heiligen Jekaterina wurde 1723 gebaut. Nach der Oktoberrevolution wurde sie geschlossen und einer Atheisten-Vereinigung zur Nutzung übergeben. Im Jahre 1930 wurde die Kirche gesprengt. Auf dem freigewordenen Platz wurde ein Springbrunnen gebaut und ein Park angelegt. Das Gelände bekam den Namen "Platz der Arbeit."
1990 entstand die Idee für den Wiederaufbau der Kirche. Doch man beließ es mit dem Bau einer Kapelle und der Aufstellung eines Kreuzes. 2010 entschied der Gouverneur von Jekaterinburg, die Kirche zum 300. Stadtgeburtstag im Jahr 2023 an ihrem ursprünglichen Platz so wiederaufzubauen, wie sie unter den russischen Zaren aussah. Doch der Plan wurde nicht umgesetzt, weil es Proteste in der Bevölkerung gab. Die Menschen wollten ihren Park behalten.
Einen erneuten Versuch, die Kirche zu bauen, gab es im Jahr 2016. Für die Finanzierung des neuen Kirchenprojekts standen schon damals die beiden Großunternehmen "Russische Kupfergesellschaft" und "Ural Bergbau und Metallurgische Gesellschaft" bereit. Die Kirche sollte nach einem neuen Plan auf einer künstlichen Insel in einem See im Stadtzentrum errichtet werden. Doch auch dieses Projekt stieß auf Widerstand in der Bevölkerung.
Immer wieder Proteste gegen hochgeschossige Neubauten in dichten Wohngebieten
Proteste wie in Jekaterinburg gibt es in Russland seit Mitte der 2000er Jahre (Opposition gegen das System Putin, Ulrich Heyden/Ute Weinmann, Rotpunktverlag Zürich, 2009, S. 161-196). Immer wieder gehen Anwohner auf die Straße, weil Baufirmen hochgeschossige Wohn- oder Bürohäuser mitten in dichtbebaute Wohngebiete setzen. Oft müssen Parks und Spielplätze für Kinder weichen. Im letzten Jahr kam es zu Protesten gegen einen Kirchenbau im Moskauer Park Torfjanka.
2017 gab es in St. Petersburg heftige Proteste und eine große Kundgebung, nachdem bekannt worden war, dass die Stadt die berühmte Isaak-Kathedrale, die von der Stadt als Museum verwaltet wird, an die russisch-orthodoxe Kirche übergeben sollte. Die Auseinandersetzung endete mit einem "Kompromiss". Die Kirche bleibt in städtischer Hand, kann aber von der Kirche kostenlos genutzt werden.
"Aufstand gegen Geiz und Dummheit"
Scharfe Kritik an dem Kirchenneubau in Jekaterinburg gab es auch von dem Moskauer Politologen Boris Kagarlitsky. Die russisch-orthodoxe Kirche verhalte sich in dem Konflikt um den Park wie eine "übliche Mafia-Bande aus dem Immobilienbereich", erklärte, der Politologe, der Direktor des Instituts zu Globalisierung und sozialen Bewegungen ist. Am Montag hätten die Firmen, die den Bau finanzieren wollen, Schläger gegen die Protestierenden eingesetzt.
Bei dem Bau der neuen Kirche gehe es "nicht um Gott, sondern um Immobilien und Geld". Die Kirche brauche "große Bauprojekte, in denen viel Geld eingesetzt wird". Während in Jekaterinburg mit viel Geld eine neue große Kirche gebaut werden soll, würden "in ganz Russland alte russisch-orthodoxe Kirchen" und andere historisch wertvolle Architektur "zerfallen", erklärte der Politologe.
Den Protest in Jekaterinburg bezeichnete Kagarlitsky als "Aufstand gegen Geiz, Dummheit, Frechheit und Aggressivität der herrschenden Kreise."
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