Seite 2: Das Imperium

Politisch begreife sich Russland, so die Le-Monde-Autoren, zwar fast immer als "Imperium", befragt sich aber zugleich nach seiner Ausrichtung und seinem Verhältnis gegenüber Europa und dem Westen.

Das "Dritte Rom" des Mittelalters wurde in der frühen Neuzeit vor allem am 18. Jahrhundert europäisiert; im 19. Jahrhundert kam es dann zu einer Rückbesinnung auf den slawischen Kulturraum und die Entwicklung des slawischen Nationalismus, den "Panslawismus".

Im 20. Jahrhundert war man der Führer des Ostblocks und die potenzielle Avantgarde der Weltrevolution. In der Gegenwart wäre man gern das, was de facto tatsächlich China ist, nämlich der Vorposten des Antiwestlertums und des Eurasianismus.

Die Zurückweisung des Universalismus nach westlichem Vorbild heißt für die philosophischen Vordenker Putins "Multipolarität".

Das entscheidende Terrain für Russlands Zukunft

In den kommenden Jahrzehnten erscheint die Kaukasus-Region für die Le-Monde-Autoren als das entscheidende Terrain für Russlands Zukunft.

Mittelfristig liegt es in Südostasien. Die neuen Seidenstraßen Chinas führen nicht nur durch ex-sowjetische Gebiete wie Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan, sondern auch durch Russland selbst sowie in der Arktis um das nördliche Ufer von Russland herum.

Dazu hat Russland Allianzen und politisch-militärische Kooperationen mit Armenien, dem Iran, Indien, Pakistan sowie den Ex-Sowjet-Republiken geschlossen.

Der Westen schaut hier einstweilen tatenlos zu. Es gilt, was Egon Bahr vor 25 Jahren konstatierte:

"Im Westen ist nur wenig Verständnis für ein Russland zu finden, das argumentiert, mit der Konsolidierung der Lage südlich seiner Grenzen tue es auch etwas für Europa, indem es den Islam möglichst begrenzt."

Was früher "Schutz gegen die Barbaren" genannt wurde, stelle sich nun auch als Kampf gegen Drogen und Waffenhandel dar, werde im Westen aber sträflich unterschätzt. Dabei liege es im vitalen Interesse gerade Europas.

Das Great Game hat wieder begonnen.