Russland: "Kulturelles Niveau, das unserem überlegen ist"
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Mediensplitter (29): Provokantes aus Paris, wo die Welt einmal mit russischen Augen betrachtet wird. Klischees, Geopolitik und Fehleinschätzungen. Worauf man in Zukunft schauen sollte.
Russland wird nicht immer so schwach bleiben wird, wie es ist.
Egon Bahr, 1998
Der russische Blick auf die Welt ist offenkundig absolut modern, hypermodern geradezu. Dies suggeriert die visuelle Ästhetik des Sonderhefts der französischen Tageszeitung Le Monde.
Es erscheint unter dem Titel "Le monde vu de Russie", auf Deutsch: "Wie die Welt von Russland aus gesehen wird". Im Spiel mit dem Namen der Zeitung "Le Monde" (Die Welt) klingt auch der Blick der Welt auf Russland an.
Das streng gegenstandslose, geometrische Design des russischen Konstruktivismus und die Formensprache von Malewitsch, Rodtschenko, El Lissitzky und Kandinsky bestimmen die Aufmachung des faktenstarken Hefts.
Neben Ausflügen in die Geschichte, wie etwa der Präsentation der Tradition anti-russischer Vorurteile, die schon in den Zeitungskarikaturen des 19. Jahrhunderts verbreitet werden – in denen Russland immer wieder als gefräßiger Bär ausgemalt wird, der Europa vor allem als Futterplatz ansieht, – schreiben darin russische Autoren über Geschichte und Identität, über Landesstatistik, über die Gesellschaft und vor allem über die Geopolitik Russlands.
Demografie-Krise auf dem "Quasi-Kontinent"
Letzteres ist für deutsche Leser am interessantesten: Vollkommen für sich sprechen hier die Karten. Russland wird auf ihnen als ein "Quasi-Kontinent" (Le Monde) erkennbar, bestehend aus elf Zeitzonen, 85 Verwaltungseinheiten, darunter 46 Oblasten, 22 Republiken, neun Verwaltungsterritorien ("Krai") und fünf "autonomen Gebieten".
Zugleich wird ein Territorium ersichtlich, das zwar territorial gesehen das größte Land der Welt ist, aber zehnmal weniger Einwohner hat als die Volksrepublik China, und das sich seit dem Ende der Sowjetunion 1991 in einer "Demografie-Krise" befindet.
Der Blick auf die Karten macht auch klar, dass sich die Nato in der Zeit zwischen 1991, als der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, und 2008, als Georgien und die Ukraine ihre Absicht verkündeten, dem transatlantischen Bündnis beizutreten, erheblich nach Osten erweitert hat: Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die baltischen Staaten sind hinzugekommen.
Seit 1991 sind die USA zudem im Bruttoinlandsprodukt gerechnet erheblich reicher geworden. Sie haben Russland auch im Bevölkerungswachstum erheblich überflügelt. Vor allem aber geben sie heute im Vergleich mehr als ein Zehnfaches an Militärausgaben in Dollar aus: 767 Milliarden Dollar gegenüber 67 Milliarden Dollar, die Russland nach Angaben der Zeitschrift im Jahr 2021 für den Militärhaushalt ausgab.
Im Jahr 1988, also vor dem Ende des Eisernen Vorhangs, stehen 664 Milliarden Dollar im US-Militäretat umgerechnet 281 Milliarden US-Dollar in dem der Sowjetunion gegenüber. .
Die Energiefrage als geopolitisches Schlüsselfeld
Das geopolitische Monster der Gegenwart ist die Energiefrage. Im Kalten Krieg ist das europäische Gasgeschäft modernen Zuschnitts geboren worden. Aber bereits vor dem Zweiten Weltkrieg verdankte die UdSSR ihre massive Industrialisierung der Kohle, von denen es in Russland immense Reserven gibt, mehr als ein Viertel der Weltreserven.
Außerdem gibt es große Massen an Erdöl, die dort bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in größerem Umfang gefördert werden (1846 entstand in Baku die erste Erdölförderstation). Als Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg große Teile der Kohleabbaugebiete besetzte, war Stalin gezwungen, rasant die sowjetische Gasproduktion zu entwickeln – was dann zum Trumpf der sowjetischen Energieposition im Kalten Krieg wurde. Die sowjetischen Republiken wurden in der Folge größtenteils aus Russland mit Gas versorgt.
Die ersten Gasexportverträge schloss die Sowjetunion unmittelbar nach der Niederwerfung des "Prager Frühlings" mit Österreich, dann mit Italien 1969 und kurz darauf mit der Bundesrepublik Deutschland, Finnland und Frankreich.
Spätestens als Wladimir Putin im Jahr 2000 die Macht kam, wurde Energie zur geopolitischen Waffe die "quasi systematisch" eingesetzt wurde.
Handelspolitische Motive wurden eingesetzt und benutzt, um die Manipulation des Gaspreises zu legitimieren oder in vielen Fällen geopolitische Ziele zu erreichen.
Le Monde
Die verschiedenen Regierungen der Ukraine handelten im Übrigen kein bisschen anders. Seit 2005 kam es daher regelmäßig zu Gaskonflikten zwischen Moskau und Kiew. Aus diesem Grund trieb Moskau den Bau der Nord-Stream-Pipelines voran: Russland wollte verständlicherweise keine Abhängigkeit von der Ukraine.
Sanktionen ohne Effekt
Die westlichen Sanktionen nach Beginn des Ukraine-Krieges blieben bisher weitgehend ohne Effekt. Die Russen suchen sich einfach neue Kunden – was sowieso nötig geworden wäre, seitdem die Europäer aus umweltpolitischen Gründen ihre Abhängigkeit von fossilen Energien zu reduzieren trachten.
Allerdings muss man auch hier den Tatsachen ins Auge blicken: Die Europäische Union hat auch im vergangenen Jahr alleine in den ersten vier Monaten nach Kriegsbeginn für 57 Milliarden Euro Erdöl, Gas und Kohle in Russland eingekauft.
Inzwischen hat Russland zudem diverse andere Märkte erschlossen: China, Indien, Sri Lanka, Südafrika und Brasilien haben 2022 neue Lieferverträge unterzeichnet. Le Monde zitiert hierzu mehrfach die – sehr Ukraine-nahe – Politikwissenschaftlerin Margarita Balmaceda:
Die Sanktionen der Amerikaner und Europäer ändern nicht sehr viel.
Russland als Neokolonialmacht in Afrika
Besonders interessant ist die Situation in Afrika: In nicht weniger als 10 afrikanischen Staaten sind russische Söldnertruppen präsent, darunter auch in Algerien und Libyen, also direkt im "europäischen Hinterhof".
Zehn Länder Afrikas, darunter der Kongo, der Sudan, Ägypten und Tansania, importieren über 30 Prozent ihres Getreides aus Russland. Etwa 20 afrikanische Staaten importieren Erdöl oder Gas, Mineralien oder nukleares Material. Besonders abhängig sind die großen, bevölkerungsreichen Staaten Nigeria, der Kongo und der Sudan.
In diesem Zusammenhang ist es nicht mehr überraschend, dass Marokko als einziges Land der arabischen Welt nicht an der UNO-Abstimmung vom 2. März 2022 zum Ukrainekrieg teilnahm. Das Königreich ist ein großer Importeur von Waren aus Russland, vor allem von Weizen. In einigen der letzten Jahre war Russland der drittgrößte Erdöllieferant Marokkos.
Der Eindruck in der Zusammenschau ist klar: Russland schafft Abhängigkeiten und versucht diese strategisch zu bündeln. In Afrika ist Russland heute eine Neokolonialmacht.
"Ein kulturelles Niveau, das der unseren überlegen ist"
Überraschendes ergibt das Bild der russischen Kultur: Thierry Wolf, Musiker und Musikproduzent aus Paris, erklärt im Interview, dass "die Kultur in Russland in allen Familien einen bedeutenden Platz hat." Er kenne nicht einen einzigen Russen, der kein Musikinstrument spiele.
Und die meisten, die ich kenne, wissen mehr über die französische Literatur als wir. Sie gehen ins Theater und sie beschäftigen sich mit Poesie.
Auf die Frage, ob sich das vor allem auf Moskau oder St. Petersburg beziehe, antwortet Wolf:
Absolut nicht! Bei den Russen gibt es ein kulturelles Niveau, dass der unseren überlegen ist, und zwar in allen oder fast allen geografischen Zonen.
Man fände dieses Interesse für die Kunst in allen Territorien und in allen Schichten.
Es scheint mir, dass wir hier einige Lektionen zu lernen haben: In Russland ist die Kunst viel zugänglicher als bei uns.
Man könne dieses Phänomen am ehesten mit dem Erbe der Sowjetunion erklären, die Kultur für alle ermöglicht habe. Das habe "seine Früchte getragen" und betreffe auch die jüngeren Generationen: In der Schule gingen die jungen Russen ins Museum, während in den französischen Schulen erstaunlicherweise immer weniger Kinder der Kunst zugeführt werden.
Was heißt "russisch"?
Je nach Zählweise gibt es in Russland 12 bis 54 Sprachen und Sprachgruppen und noch mehr regionale Eigenheiten. In den eigenen Identitätsdebatten sieht sich Russland dennoch als Einheit. Was ist also eigentlich russisch, fragt Le Monde.
Die Alltagsidentität besteht, wie es das Sonderheft darstellt, aus popkulturellem Patchwork. Genannt werden: Sauna und russisches Bad, Kommunalka, Babuschka, der "Tag des Sieges", Sputnik und die Datscha, der Nationaldichter Puschkin und die "nationale Institution" der Sängerin Alla Pugacheva.
Sie lebt allerdings seit 2022 als Gegnerin des ukrainischen Krieges im Exil und hat die russische Regierung ironisch gebeten, sie als "ausländischen Agenten" zu bezeichnen.