SIGINT-Landschaft Deutschland

Seite 2: Vorwort

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Woody Allens bekanntes Diktum: "Nur weil ich unter Verfolgungswahn leide, heißt das ja noch lange nicht, dass keiner hinter mir her ist", konnte man umdrehen. Hinter uns waren sie her, ob wir nun Verfolgungswahn entwickelten oder nicht.

Wolfgang Templin, (ost-)deutscher Publizist und Gründungsmitglied der Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM)

Geheimdienste agieren im Geheimen. Aber sie können nicht nur ihre Aktivitäten gegenüber der Öffentlichkeit verbergen, sie sind auch in der Lage durch gezielte Desinformation das Bild, das sich die Bevölkerung von ihnen macht, ein Stück weit zu manipulieren. So ist seit Jahrzehnten prinzipiell bekannt, dass die Nachrichtendienste die Telefonate, Funkverkehre und Computerinteraktionen überwachen, aber das "wahre Ausmaß" der Bespitzelung lässt sich bis heute nicht zuverlässig einschätzen.

Seit 2013 wurde durch die Enthüllungen des "Whistleblower" Edward Joseph Snowden, der früher für die amerikanische National Security Agency (NSA) arbeitete, der Schleier etwas gelüftet. So belauschte der Bundesnachrichtendienst (BND) die Telekommunikationsströme in Deutschland in einem Umfang, der die Erwartungen bzw. Befürchtungen um ein Vielfaches übertraf. Allein in Bad Aibling soll der BND bei der Satellitenüberwachung rund 500 Millionen Daten pro Monat abschöpfen. Allerdings bedeutet ein Mehr an Informationen nicht ein Mehr an Informiertheit, und ein hoher Aufwand im Bereich der Intelligence führt nicht zu einer intelligenten Politik.

Die Geheimdienste sprechen bei der Überwachung der Telekommunikation von der Signal Intelligence (SIGINT). Sie umfasst ein breites Spektrum höchst unterschiedlicher Verkehre: Von der privaten Telefonie über militärischen Funk bis hin zur Computerspionage und -Sabotage. Die Militärs bezeichnen das Abhören des Gegners als Fernmeldeaufklärung, diese ist ein Teil der Elektronischen Kampfführung (EloKa).

In den Zeiten des Kalten Krieges wies die Militarisierung Deutschlands Rekordwerte auf, entlang der innerdeutschen Grenze gab es die größte Dichte an Abhörstationen weltweit. Mit ihren weißen Radomen aus gehärtetem Polyesterharz, die Schutz vor Witterungseinflüssen boten und als Sichtschutz gegenüber optischer Ausspähung dienten, waren sie weithin sichtbar. Was sich darunter verbarg blieb ein Geheimnis. Der Volksmund bezeichnete die Radome als "Golfbälle", die Amerikaner sprachen von "bubbles". Zu Lande, zu Wasser und in der Luft wurde rund-um-die-Uhr gelauscht, was beim vermeintlichen Feind vor sich ging.

Nicht alle SIGINT-Objekte in Deutschland konnten lokalisiert werden. Die hiermit vorgelegte Liste ist dennoch ein stattlicher Geheimdienstatlas mit 326 Standorten in der BRD und 275 Standorten in der Ex-DDR. Somit gab bzw. gibt es in mindestens in jeder zwanzigsten Gemeinde in Deutschland ein geheimdienstliches oder militärisches SIGINT-Spionageobjekt. Es handelt(e) sich um Führungs-, Abhör- oder Peilstationen, Ausbildungsstätten, Materiallager oder Produktionsbetriebe. An einigen Standorten (Bad Aibling, Berlin, Gablingen, etc.) waren gleich mehrere SIGINT-Einrichtungen vorhanden. Dabei sind hier nur die grenzüberschreitenden Abhöranlagen im Rahmen der Auslands- und Militärspionage erfasst, über die Einrichtungen zur Inlandsaufklärung liegen kaum zuverlässige Angaben vor. Sie werden in dieser Übersicht nicht weiter beachtet!

Die Reaktion der Bevölkerung auf die Snowden-Enthüllungen schwankt zwischen Desinteresse und Besorgnis. Laut einer "YouGov"-Umfrage vom Juli 2013 hielten 54 Prozent der Befragten es für wahrscheinlich, dass sie von der NSA abgehört wurden. Immerhin 61 Prozent befürworteten den Geheimnisverrat von Snowden. Nachdem die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt hatte, dass die NSA-Spionage inakzeptabel sei, aber keine weiteren Konsequenzen androhte, votierten 42 Prozent für einen stärkeren Protest. Andererseits fühlen sich die meisten Bundesbürger nicht direkt bedroht, da sie sowieso nichts zu verbergen hätten. Aber wenn der Verfassungsschutz die deutsche Bevölkerung ausforscht, dann interessiert sich der Geheimdienst nicht für irgendwelche Staatsgeheimnisse, sondern eben für die kleinen Geheimnisse aus der Privatsphäre des einzelnen Bürgers. Liebe, Neid und Missgunst im sozialen Umfeld des Einzelnen sind die bevorzugten Aufklärungsziele, weil ein Geheimdienst hier ansetzen kann, um Leute zu manipulieren oder zu rekrutieren.

Seit dem 20. März 2014 versucht ein Bundestagsuntersuchungsausschuss die Abhöraktivitäten des Bundesnachrichtendienstes aufzudecken. Es ist von einer anlasslosen, massenweisen Datenerhebung auszugehen, die durch die bestehenden Gesetze (G-10-Gesetz, Telekommunikationsüberwachungsgesetz, usw.) nicht abgedeckt ist. Außerdem wird vermutet, dass der BND in großem Umfang Daten an die NSA weitergegeben hat, aber diesbezüglich ist die verfügbare Beweislage noch nicht überzeugend.

Dessen ungeachtet besteht Konsens darüber, dass Cyber-Kriminalität, Cyber-Dschihad, Crypto-War und der Schutz der Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) in Zukunft immer wichtiger werden. Außerdem stellt sich die Frage, wie sich die Fernmeldeaufklärung der NATO-Staaten angesichts der aggressiven Osteuropapolitik Russlands zukünftig entwickeln wird. Es bleibt abzuwarten, ob der BND seine Kapazitäten zur Russlandaufklärung, die nach 1990 reduziert wurden, nun wieder hochfährt.

Berlin, Februar 2015