Santa Claus in Bombenstimmung

Weihnachts-Attachments produzieren sinnlosen Traffic im Netz

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Pinkelnde und im Schnee erstickende Weihnachtsmänner, fliegende Christkinder, Eis und Schnee, Weihnachts-Singsang - und das alles als Cartoon-Still, Animation oder gleich Multimedia-File. ‚Ach, wie süß!' ‚Wie nett, dass der/die an mich denkt!' Oder?

Ich gestehe: Sie haben alle von mir ein böses, vielleicht auch zu böses Reply bekommen. Jene Freunde und Kollegen aus der Netz-Community, die glauben, es gehöre zum guten Ton oder gar zur Netiquette, anlässlich der bevorstehenden Festtage Attachments rund um die Welt zu schicken. Man glaubt gar nicht, wer aller auf diese eigentlich zutiefst spießbürgerliche Idee kommt: Ex-Studienkollegen, Fachgruppenvorsteher wissenschaftlicher Verbände, Fitnessvereine, Weiterbildungsinstitutionen.

Was mich schon im realen Leben bisweilen nervte, nimmt im Netz bedrohliche Formen an: Wenn jemand eine 4,9-MB-Animation an eine private Modem-Mailbox schickt, die mit 5 MB limitiert ist, so ist das zumindest ein lokaler Supergau. Wer seine Mails dann auch noch einen Tag lang nicht vom Server runterlädt, der verbreitet das Leiden im Netz rhizomatisch, wie es so schön heißt: Zunächst einmal muss der betroffene User selbst daran glauben, da er nach einem erfolglosen Download-Versuch mühsam ins Webmail einsteigen und die viel zu große Nachricht dort löschen muss. Kommt dann noch - chaostheoretisch betrachtet ist dies möglich, bei mir war es gestern der Fall - ein Computer-Absturz dazu, dann zählt der Wille längst nicht mehr für das Werk: Der Weihnachtsgrüßende hat einen enormen Schaden angerichtet. Aber auch jene, die dem unfreiwillig Bombardierten mittlerweile mailen wollten, leiden: Sie bekommen ihr Mail zurück, weil die Mailbox-Kapazität des Empfängers längst überschritten wurde.

Man hört in der Theorie zuweilen, die Virtualisierung der Realität sei abgelöst worden von der Realisierung der Virtualität: Fürwahr, Weihnachts-Attachments sind ein weiterer schlagender Beweis dafür, dass offensichtlich immer mehr Menschen glauben, das, was man aus den realen Kommunikationswegen kennt, müsse nun auch noch mit allen Mitteln ins Netz transkribiert werden. Die peinlichen Internet-Grußkarten sind da offensichtlich noch nicht genug. - Vor einigen Jahren irritierte mich ein nahezu vergessener Freund mit einem Anruf zu Silvester, bei dem er mir "einen guten Rutsch" wünschte. Der Mann hatte am letzten Tag des Jahres offensichtlich nichts besseres zu tun, als sein Telefonregister zu durchforsten. Heute wäre er sicher ein potenzieller Kandidat für ein gutgemeintes Weihnachts-Mail, möglichst fett, an möglichst viele. Um von solchen Umtrieben nunmehr verschont zu bleiben, habe ich eine neue E-mail-Regel eingeführt: Nachrichten über 1 MB werden vom Server gelöscht. Sollte man das um die Weihnachtszeit fortan turnusmäßig tun?

Diese unerwünschten Attachments bewirken vor allem eines: Sie steigern einmal mehr die Selbstreferenzialität und Redundanz des Netzes. Vergangenen Sonntag schickte ein Teilnehmer der Luhmann-Mailingliste eine - im Vergleich zu den hier zu verhandelnden Attachments - eher harmlose Zip-Datei (Umfang 15 KB) in die Runde von ca. 600 Subskribenten. Einer beschwerte sich darüber und forderte, dass keine Attachments an Listen geschickt werden sollen - die Folge war eine nervige Meta-Diskussion, ob dies nun sinnvoll sei oder nicht.

Auch dieser Artikel ist übrigens voll in die Falle der Cyber-Selbstreferenz getappt: Einmal mehr belästigt er die ohnehin schon im Vorweihnachtsstress über Gebühr strapazierte Netz-Community mit diesem Thema. Deshalb mein Vorschlag: Sammeln wir doch die widerlichsten Weihnachts-Attachments im Telepolis-Forum, auf dass dieses abstürzen möge, wie meine kleine Mailbox es seit gestern zweimal getan hat.